Mein Gesicht
Ich meide Spiegel. Den Blick in den Spiegel. Mir ist das zu schmerzlich. Dieses Bild dort im silbern hinterlegten Glas. Normalerweise versuche ich immer schon von außen festzustellen, ob in einem Café Spiegel hängen, an der Wand, hinter dem Tresen. Spätestens beim Hineinkommen entdecke ich sie, wenn ich prüfend kurz verharre, bevor ich ganz in den Raum trete. Doch jetzt, heute ist mir einer entgangen. Er hängt an einem schmalen Wandstück, hellblau gemalt, in schwerem, hölzernem Rahmen. Groß. Belauert mich. Wühlt in mir. Sein Blick. Dieser Blick, der mich so unangenehm bedrängt, dem ich nichts mehr entgegenzusetzen habe. All diesen Blicken. Etwas stimmt nicht mit mir, mit meinem Aussehen. Nicht die Kleidung. An meiner Kleidung liegt es nicht. Das habe ich in den letzten Wochen erprobt. Mehrfach, oft, für eine Weile mit dringender Besessenheit habe ich Kleidungsstücke gewechselt, den ganzen Stil meiner Erscheinung geändert, mir ganz ungewohnte Zusammenstellungen ausprobiert, die ich Modemagazinen entnommen habe. Eine kostspielige Anstrengung. Aber nichts. Keine Veränderung. Weiter treffen mich die Blicke. Unerbittlich. Habe ich sie zuvor nicht wahrgenommen?
Etwas habe ich verloren. Etwas sehen die Menschen in mir, das Unbehagen in ihnen erweckt. Ablehnung, Widerwillen, Ekel bis hin zu Abscheu, eine stille Wut entzündet sich, manchmal beschirmt durch ihre Lider, Verachtung auch, Hass. Sogar Hass. Überall diese Gesichter. Verstohlen die meisten, kurze Blicke, fast hastig wenden sie sich ab. Manchen steht ein erstauntes Erschrecken in der Miene. Prüfend andere, lange nach Wahrheit forschend, bereit, Gutes zu entdecken, plötzlich enttäuscht, wütend, anklagend, Mühe an mich verschwendet zu haben. Unverhohlen starren mich Einzelne an, voller blödsinniger Neugier, sich ihrer Begleitung lachend zuwendend, einige zeigen mit dem Finger auf mich, hämisch verschiedentlich, voller Lust an dem, was sie als meinen Makel, unauslöschlich, unverzeihlich betrachten. Eisige Härte versteinert immer wieder Gesichtszüge, eine angestrengte Angewidertheit, nur am fast unmerklichen Zucken der Mundwinkel erkennbar, der Begegnung mit mir ausgesetzt zu werden. Am erträglichsten sind die Kinderblicke. Ernst und neugierig erlauben sie mir, mich wie ein seltenes Zootier zu fühlen. Die Kellnerin hier hat mir ausdruckslos ins Gesicht geschaut, flüchtig, mit halb niedergeschlagenen Augen, ein Ausdruck, der ein vages Echo wachgerufen hat. Ihre Haare fallen ihr weit in die Stirn. Keiner dieser Blicke. Sind sie real? Nehme nur ich sie so wahr? Kann ich mir sicher sein, dass mich alle so ansehen, wo selbst jener Spiegel im Wandblau mich beklommen werden lässt?
Etwas schaut mich aus den Gesichtern an. Richtet Gesetze auf. Schafft Recht. In dem Moment, in dem mich die Blicke treffen, verurteilt es mich. Ich gehe nur noch mit gesenktem Kopf dahin. Was hat mich hierher gestellt, in fortgesetzte Begutachtung? Ein Wall ist niedergebröckelt. Allmählich, schleichend? Habe ich es nicht gemerkt, hätte ich es verhindern können? Oder ist er niedergebrochen, plötzlich? Zwischen mir und ihnen. Diese stille Fassade, unauffällig getüncht, schmucklos, die sich einreihte in die Häuserfronten entlang einer der vielen Straßen. Mich verbarg in der Menge der anderen Gesichter. Weg jetzt. Alles liegt offen da. Jeder kann beanspruchen, alles über mich zu wissen. Puppenhauswände, das Innere dem prüfenden Blick dargeboten. Wer schauen will, schaue. Meine Seele. Liegt offen. Scheint jenen Blicken offen zu liegen. In meinem Gesicht, auf meiner Haut. Mit einem Mal möchte ich mich verbergen. Bin ein Flüchtling geworden. Fremd. Gehe gemessen. In mir der Impuls zu rennen, wegzulaufen, ein ständiger Begleiter. Ich schlage den Blick nieder. Unwillkürlich. Bald hatte ich gelernt, Blicken subtil auszuweichen. Immer mehr hat sich in mir die Überzeugung festgesetzt, die Ursache sei in mir zu finden, strahle nach außen, müsse aufgehalten werden. Ich trage einen Hut, eine Sonnenbrille mit großen Gläsern. Ziehe ihn tief in die Stirn. Dann wieder fühle ich mich getrieben, von meinem Recht getrieben – welchem? -, hinauszugehen, mich dem Gericht zu stellen, entgegenzustellen, unverhüllt, mit hoch erhobenem Kopf. Vergebung erhoffend. Gerechtigkeit fordernd. Ein blöder Trotz vielleicht. Denn gleichzeitig will ich nichts mehr als mich verkriechen. In meiner Wohnung. Fest abschließen. In dieser Wohnung ohne Fassade. Mit dem Spiegel, dem einen Spiegel, den ich nicht meiden kann. Ständig am Anfang und auch jetzt in manchen Momenten, viel seltener und unter stetig zunehmendem Unwohlsein, das sich zu einer quälenden seelischen Pein steigern kann, habe ich mich selbst dort im Silberglas examiniert. Dem einzigen Spiegel in meinen Räumen. Teil des pompösen Aufbaus einer alten Kommode, die ich, ganz dem momentanen Geschmack an alten Möbeln entsprechend, im Internet erworben habe. Mit sorgfältiger Akribie fahre ich jede Linie, Kerbe, Erhebung meines Gesichts nach. Lippen, Augenfalten, Nasenflügel, die feinen Hügel der Wangen. Wieder und wieder, weiche meinem eigenen Blick aus, während sich ein erstickendes Ekelgefühl an mich heranschleicht, von mir Besitz ergreift, mich in der Magengrube packt, schüttelt, würgt, sauer und schal. Obwohl ich nichts, wirklich nichts auffinden konnte, was mir auf irgendeine denkbare Weise nicht menschlich erschien. Eigenheiten der Gestalt, der Haut, Porung oder Färbung, Deformierungen. Keine Merkmale, die mich eindeutig von anderen abheben würden. Etwas später, wenn ich mich erholt habe, durch gleichmäßiges Atmen beruhigt, einen Tee trinke, jagen meine Gedanken wild dahin, drängt sich mir der Verdacht auf, ich könnte in einer Illusion von mir selbst befangen sein, mein Gehirn könnte mir eine Gestalt zeigen, die nicht der Wirklichkeit, der schrecklichen Wirklichkeit entspräche. Ein Wunschbild, das ich mir von mir selber mache. Leider habe ich keine vertrauten Menschen, die ich dahingehend befragen könnte. Freunde sicher, aber niemanden, den ich in die mögliche, allergrößte Verlegenheit bringen wollte, eventuell eingestehen zu müssen, dass auch sie oder er etwas an mir anstößig finde, bisher in Stillschweigen verhüllt. Etwas, das auch sie möglicherweise nicht voll in ihr Bewusstsein dringen lassen, um den Kontakt mit mir überhaupt möglich und erträglich zu machen.
Hier muss ich etwas gestehen. Vor ein paar Tagen, bei einer dieser schwierigen Selbstbeschauungen habe ich zu meinem zitternden Erschrecken eine rötlich-braune Läsion auf der linken Wange entdeckt. Sie ist klein. Unscheinbar. Und so muss sie meiner Aufmerksamkeit entschlüpft sein. Oder ist es ein Riss in meiner Illusion über mich selbst, der mich diese Stelle hat auffinden lassen? Nun treibt mich die ständige Besorgnis um, dass sie wächst, sich ausbreitet. Wie konnte ich sie übersehen? Wie lange ist sie schon da? Vielleicht ist dieses Mal die Ursache für die Aufmerksamkeit, die ich errege. Gleichzeitig bin ich sicher, dass es diesen Fleck anfangs nicht gab, er eher hervorgekommen, gewachsen ist mit der erzwungenen Entfremdung. Eine Markierung. Mir aufgedrückt. Natürlich habe ich überlegt, einen Arzt aufzusuchen. Doch hält mich zurück, dass mir so recht kein Weg einfällt, wie er Abhilfe schaffen könnte, wollte er mir nicht ein gänzlich neues Gesicht verpassen, da es mit der Entfernung der Stelle nicht getan sein würde. Dies aber etwas ist, das mir medizinisch nicht möglich erscheint und trotz all meiner Pein auch nicht wünschenswert.
Am meisten drängt es mich dazu, in Gesichter zu schauen. In so viele, wie nur möglich. Ich setze mich auf eine Bank in der Fußgängerzone, in Shopping-Malls, in Cafés, wie jetzt, mit Hut und Sonnenbrille, schaue die Gesichter an, die vorüberziehen, registriere jedes Mienenspiel, jeden Ausdruck, jedes kleine Muskelzucken. Sie gleiten vorbei. Stetig. Ein Strom. Frisch, ausgelaugt von der Zeit, jedes ein bisschen anders, alle ein wenig gleich. Vorderfronten. Schützen ihre Träger. Markieren ihre Ansprüche. Zeigen ein Bild, von dem ich nicht weiß, was es über die Räume dahinter erzählt. Alle haben es. Was ich verloren habe. So scheint es mir. Ein Gesicht. Das meine Seele trägt, verhüllt zum Ausdruck bringt. In den anderen suche ich meins. Hoffe, dass es mir jene Blicke, die es mir gleichgültig entrissen haben, genauso gleichgültig zurückgeben. Eines Tages. Wenn ich nur lange genug ausharre.
.
.
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at