11 | Verena Ullmann

FortuneTeller

Du glaubst nicht an Zufälle, du glaubst an das Schicksal. Er findet das lächerlich. Noch nicht einmal sein Horoskop darfst du ihm vorlesen. Natürlich bist du nicht so naiv, das alles wörtlich zu nehmen. Sonst hättest du, die Jungfrau, ihn, den Fisch gleich wieder abgewimmelt. Das wäre schade gewesen, denn inzwischen habt ihr es euch so schön eingerichtet in eurem Aquarium.
Klug wie du bist, liest du das Horoskop vielmehr wie einen Wetterbericht. Da die Wolken nun mal ihre Launen haben, geht es vor allem darum, draußen die Augen offen zu halten.

Heute schenkt dir der Chinese mit der Rechnung einen Glückskeks. Nicht rein zufällig, nein. Wie du an seinem Lächeln siehst und an dem kleinen Zwinkern des Schicksals in seinen Augen, ist dieser nur für dich bestimmt und verspricht dir – schwarz auf weiß – Reichtum.

Erst fragst du dich, ob du gleich beim Kiosk vorne einen Lottoschein ausfüllen sollst. Aber das wäre zu einfach und leichtsinnig unverschämt dieser rätselhaften Macht gegenüber. Als du aus dem Restaurant spazierst, verdunkelt sich plötzlich der Himmel und vertreibt die Freude aus deinem Gesicht. Was wenn du erbst? Wenn jemand stirbt? Oma? Dein Vater? Du wirfst den Streifen Papier mit deinen negativen Gedanken in den nächsten Mülleimer, bevor das Schicksal sie bemerkt.

An der Ecke vor der Bushaltestelle zieht schließlich etwas deinen Blick auf sich. Ein Pappkarton. Er ist schon aufgeweicht, der Krempel darin lieblos durchgewühlt und laut Zettel „zu verschenken“. Unter dem Plüschhund und dem Kabel eines wohl nicht mehr funktionstüchtigen Geräts schimmern Blümchen hervor. Sie tanzen im Kreis und spielen mit den Flocken, die gerade wieder anfangen vom Himmel zu fallen. Deine Augen hängen an den Goldrändern, aber du weißt, der Bus kommt gleich und außerdem beginnt der Schnee zu nerven. Du willst den Strauß pflücken und merkst dabei: darunter sind noch mehr davon, ein ganzer Stapel Kostbarkeiten! Darum ein Gummiband gewickelt, lächerlich instabil. Also gräbst du sie mitsamt den Wurzeln aus, um sie nicht zu trennen. Auf der Busfahrt scheppern sie ein leises „Danke“ und du erkennst, wie wunderschön sie sind.

Zuhause fragst du dich, wohin damit? Das Regal in der Küche ist voll mit Schlichtheit in Scheiben. Und dein Fisch wird dich sowieso fragen, was du da wieder für einen Kitsch angeschleppt hast. Also pflanzt du sie erst einmal auf den Esstisch, dort wo die Sonne Platz nimmt, wenn sie denn heute noch vorbeischaut, und fragst dich, was sie wohl wert sind. Auf der Unterseite des Tellerstapels steht in feiner Schrift „Versailles“ und innerlich triumphierst du schon, als wärst du rechtmäßige Erbin von Marie-Antoinettes Kuchenservice, so unwahrscheinlich dies auch sein mag.

Es hat aufgehört zu regnen und du trägst deinen neuen Schatz, bevor dein Fisch nach Hause kommt, zum Antiquar auf der anderen Straßenseite. Du hast dir extra fusselfreie Handschuhe angezogen und deine Hände darin zittern so vor Aufregung, dass du Angst hast, all die Blumenpracht auf den vier Metern Straße zu zerschmettern. Du setzt sie auf der Theke ab. Der
alte Mann mit der Brille macht nur leider all deine Vorsicht sofort zunichte: er grabscht sich das oberste Exemplar, lässt Licht darauf prallen und kratzt mit seinem Fingernagel sogar an der Oberfläche der Blütenblätter. Für die geheimnisvolle Inschrift hat er nur ein Stirnrunzeln übrig, dem ein abschätziges Lächeln folgt. Dann verschwindet er wortlos in den Nebenraum. Mit so einer Unverschämtheit hast du an deinem Glückstag nicht gerechnet. Deine Aufregung schlägt in Wut um und du bist kurz davor zu gehen, bevor du überhaupt seine Meinung gehört hast. Allein wie inkompetent er sie begutachtet hat! Wie soll er so ihren wahren Wert erkennen?

Da erblickst du, zwischen Theke und Tür, ein Glitzern. Die Sonne ist zurück und spielt auf der Klinge eines Dolches, der in einer offenen Schatulle ruht, als wolle sie dir ein Zeichen geben. Als der Mann zurückkommt, hast du den verzierten Griff schon fest in deiner rechten Hand hinter deinem Rücken. Wie erwartet erklärt er, dass er dir für den wertlosen Krempel kein Geld geben kann. Da musst du ihm natürlich widersprechen. Mit der Spitze des Dolches kratzt du an seiner Kehle und er legt dir, mit einer Behutsamkeit, die du ihm nicht zugetraut hast, den Kasseninhalt auf die Theke. Etwas über Zweihundert Euro sind es nur.

Unter Reichtum hast du dir etwas anderes vorgestellt, aber für Diskussionen bleibt keine Zeit und leider hast du keine Tasche bei dir, um weitere Kostbarkeiten einzupacken. Also greifst du das Geld mit deinen Handschuhen, lässt den Dolch fallen, die Teller stehen, rennst nach draußen und traust dich erst wieder in dein Aquarium zurück, als es erneut zu schneien beginnt. Dass zwischen dem dritten und dem vierten Teller, dem vierten und dem fünften, sowie dem fünften und dem sechsten weitere Geldscheine eingeklemmt waren, insgesamt weitaus mehr als zweihundert Euro, das wirst du erst von den Polizeibeamten erfahren, die – zusammen mit deinem zappeligen Fisch – schon am Esstisch auf dich warten.

Verena Ullmann

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07 | Sebastian Sauer

Killer.

6 Uhr. Busfahrt durch die Eifel. Das klingt so friedlich. Wir haben die Gewehre auf der Schulterstütze zwischen die Beine gestellt. Ein Kamerad sinkt fast mit der Stirn auf die Mündung, schreckt kurz auf, lehnt sich ans Fenster, pennt dort ein. Der Bus, eine surreale Blechbüchse, schwebt für mich irgendwo im Nirvana, zeitlos hoffentlich, Ankunft bis auf weiteres gecancelled. Hier auf dem staubigen Sitz könnte ich ewig vor mich hindämmern, während draußen Unmengen deutschen Mischwalds vorüberziehen.

Stattdessen Aufruhr im Hippocampus. Unwillkürlicher Gedankensprung. Sie sehen nun, was zuvor geschah: Vor mir erstreckt sich grell erleuchtet die rudimentäre Darstellung eines langen Kiesbetts. „5 Schuss, Feuer frei.“ Das prozedurale Gedächtnis übernimmt. Waffe ziehen, Kimme und Korn in eine Linie bringen, Augen aufs Korn scharfstellen, das Ziel verschwimmt zum formlosen Klecks auf der Netzhaut, Druckpunkt suchen, ausatmen, einatmen, abkrümmen (d. h. Peng!). In der freien Wirtschaft bezahlen Leute viel Geld für diese Ausbildung sagen sie. „Übung, Ende.“ Dann Auswertung: „Besonders gut war der Funker Sarras. Dreimal genau ins Schwarze.“ Warmes Bauchgefühl. Verlegenes Lächeln.

In der sehr realistisch dargestellten Eifel hat die Blechbüchse aufgesetzt, auf dem Boden der Tatsachen möchte man fast sagen, es dann aber doch lieber verdrängen. Stimmen werden laut. „Absitzen“ und „Dritter Zug, in Linie antreten.“ Als erstes Pistolenschießen. Bevor es losgeht ein bisschen Schikane: „Funker Marscheider, nennen Sie mir mal die technischen Daten der P8.“ „Äh…“ „Dritter Zug in den Liegestütz fallen! Eins, Zwo…“ Marscheider ist um seine Nachlässigkeit zu beneiden. Ich werde die technischen Daten der Pistole Modell P8 nie vergessen können: Kaliber 9mm, 15 Schuss, 750 Gramm ungeladen, 985 Gramm geladen, Mündungsgeschwindigkeit 360 Meter pro Sekunde, maximale Kampfentfernung 50 Meter. Das ist mein Mantra, während sich vor mir der sandige Boden hebt und senkt. Habe aufgehört zu zählen, für einen endlosen Moment schwebe ich als staubiger Bus durch die Eifel und sorge mich nur um die Popel unter den Sitzen. Es ist ein schönes Leben.

„Zwanzig!“ Alles wieder auf. Das Kiesbett rückt näher. Fünfzehn Meter davor stopfe ich mir auf das Kommando „Gehörschutz!“ die grünen Schaumstoffstöpsel tief in den Gehörgang. Alles wird dumpf. Irgendeiner reißt einen nervösen Witz. Ich kann das Lachen nur sehen, lache wahrscheinlich selbst mit, so genau hört man das nicht. Dann Übungsbeginn. Die ersten Schüsse sind nur ein Vibrieren in den Hoden. Grinsend kehrt der Schütze zurück, hält prahlend Finger in die Luft. Marscheider ausgerechnet, Dumm trifft gut. Ich sehe allgemeines Gelächter. Habe ich das laut gesagt?

Kameraden munitionieren auf, munitionieren ab, treten vor, reihen sich ein. Rücken um Rücken verschwindet, bis vor mir nur noch Kies in Sicht ist. Feuchter, matter, vor allem wirklicher Kies. Der Obergefreite übergibt mir fünf Schuss, schaut dann spöttisch dabei zu wie ich sie betont ruhig ins Magazin drücke.

-Are those… live rounds?

-Nine millimeter. Full metal jacket.

Der Hippocampus meldet sich zurück. Gedankensprung. Zwei Wochen zuvor: „Ich gelobe bla bla, treu zu dienen bla bla zu verteidigen. Zu verteidigen.“, höre ich mich sagen und sehe mich jetzt mit der Aufgabe betraut, zu verteidigen: die freiheitlich demokratische Grundordnung gegen einen Pappkameraden. Das sollte zu machen sein. Zu Hause im Bad ging es doch auch. Vorm Spiegel, mit der Ein-Kilo-Hantel, etwa so schwer wie die geladene P8, in den Händen. Alles ruhig, keine besonderen Vorkommnisse, Herr Feldwebel.  Und jetzt? Die Angst des Schützen beim Elfmeter: Man könnte einen treffen.  Neben mir spüre ich wie der Feldwebel etwas fragt. -Why did you join my beloved corps, Private?

-Sir, to kill, sir.

-So you’re a killer?

-Sir...

„Erst auf harte Kerle machen und jetzt geht Ihnen der Stift? Und solche Leute sollen wir nach Afghanistan schicken?“ Wenn ich mich um 90 Grad nach links drehe und „abkrümme“ ist der Feldwebel futsch. Das folgt schon rein physikalisch/biologisch. Ich habe keine Angst vor Afghanistan, die hat mir die Anne Will-Gesprächsrunde vom 20.05. genommen. Afghanistan ist auch so weit weg. Ich habe Angst vor 90 Grad nach links. Man könnte einen treffen.

Sebastian Sauer

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03 | Katja Johanna Eichler

Zerlaufen

Ich hatte sie seit zwanzig Jahren nicht gesehen. Sie sah müde aus. Dass sie eigentlich vorgehabt habe, in die Ritzen zwischen den alten Holzdielen zu zerlaufen. Die alten Holzdielen. Die Guten. Ließen alles über sich ergehen.

Das sagte sie irgendwann. Sie sei lose Masse gewesen. Schwarz, hässlich, träge. Sie habe schon eine ganze Weile auf den Dielen gelegen. Sie wollte gerade in deren Ritzen zerlaufen. Da habe das Handy geklingelt. Hätte das Handy nicht geklingelt, wäre sie jetzt der schwarze Dreck zwischen den Dielen. Ich verstand sie nicht. Aber ich mochte sie, so wie damals.

Sie schwieg.

Ich schwieg.

Dass ich sie sofort wieder erkannt hatte. Das sagte ich irgendwann. Und dachte, dass sie ausgesehen hatte, wie ein Bambi, das sich in unsere Zivilisation verlaufen hatte. Ausgerechnet in einen Drogeriemarkt. Ein Bambi aus dem Wald, das ungewollt zu trashiger Weihnachtsdeko geworden war. Große verlorene Augen zwischen Shampooflaschen, Slipeinlagen und blinkenden Lichterketten.

Ihre Augen waren es gewesen, die ich wieder erkannt hatte. Hätte sie mich nicht angeschaut, hätte ich mich wenig später nicht an sie erinnert. Hätte nicht bei ihren Eltern nach ihrer Nummer gefragt. Hätte sie nicht angerufen.

Hätte sie mich nicht angeschaut, wäre sie jetzt der schwarze Dreck zwischen den alten Holzdielen. Es ist gut, sich anzuschauen. Hatte ich das gesagt?

Sie schaute mich an.

Ich schaute sie an.

Vor zwanzig Jahren war uns das auch passiert. Das mit dem Anschauen. Immer wieder war uns das passiert. Zwischen den Tanten, Paten und Omas hindurch. Über die Klöße hinweg.

Ich hatte ständig schlucken müssen. Wegen der engen Krawatte des Konfirmationsanzuges und des reifenden Adamsapfels. Wegen der trockenen Klöße. Wegen ihres Blickes. Das war ein besonderer Tag gewesen damals. Hatte sie das gesagt?

Sie lächelte.

Ich lächelte.

Ich dachte, dass ich sie mochte. Dass ich alles von ihr wissen wollte. Mir fiel dabei ein, dass ich keine Zeit hatte. Dass es unfreundlich wäre, auf die Uhr zu schauen. Und dass Anna gestern Abend kaputt und gereizt gewesen war. Wegen der Kinder. Und ich spät von der Arbeit nach Hause gekommen war. Wegen des Projekts. Mir fiel ein, dass ich für das hier gerade keine Zeit hatte. Wegen der Kinder und wegen des Projekts. Und weil Dezember war. Mir fiel wieder auf, wie müde sie aussah. Nicht das Wenig-Schlaf-Müde. Das andere. Mir fiel auf, dass zwanzig Jahre nur ein Augenblick waren, wenn man jemand mochte.

Was machst du eigentlich so, fragte ich sie.

Nichts. Sehr leise sagte sie das. Nach einer Weile. Ich zerlaufe ins Zwischen. Nur das.

Ich verstand sie nicht. Ich verstand nicht, wie man zerlaufen konnte. Ich verstand nur etwas vom Verlaufen und vom Verrennen. Ich sagte nichts, weil ich sie nicht verstand. Weil sie schwarze zerlaufende Masse war und heute Dreck zwischen Holzdielen wäre, hätte ich sie nicht angerufen.

Das war ein besonderer Tag gewesen damals. Das hatte sie schon einmal gesagt. Es gibt viel zu wenige davon. Das hatte sie vorher noch nicht gesagt. Die Menschen schauen sich zu wenig an. Das sagte sie auch.

Ich nickte.

Sie nickte.

Irgendwann stand sie auf und ging. Es war spät. Nicht das Uhren-Schau-Spät. Das andere. Ich ruf' dich an. Das rief ich ihr hinter her. Sie nickte, ohne sich umzudrehen.

Katja Johanna Eichler

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freiTEXT | Katharina Rios

Funkelnde Scherben

Der Forstweg schlängelt sich den Berg hinauf, hinter einer Kurve verliert er sich zwischen den Tannen. Ich gehe mit festem Tritt, den Kopf gesenkt. Die Kieselsteine bohren sich durch die Schuhsohle, wenn ich den Fuß abrolle. Bei jedem Schritt knirscht es, das Geräusch der sich aneinander reibenden Steine dröhnt in meinen Ohren. Laut. Es ist zu laut.
Ich bleibe stehen, lausche in den Wald. Nur der Pulsschlag in meinen Ohren. Der flache Atem, der kleine Dunstwolken vor mir in die Luft malt. Der Himmel hängt tief, die Spitzen der hohen Tannen verstecken sich im Nebel. Ich sehne mich nach Vogelgezwitscher, nach einem Igel, der durch die Bäume raschelt, irgendwas. Es ist zu still.
Ich laufe weiter den steilen Forstweg hinauf, atme im Rhythmus der Schritte. Leichter Nieselregen setzt sich auf meine Haut. Ab und zu vermischt er sich mit Tränen. Ich wische sie weg, sehe nach vorn. Da ist niemand. Niemand außer mir.

Du solltest jetzt nicht allein sein, sagen sie. Du kannst das nur verarbeiten, wenn du darüber sprichst.
Worte. Ich suche nach ihnen. Benutze sie, um zu beschreiben, wie es mir geht. Doch während ich bei Freunden sitze, sie an meinen Lippen hängen und mich aufmunternd ansehen, fallen leere Hülsen aus meinem Mund.

Der Forstweg gabelt sich. Rechts schlängelt sich der Hauptweg durch die Bäume nach unten. Ich gehe nach links, auf einem schmalen Pfad weiter bergauf. Der Boden wird weicher, an manchen Stellen ist er von Wurzeln durchzogen. Meine Lungen brennen vor Anstrengung. Neben mir fällt der Hang steil ab, je höher ich komme, desto lichter wird der Wald. Ich gehe schneller, Schweiß rinnt den Rücken hinab. Ich fühle die Muskeln in meinen Beinen, die Schwere des Rucksacks auf den Schultern. Der Geruch nach feuchter Erde und Nadeln hängt in der Luft, ich atme tief ein, schließe für einen Moment die Augen.

Er hat dich nicht verdient, sagen sie. Er lässt an dir aus, womit er selbst nicht klarkommt.
Ich höre ihnen zu, kann sie nicht verstehen. Er und ich, wir sind etwas Großes. Etwas ganz Großes, das zu Boden fällt. Ich will es auffangen, aber es gleitet mir aus den Händen, zerschellt. Die Scherben liegen vor mir. Langsam gehe ich in die Hocke, beuge mich über sie. Mein zerbrochenes Gesicht erscheint in den dunkelroten Glasstücken.
Ich könnte versuchen, sie zusammenzukleben.

Als ich wieder aufblicke, steht ein Fuchs am Wegrand. Ich bleibe stehen, halte die Luft an. Ein paar Meter entfernt, zwischen den Bäumen, beobachtet er mich. Mein Herz schlägt ruhig, ich stehe da, spüre den Boden unter den Füßen, die feuchte Luft auf meiner Haut. Der Fuchs macht zwei Schritte auf mich zu, streckt die Schnauze in die Luft, sieht mich noch einmal an und verschwindet im Dickicht.
Langsam gehe ich weiter. Nach einer Kurve komme ich an ein Viehgatter, an dem ein schmaler Pfad vorbeiführt.
Dahinter erstreckt sich eine Hochebene. Das Gras sieht weich aus, wie ein riesiger Teppich. An manchen Stellen ragen Felsbrocken aus der Erde, vereinzelt stehen Tannen auf der Wiese. Es ist heller hier oben. Ich kann die Sonne nicht sehen, und doch streicht sie sanft über mein Gesicht.

Es tut mir leid, hat er gesagt. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich fühle nichts mehr.
Ich hebe die Scherben vorsichtig auf. Sie haben scharfe Kanten.
Auch nicht für mich?, habe ich gefragt, konnte ihn dabei nicht ansehen.
Nein, hat er gesagt.
Die Scherben schneiden mir in die Hand.

Ich stapfe durch den Matsch auf die Berghütte zu, vorbei an den Kühen, die mit halb geschlossenen Augen Gras kauen. An der Tür zur Stube lehnt die Bäuerin, die mir mit zusammengekniffenem Mund zunickt. Ich bestelle mir Kaffee setze mich auf eine der Holzbänke, die von der Witterung fast schwarz geworden sind.
Die Berge erheben sich in dunklem Grün, hinter ihnen ragen die steinigen Gipel der Alpen in den Himmel. Das Glockenläuten der Kühe durchbricht die Stille, hinter mir höre ich Hühner gackern. Ich wühle im Rucksack, fische die Schachtel Zigaretten heraus und zünde mir eine an. Als ich von der Glut aufblicke, sehe ich die Landschaft nur noch verschwommen.
Die Bäuerin zuckt zusammen, als sie aus der Tür tritt und mich sieht. Sie stellt den Kaffee vor mir ab, betrachtet mich einen Augenblick. „Hier“, sagt sie und hält mir ein weißes Taschentuch aus Stoff hin. Der Rand ist blau bestickt – kleine Schnörkel, die mich ans Meer erinnern. „Behalten Sie es.“ Sie verschwindet wieder in der Hütte.

Er und ich, das war etwas Großes. Jetzt bin ich klein. Fast unsichtbar.

Ich lasse die Tränen laufen. Sitze auf der Bank, schluchze, ziehe mit zitternden Lippen an der Zigarette, stoße den Rauch aus und sehe dabei zu, wie er sich vor mich auflöst.
Immer wieder tupfe ich mit dem Taschentuch mein Gesicht ab. Der Stoff kratzt und riecht nach Holz.
Hinter mir höre ich die schweren Schritte der Bäuerin. Sie läuft durch die Stube, ich stelle mir vor, wie sie über die gestärkten Tischdecken streicht und aus dem Fenster sieht. Ich falte das Taschentuch zusammen und stecke es in meine Jackentasche.
Langsam atme ich den Schmerz ein und wieder aus. Er lässt nach. Ich bin froh, dass der Moment vorüber ist. Habe Angst, dass er bald wiederkommt.

Auf dem Weg zurück ist der Himmel milchig, ein leichter Wind weht. Ich verstaue meine Regenjacke im Rucksack, kremple die Ärmel hoch. Auf der Hochebene setze ich mich mitten auf den Grasteppich und sehe in die Ferne.
Hinter mir ertönt Glockenläuten. Ich drehe mich um. Ein paar Meter weiter steht eine Kuh mit ihrem Kalb. Es ist hellbraun und hat einen dunklen Fleck auf seiner linken Flanke. Es hebt den Kopf und sieht mich an, die Mutter rupft mit dem Maul Gras aus dem Boden. Das Kalb kommt auf mich zu. Langsam stehe ich auf und gehe rückwärts in Richtung Wanderweg. Ich behalte die Kuh im Auge, mein Herz schlägt schneller. Doch sie scheint sich keine Sorgen zu machen. Sie sieht ihrem Jungen hinterher und widmet sich wieder dem Gras.
Ich bleibe stehen. Die Sonne wärmt meinen Körper, in dem Baum neben mir zwitschert ein Vogel. Das Kalb macht noch einen Schritt. Und noch einen. Als es genau vor mir steht, senkt es den Kopf. Drückt seine Stirn an meinen Bauch. Ich setze einen Fuß nach hinten, um die Balance zu halten. Vorsichtig hebe ich die Hand und lege sie zwischen die Ohren des Jungtiers. Es schnauft. Ich kraule es, spüre das borstige Fell, den Druck seines Kopfes an meinem Bauch. Die Wiese leuchtet unter der Sonne hellgrün. Nichts scheint sich zu bewegen, die Luft ist weich. So weich. Ich lächle. Schaue auf das Kalb hinunter und wünsche mir, dass es noch eine Weile hier stehen bleibt. Nur eine kleine Weile.

Auf dem Parkplatz lehne ich am Auto und verschränke die Arme vor der Brust. Der Himmel färbt sich orange, die schräg durch die Bäume fallenden Sonnenstrahlen werden blasser. Mein Blick fällt auf ein paar Scherben, die neben einem Mülleimer liegen. Sie funkeln im Licht der untergehenden Sonne.

Katharina Rios

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freiTEXT | Kai Bohnert

Die Fischsuppe

Gestern hat es Fischsuppe gegeben. Heute allerdings ist F. unwohl, und zunächst ist er versucht, es dem Stress zuzuschieben, denn seit geraumer Zeit plagen ihn ins Stocken geratene Geschäfte; dann aber erscheint ihm doch die gestrige Fischsuppe durchaus verdächtig. Morgens begann es in seinem Magen zu gären; gleichsam als flöße Schaum durch die Eingeweide blähte sich sein Bauch auf, stieße man eine Nadel hinein, er würde die Haut an der Oberfläche sogleich von Innen aufreißen und herausquellen, wie bei einem Plüschtier – schnitte man es der Länge nach auf – das Futter. Reglos liegt F. seither im Bett, zwischen Tür und Fenster.

Die Sonne scheint fahl und kalt hinter dem Glas; wo ihr Licht über seine Wangen fließt, färbt es sie blass, wie der Bauch eines Fisches, wenn er leblos auf dem Wasser treibt; F. wäre über diesen Morgen sonst zornig gewesen, nun aber ist er nicht einmal dazu imstande; einmal versucht er sich herum und aus dem Bett zu werfen, gelangt jedoch kaum auf die Seite, fällt stattdessen sogleich am ganzen Leib zuckend auf das Bett zurück, als habe ihn jemand in den kleinen Zeh gezwickt. Danach regt er sich noch weniger, als schon zuvor nicht.

Mit trüben Augen starrt er zur grauen Decke. Warum hat er auch die Fischsuppe essen müssen? Wo doch schon der Anblick des Marktes vor dem Fenster ihm Übelkeit bereitet! Dorthin nämlich war der Bedienstete gegangen, um die Zutaten für die Suppe einzukaufen; was für ein elender Ort dieser Markt ist: Jedermann brüllt, auf Anfrage werden einem die Waren ohne Prüfung in den Korb geschleudert, ja man weiß zuweilen nicht einmal, was man überhaupt eingekauft hat. Und selbst wenn man – allen Erwartungen zum Trotz – doch einmal die richtigen Zutaten erhält, so bleibt doch das größte Übel der Fisch selbst.

Zwar wird er gewissermaßen frisch aus dem Fluss geangelt, aber was bedeutet dies schon im Falle des Flussfisches, dieses armseligsten aller Fische? Sein ganzes Leben hängt er nur in der Strömung – zwischen Oberfläche und Flussbett – herum, sogar die Fischer ermüdet es, ab und an schlafen sie beim Angeln ein; beinahe genügte es schon, wenn man den Eimer nur am Ufer abstellte, der Fisch spränge dann nahezu von selbst hinein. Wenn er nur zum Springen in der Lage gewesen wäre! Wo aber doch nichts lächerlicher erscheint, als ein Flussfisch, der springt!

Aus solchen Fischen hat nun also der Koch die Suppe zubereitet. Und F. sieht ihn im Geiste vor sich, wie er, bei dem Gedanken, diese Suppe nicht selbst essen zu müssen, teils erleichtert, teils schadenfroh lächelt. Zunächst ist F. daher versucht, schlichtweg dem Koch die Schuld zu geben, dann dem Bediensteten, endlich sich selbst, da er immerhin die Suppe, obwohl genau Bescheid wissend, gegessen hat.

„Du bist auch Schuld“, sagt F. bewusst vorwurfsvoll.

Auf dem Stuhl neben der Tür, sitzt an einem Tisch sein Vater; aber er macht ein Gesicht, als sei allein in dieser Ecke Winter. Dann schließt F. die Augen und lehnt sich zurück: Während seiner Kindheit hatten sie am Meer gewohnt. Und jeden Tag war sein Vater zum Fischen hinunter an den Strand gegangen, wo die See schier ohne Ende erscheint. Wenn der Wind Regen und Gischt gegen das Fenster peitschte, starrte F. in den Sturm hinaus. Würde der Vater sicher wieder nach Hause kommen? Schlussendlich tauchte der gelbe Regenmantel vor der Tür auf, er trat ein und schleuderte ein Bündel Fische wortlos auf den Tisch. Dieser Meeresfisch bebte selbst noch in Gefangenschaft, würfe man ihn in einen Eimer Wasser, so schwämme er sogleich herum.

Wie anders hingegen der Flussfisch!

Ob er reglos im Flussbett hängt, ob er im Eimer die graue Wand anstarrt – es ist völlig gleich; ja, vor allem im Eimer bewegt er sich noch weniger, als er es ohnehin schon nicht tut. Wo der Meeresfisch selbst auf dem Schlachtbrett noch vor Leben geradezu strotzt, da trifft einen aus dem trüben Auge des Flussfisches nur dieser – gegen sich selbst mehr als gegen den Fischer gerichtete – vorwurfsvolle Blick.

Schon als Kind hatte F. dies nur allzu gut verstanden.

Er öffnet die Augen – und der Stuhl am Tisch neben der Tür ist leer. Das hat er nun also davon noch in der übelsten Fischsuppe einen Fingerzeig auf das Meer finden zu wollen. Während die aus Meeresfisch zubereitete Suppe durchaus vergangene Geschichten über die Kindheit und noch vergangenere über das Meer zu erzählen vermag, macht diese hier unweigerlich krank. F. kann nicht einmal aus dem Fenster sehen.

Dort draußen angelt soeben ein Fischer einen Fisch aus dem Fluss. Er wirft ihn auf den Tisch, schlägt ihn ein paarmal gegen die Kante und betrachtet ihn dann eingehend, woraufhin sich aber seine Stirn in Falten legt. Schließlich wirft er ihn in hohem Bogen zurück ins Wasser. Der Fisch kommt mit dem bleichen Bauch nach oben zurück an die Oberfläche und leblos auf dem Wasser treibt er davon.

Kai Bohnert

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freiTEXT | David Hassbach

Ländersex

Aktuell hat man bei uns große Angst vor fremden Einflüssen. Die Furcht etwas könnte aus dem Ausland in unser schönes Österreich reinkommen, sich hier ausbreiten, uns wie ein Virus infizieren oder schleichend unterwandern, ist rasend. Dabei vergisst man allerdings gerne die positiven Aspekte des Kulturimports. Ein paar liegen geblieben Säcke, die im Zuge der Räumungsarbeiten nach der zweiten Türkenbelagerung gefunden wurden, haben zum Beispiel dazu geführt, dass wir in Wien eine ordentliche Kaffeehauskultur entwickeln konnten und nun köstlich, aromatischen Mokka genießen, während man sich in Deutschland damit begnügt Wasser braun zu färben und sich dann auch noch traut, dieses Verbrechen als Kaffee zu bezeichnen. Oder man blicke auf die alten Griechen, die Brutstätte unserer Demokratie. Dank Pythagoras wissen wir wie man eine Hypotenuse berechnet, dank Hippokrates haben die Ärzte einen Eid auf den sie schwören können, dank Sokrates wissen wir, dass wir eigentlich nichts wissen und dank einer gängigen Gesellschaftspraxis unter altgriechischen Männern, wissen wir, dass man den After nicht nur zum Scheißen verwenden kann.  Homosexuelle und sexuell experimentierfreudige Heterosexuelle würden ohne die großen, griechischen Vordenker, vielleicht noch immer ein Nasenloch oder das Ohr für ihre Vergnügungen verwenden. Man merke: Ein offenes Weltbild hat Vorteile – Vor allem im Schlafzimmer.  Die Staatsgrenzen der sexuellen Präferenzlandkarte sind allerdings nicht immer leicht zu ziehen und deshalb sollte man sich gut informieren, bevor man irgendwo am breitgefächerten Ländersexglobus um Asyl ansucht.

Hier ein Überblick:

Rein evolutionstechnisch, macht der Deutsche alles was er beim Kaffee falsch macht, in Punkto Sex richtig. Deutscher Sex ist effizient. Betritt der deutsche Mann gemeinsam mit einer Frau das Schlafzimmer, hat er automatisch eine kruppstahlharte Erektion, begibt sich in Angriffsposition, betreibt das Vorspiel genau so lange, bis die Frau im richtigen Maße feucht ist und dringt anschließend blitzkriegartig in sie ein und bevor ihr Körper überhaupt versteht was passiert, hat sein siegreiches Spermium die Eizelle bereits eingenommen. Es verwundert deshalb nicht, dass Deutschland das bevölkerungsreichste Land auf dem europäischen Kontinent ist.  Die einzige Stellung die für sein Schlafzimmer-Gaudium in Frage kommt, ist natürlich die Missionars-Stellung. Denn was man ordentlich macht, macht man gut. Der ganze Prozess wird auch nicht unnötig in die Länge gezogen. Denn jeder weiß: In der Kürze liegt die Würze. Man soll das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Wer zu spät kommt, den straft das Leben und wem du`s heute kannst besorgen, den schiebe niemals morgen.

Im Gegensatz zum Deutschen ist der Franzose ein Genießer. Liebe geht durch den Magen und deshalb beginnt der wahre Gourmet sein Vorspiel damit, stundenlang zu fressen und literweise Wein zu trinken. Im Anschluss daran ist eine Erektion oft nur schwer möglich. Deshalb bedient sich der französische Mann zweier, besonderer Techniken. In seltenen Fällen benutzt er für ein knuspriges Schäferstündchen ein altes Baguette als Penisprothese. Historiker berichten auch vom Einsatz abweichender Teigprodukte. So soll der Sonnenkönig Ludwig XIV gerne ein Eclair als Schwanzersatz verwendet haben. Von ihm stammt auch der vielmals falsch zitierte Ausspruch: >> L’Eclair, c’est moi <<, also, >> Das Eclair, bin ich! <<
Im Allgemeinen haben sich Sprachwissenschaftler darauf geeinigt, den Einsatz von Backwaren zur sexuellen Stimulation, mit dem Fachterminus „Ejaculatio-Brot-Cock“ zu belegen. Viel öfter als ein Baguette, benutzt der Franzose zur Befriedigung seines Partners allerdings seinen Mund. Oralsex hat sich als gängige Praxis im Land der Liebe durchgesetzt. Über die Jahrhunderte haben sich die Franzosen so sehr an den Geschmack gewöhnt, dass es auch nicht verwundert, dass es sich beim französischen Nationalgericht – der Bouillabaisse – um eine Fischsuppe handelt.

Ganz in IKEA-Do-it-yourself-Manier, spannen sich die Schweden gerne den AllzweckInbusschlüssel zwischen die Finger und schrauben sich ihren Orgasmus mit der Hand zusammen. Die wodka-trunkenen Russen treffen nur mehr zwischen die Schenkel, die Inder verrenken ihre yogageübten Körper durchs Kamasutra, die Spanier nennen den Busensex ihr eigen und wer beim Ficken auf die härtere Gangart steht und dabei dennoch höflich bleiben will, ist mit englischem Sex gut beraten.

Dennoch ist immer wieder die wahrlich bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit der Menschheit hervorzuheben. Not macht erfinderisch und deshalb bevorzugt der italienische Mann, der traditionell noch immer bei seiner Mama wohnt und aus diesem Grund nur wenig Raum in seinem Kinderzimmer hat, den platzsparenden Sex unter die Achsel. Auch die Abneigung der Italiener gegen Deodorant, gepaart mit dem südlichen Klima, erweist sich in diesem Kontext, als gleitmitteltechnische Goldgrube.  Nach einem Urlaub in Lignano und einigen verschwitzten Achselnächten, weiß man, nicht umsonst gehörte Italien, Mitte des 20 Jahrhunderts, zu den sogenannten Achselmächten.

Aber was zeichnet uns Österreicher aus? Was ist typisch österreichischer Sex? Der klassische Österreicher geht aus, betrinkt sich, sieht eine wunderhübsche Frau, spricht sie nicht an, kommt nach Hause, masturbiert und denkt sich dabei: Also wenn ich gewollt hätte, die hätte ich haben können.  Österreichischer Sex ist Sex im Konjunktiv. Wir sind ein Volk der Musiker, Dichter und Denker. Deshalb spielt sich bei uns das Vergnügen im Kopf ab.

Damit sollten wir aber nicht zwingend hinter den Bergen bleiben, die uns umgeben. Wir müssen raus in die Welt, rund um den Globus, bis nach China müssen wir unsere Weisheit exportieren und ich schwöre binnen kürzester Zeit, wäre das Problem der Überbevölkerung weltweit gelöst.

Mit freundlichen Grüßen,

Ihr Professor Hassbach

David Hassbach

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freiTEXT | Christian Lange-Hausstein

Wenn ein Plan funktioniert

Ich kann außerhalb unserer Sitzungen halt nur mit niemandem darüber reden. Das ist das, was es schade macht. Es gibt nur die wenigen Tagebucheinträge, ich habe sie nicht einmal verschlagwortet, deshalb muss mein Biograph, aber das ist auch erst, wenn ich schon tot bin, deshalb muss mein Biograph da auch erstmal draufkommen, also in welchem Zusammenhang diese Tagebucheinträge stehen. Da steht ja nirgendwo Volksbühne oder Lederer oder, wie heißt sie, die kleine Maus, die jetzt einen auf Sprecherin mit großgeschriebenem "I" macht, als wäre sie keine Frau – die Deutschen sind wirklich krass – mit ihrem devoten Schmusi da neben sich, das konnte ich ja damals, als das Konzept entstand, da war ich fünfundzwanzig, sowas in dem Dreh, da konnte ich das doch nicht wissen, dass das jetzt genau dieser Lederer ist und diese Maus und ihr Schmusi. Damals war nur abstrakt klar, wenn man etwas Neues haben will, dann muss es einen Knall geben, die Leute sind zu faul, um sich einzubringen, wenn alles schon irgendwie okay ist. Alles irgendwie schon okay, das akzeptieren die, da lehnt sich keiner gegen auf.

Ich meine. Also mir tut das ja auch leid. Schauspieler entlassen, Bühnenpersonal. Das sind ja Existenzen, die da dranhängen. Nicht nur materiell, auch ideell, die haben sich ja alle miteinander und mit ihrer Intendanz identifiziert. Das war ja gewachsen. Da zerstören sie ganze Leben, wenn sie die entlassen, ganze Familien. Die eine hat ihren Mann verloren, meine Assistentin hat mir davon berichtet. Die hätte jetzt ein Engagement in Bochum haben können und da hat der Mann gesagt, sowas macht er nicht, der Sohn kommt in einem halben Jahr in die Schule, da kann man auch nicht nochmal die Kita wechseln und dann ist es doch besser, konsequent zu sein. Und buff. Da war er draußen, ein Kunstsammler, im Brotberuf Radiologe. Der hatte natürlich auch einen guten Anwalt- wegen dem Sohn. Und verheiratet waren sie auch nicht, sondern immer so so-ein-Behördenakt-macht-meine-Liebe-auch-nicht-echter-mäßig. Schauspielerin und Kunstsammler in Mitte halt. Und dann hat das mit dem Engagement in Bochum doch nicht geklappt und dann stand sie da. Da schlucken sie natürlich, wenn sie von so einem Schicksal hören. Da bekommen sie auch Zweifel. Da muss man dann schon auch nochmal, how do you say, tief in die Argumentenkiste greifen, damit man da nicht schwach wird und sagt Hey, ihr seid alle Teil einer Inszenierung, sondern dichthält und weitermacht. Aber im Ernst, wenn du schon Künstler sein willst, dann kannst du dich nicht mit so lapidaren Fragen wie deiner Existenz aufhalten. Ich meine. Bis zur Selbstverleugnung.

Ich leide ja auch. Dieser silberne Bart. Dieser Künstlerschal. Jeden Morgen dieser Scheitel, meinen sie, der sieht von allein so dynamisch geworfen aus? Verzeihen sie die Frage, das ist übergriffig, beim Recap unserer letzten Sitzung ist mir aufgefallen, dass ich das öfter mache, ich will das verbessern. Aber wirklich: Haben sie das Interview mit mir bei Kulturzeit in 3sat gesehen? Können sie sich vorstellen, sowas zu sagen und dann nicht zu sagen, Hey, nur ein Spaß, haha, sondern mit "Ich danke ihnen" das Gespräch zu beenden und dann denken die Zuschauer das alle. Kamera aus, die Moderatorin macht einfach mit Flüchtlingskrise weiter, die Leute schalten ab und denken, der Typ macht da jetzt echt einen auf Disney Land, Dance Performance, ich meine, schon das Wort, Dance Performance.

Jedenfalls von den Lebenden, die zwischen jetzt und dem Aufschrei meines Biographen, wenn er die Erkenntnis hat, sterben, von diesen Lebenden wird niemals einer erfahren, dass das eine Installation ist, dass diese Inszenierung einem Plan folgt, dass ich mit alledem die Bande links und rechts auf dem Lebensweg der sogenannten Bevölkerung so sehr verengen will, dass die, wie heißen die Mitglieder von einem Volk auf Deutsch, jedenfalls dass die Menschen wieder in Fahrt kommen, das Heft selbst in die Hand nehmen, aufstehen, besetzen, eigene Spielpläne erstellen, an sich selbst, an den Mitgliedern ihrer Gruppe lernen, wie schwer es ist, in Abstimmungsprozessen zu bestehen, sich auf Stücke zu einigen, Schauspieler zu finden, die allen entsprechen, ein Bühnenbild zu bauen, den Vertrieb unter Gästen zu organisieren, die kein Geld haben und den Beteiligten irgendwann doch etwas zu zahlen, damit sie sich konzentrieren können, darauf Kunst zu machen, die aus dem Volk heraus, dem Volk das lahm geworden ist, auf die Bühne gekotzt wird, als Abwehrreaktion, bevor das Schlimmste passiert, rosa, Glitzer, Musical, und zwar ernst gemeint.

Das alles abzuwenden wird sie Kraft kosten, man wird den Schweiß riechen, die Hitze der Scheinwerfer wird ihn in den Zuschauerraum tragen. Und dann: Man konsolidiert sich, alles wird bleiben, wie es war, bis ich kam und den Leuten zeigte, dass sie es so wollen, und sie werden nicht mehr müde sein, sondern voller Eifer mit sich selbst und dem Erhalt dessen, was sie immer schon hatten und aufs Neue lieb gewonnen haben, so sehr beschäftigt sein, dass sie die einsame Stimme des FAZ-Feuilletonisten, der geleitet von dem Motiv, dem ganzen Klamauk etwas entgegenzusetzen, darauf kommt, dass man mir doch Danke sagen müsste, sie werden diese Stimme überlesen, ich werde nirgendwo twittern, dass ich es liebe, wenn ein Plan funktioniert und irgendwo zwischen unendlichem Glück, dass mein Plan funktioniert und dem Hass der Welt, die doch meine ist, die Welt der Kunst, die mich verachten muss, dort werde ich verweilen, verlassen von denen, die mich auf der letzten Stufe der Umsetzung meines Plans gegen sich ausgetauscht haben, werde ruhiger werden, ein bisschen traurig sein, und froh.

Christian Lange-Hausstein

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freiTEXT | Katherina Braschel

fragment.

An erleuchteten Fenstern in dunklen Gassen steht ein Mensch und rührt in Tassen, die aus bleihaltiger Tonerde geformt, durchsichtig sind.
Er gießt die Topfpflanze vor seinem Fensterbrett mit Fäden seines Speichels, die er aus Taschen zieht, welche außen angenäht, falsch wirken.
Mit gleitenden Bewegungen seiner geschärften Fingerkuppen kratzt er Windmühlen in sein Fensterglas. Der Wind pfeift durch sie hindurch. Moll. Fis.
Es geht die Legende, der Mensch fresse Kinder. Und als Kinderersatz, weil diese so schwer zu kriegen sind, lässt er sich Kinderattrappen aus Kaugummi anfertigen. Kleine, süße Kirschen sind die Augen, welche er, so sagt man, mit einem Zeh belegt.
Der Mensch am Fenster hat seine Zähne verloren. Er wollte ein Mosaik legen und die gelblich-weißen Eckchen mit Rostlöser fluten. So weit kam es aber nie, denn mitten in seinem Schneidezahn fand er kleine Käferlarven, welche ihn so zum Nachdenken brachten, dass er auf Tage vergaß, an etwas anderes zu denken. Als die Larven geschlüpft und in seine Ohrmuschel eingezogen waren, kehrte er mit seiner Schaufelhand die restlichen Zahnecken unterm Teppich hervor und streute sie wie Oregano über seinen Bauchnabel. Dort wachen sie über seinen Schlaf, den er gewissenhaft um 13:52 einzunehmen pflegt. Der Mensch schläft mit der gleichen tonlosen Konzentration, mit der er täglich die Zeitung zerschneidet. Von links unten bis rechts oben braucht es genau neun dunkelgrüne Blutstropfen, die mit einem leichten Knarren auf den Griff der Heckenschere fallen, wenn der Mensch zum nächsten Schnitt ansetzt. Das Grün des Blutes vermischt sich mit der Druckerfarbe der Zeitung und färbt seinen Morgenkaffee petrol. Mit dem Auge eines alten Teddybärs, das der Mensch vor langer Zeit im Körper einer toten Bettwanze fand, schabt er den Kaffeesud aus der Tasse und in seinen Schritt. Und wenn er nun an den Fenstern in den dunklen Gassen steht und rührt, zieht er manchmal ein kaffeesudgebräuntes Schamhaar zwischen seinen Beinen hervor und pflanzt es in seine Topfpflanze. Dort formt es mit seinen Vorgänger_Innen ein drahtig-weiches Bett für die langen Speichelfäden aus den Taschen.
Der Mensch bohrt seinen Ringfinger in die Taschen, bis er seine zernarbten Knie fühlt, an die er Christbaumkugeln gehängt hat. Den Glitzerstaub, der eine Schneelandschaft darstellen sollte, hat er vorher abgeleckt und unter seinen Zehennägeln verstaut, wo der Mensch auch einen Vorrat an Antipasti aufbewahrt.

Katherina Braschel

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freiTEXT | Monika Jarju

Austragen

An der Haltstelle warten schon viele Leute. Der Bus kommt nicht. Plötzlich rennen alle los. Ein schwangerer Mann springt auf meinen Rücken, er lässt sich von mir tragen. Man hat ihn entlassen, als er schwanger wurde und das Arbeitsamt zahlt ihm kein Geld, erzählt er mir. Es sei denn, er findet eine Leihmutter, die das Kind gebärt. In meiner Dachwohnung, in der ich erst seit einer Woche wohne, verlangt er zu essen & zu trinken, duschen will er auch & schöne Handtücher. Das erinnert mich an etwas, woran ich mich nicht mehr erinnere.

Monika Jarju

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freiTEXT | Tessa Schwartz

Fort

Ich höre sein Lachen, durch die verschlossene Tür des Wohnzimmers hindurch. Die anderen stimmen darin ein, laut, gewalttätig. Wenn die anderen gegangen sind, wenn er im Bett liegt, schläfrig vom Alkohol, werde ich das Wohnzimmer betreten. Ich werde vor dem Geruch, der Mischung aus Alkohol, Schweiß und ungewaschener Kleidung zurückweichen, meinen Atem anhalten, hineingehen, das Fenster öffnen und aufräumen. Während ich das tun werde, werde ich mich selbst sehen, wie ich ihm hinterher räume, und ich werde mich fragen, warum ich das tue. An der Garderobe hängen ihre Mäntel. Ihr Geruch nimmt den des Wohnzimmers vorweg. Ich nehme meinen Mantel vom Garderobenhaken, damit er nicht ihren Geruch annimmt. Ich stehe im Vorzimmer, meinen Mantel in der Hand haltend. Ich könnte ihn anziehen, die Haustür öffnen, sie leise hinter mir zuziehen und fortgehen. Ich stehe im Vorzimmer und weiß, dass ich nicht fortgehen werde. Es ist ein Wort ohne Ziel, ohne Ankommen. Fortgehen gibt es nicht. Ich stehe im Vorzimmer und der Geruch ihrer Mäntel nimmt mir den Atem. Ich öffne die Haustür, gehe zur Garderobe, nehme einen Arm voll Mäntel, versuche, sie von meinem Körper fernzuhalten, an ausgestreckten Händen trage ich sie vor die Haustür, lege sie auf den Boden, gehe zur Garderobe zurück, nehme die restlichen Mäntel, lege sie vor die Haustür. Die Garderobe ist jetzt sauber, und ich hänge meinen Mantel daran. Dann gehe ich ins Badezimmer. Ich drehe den Schlüssel von innen zwei Mal im Schloss herum. Ich setze mich auf den Badewannenrand. Ich beginne zu warten. Ich habe noch keine Angst.

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