Brücken

Der Mann, er weiß nicht, wo er im Leben steht, ob er überhaupt steht oder schon längst sitzt, und was es bedeuten würde, wenn er denn nun sitzt und nicht mehr steht, dieser Mann, der unruhig ist, ein wenig aufgescheucht sein Leben begeht, nie ankommen mag, sich selbst nicht sicher, ob er überhaupt ankommen will, weil ankommen letztendlich auch Endgültigkeit ausstrahlt, die ihm dann sagen würde, von nun an geht es nicht mehr weiter, hier wirst du verweilen oder schlimmer noch, ausharren müssen, der sich dem Pejorativ dieses Wortes bewusst ist, ausharren, als würde es keinen Ausweg mehr geben, als wäre man eingeschlossen von etwas, das man nicht bezwingen kann, dieser Mann, der ungerne wartet, da warten doch bekanntermaßen bedeutet, sich in Abhängigkeiten zu begeben und Abhängigkeit für ihn wie eine Fessel ist, die sich immer fester schnürt, sich in seine Haut schneidet, kaputte Zellen zurücklässt, Wunden, aus denen Narben werden, Narben, die im Sommer weiß bleiben, die sich abheben, für jeden sichtbar sagen, dir hat man etwas fürchterliches angetan, dass du für den Rest deiner Tage mit dir herum tragen wirst, von denen du auch nach etlichen Versuchen der Gewöhnung den Blick niemals abkehren kannst, weil abkehren mit verdrängen gleichzusetzen ist und verdrängen nur vorübergehend funktionieren kann und nie eine langfristige Lösung ist, dieser Mann, der sich nach Dingen sehnt, die er nicht in Worte fassen kann, denn Worte kratzen nur an Oberflächen, zerkratzen sie, bis das, was man darunter vermuten könnte, noch besser versteckt ist, bis einem Angst und Bange wird, nie dahinter steigen zu können, hinter die Geheimnisse, die verschachtelt, ungeordnet, nicht zähmbar, ineinanderfließend ihre Grausamkeit verdeutlichen, die Freiheit mit Grenzenlosigkeit verwechseln, dieser Mann, fast vierzig, ein wenig müde von seinen unbeherrschbaren Gedanken, läuft an einem Büro vorbei, in dem eine Frau einen Aktenordner auf den Schoß hat, ihn wieder und wieder durchblättert und nach einem Rechenfehler sucht, der ihr sagt, es gäbe noch Hoffnung.

Diese Frau, Mutter zweier Kinder, alleinerziehend, vom Mann im Stich gelassen, der sich irgendwann dazu entschieden hat, es sein zu lassen und von einer Brücke gesprungen ist, aufgeschlagen auf einer dicken Eisschicht, den Schädel in Einzelteile hat zerspringen lassen, wie ein Glas, das einem unachtsam aus der Hand gleitet, sich in Splittern auf einem Boden verteilt, diese Frau mahnt sich zur Ruhe, aber da ist keine Ruhe mehr, nur Bedrohung, Ängste, Rechnungen, die zwar geöffnet, aber ungelesen sind, weil ungelesen sagt, vielleicht ist es alles gar nicht so schlimm, vielleicht kriegen wir noch die Kurve, vielleicht müssen wir nicht aus der Wohnung ausziehen, das Auto verkaufen, uns von den alten Möbelstücken trennen, die im Antiquariat möglicherweise etwas abwerfen, vielleicht passiert etwas Überraschendes, ein Gewinn, obwohl man nirgends mitspielt um gewinnen zu können, vielleicht ein Erbe, weil jemand stirbt, der zur Familie gehört, von dem man noch nie gehört hat, der kurz nach der Geburt verschwunden ist, weil die Mutter noch minderjährig, der Freund überfordert, die Eltern besorgt um das Ansehen in der Gemeinschaft waren, vielleicht trifft man auf einen Mann, der sich nicht daran stört, zwei Kinder mit großzuziehen, der sich nicht von den Schulden abschrecken lässt, diese Frau, Seite um Seite umblätternd, ohne wirklich erkennen zu können, was auf den Seiten steht, weil Tränen verschwimmen lassen, die leersaugende Ohnmacht dem Kopf keinen klaren Gedanken fassen lässt, Hoffnung wie ein Fremdwort ohne Übersetzung bleibt, diese Frau, kurz aufblickend, sieht das Bild ihrer Kinder auf dem Schreibtisch stehen, die Kinder, auf einem Platz in Madrid, knallbunt angezogen, die Arme umeinander gelegt, wie Geschwister, denen Streit fremd ist, die aussehen, als könnten sie niemanden was zu Leide tun, erinnert sich, wie sie danach Eis essen gegangen sind, kurz nachdem sie das Foto geschossen hatte und sie vom warmen Wind gestreichelt, eine Leichtigkeit verspürt hat, die ihr nur dieses eine Mal begegnet ist.

Erdbeereis, sagt der Junge und nahm die Eiswaffel entgegen. Für sein Alter war er schon sehr weit. Weit sein oder besser gesagt, weiter sein als der Rest ist meistens mit Problemen behaftet, weil es nicht normal ist, weiter zu sein und dann sitzen erst die Erzieher mit den Eltern in der Runde und sprechen über Auffälligkeiten, dann kommen Therapeuten, wollen das man Häuser und Bäume malt und Fragen beantwortet und mit Figuren spielt, am besten Situationen nachstellt, Situationen, die Zuhause passieren, die zum Alltag gehören, die Einblicke über das Verhalten der Eltern gewähren, die nach Ursachen suchen, weil man mit den anderen Kindern nicht zurecht kommt, sie ausschließt, von ihnen ausgeschlossen wird, weil man Dinge sagt, die andere Kinder in dem Alter nicht sagen, die überfordern mögen, aus ratlosen Blicken gekräuselte Stirne machen, die das Kind bewerten, kategorisieren, in eine Ecke stellen, die niemand sonst betreten sollte, weil es komisch ist und man auch Angst hat, vom Kind bewertet, kategorisiert zu werden, dass es einen durchschaut, die Regeln und Rituale hinterfragt, sich auflehnt, gefährlich wird, mit seinem Wissen die Überforderung durchdringt und der Junge, an seinem Erdbeereis leckend, lächelt seiner Schwester zu, die zwei Jahre jünger ist, zu ihm aufschaut, wie jüngere Geschwister zu älteren Geschwistern aufschauen, stolz und wissbegierig, sich in ihrer Nähe vor den Gefahren des Lebens beschützt fühlen. Der Junge flüstert seiner Schwester etwas ins Ohr, die daraufhin kichert und für diesen Moment scheinen die Sitzungen in hellen Räumen, mit Therapeutinnen, die ihre Beine übereinandergeschlagen haben, die ihre Haare zum Zopf tragen, ihre Stimmen fürchterlich ins Kindliche verziehen, vergessen und er streckt seine Brust raus, wackelt mit der Hüfte, hüpft von einem Bein aufs andere, was seine Schwester dazu animiert, es ihm nachzumachen, woraufhin ihr Eis auf den Boden fällt, einen vanillefarbenen Fleck auf dem hellen Pflastersteinen hinterlässt und ihr Tränen in die Augen treibt. Kurz nur, weil der Junge ihr sein Eis gibt und sagt, es gibt Schlimmeres als den Verlust einer Eiskugel und dann schaut er zu seiner Mutter, die von der Geste angetan, ihm einen Luftkuss zuwirft.

Der Fleck wird am nächsten Morgen von der Straßenreinigung wegspült. Vermischt mit chlorversetztem Wasser wird er langsam den Bordstein herunterrinnen, in einem Gullischacht verschwinden und von dem anbrechenden Tag, der aufsteigenden Sonne, den Menschen, die ihrer Arbeit nachgehen, die Bussen nachrennen, schwere Einkäufe tragen, überlegen, ob sie die Fenster wirklich geschlossen haben, sich fragen, ob sie glücklich sind, mit ihrem Beruf, die sich einen Ausweg aus der Eintönigkeit erträumen, die ihre Bedürfnisse dem Funktionieren unterordnen, die das Wochenende mit Freunden planen, in Schlangen im Supermarkt den Einkaufszettel noch mal studieren, weil sie das Gefühl nicht loswerden, etwas vergessen zu haben, die sich mal wieder bei ihren Eltern oder ihren Kindern melden müssten, aber abends zu erschöpft sind, um zum Telefonhörer zu greifen und dann doch lieber fern sehen oder Bücher lesen oder auf dem Sofa sitzend Wein trinken und ihrem Partner vom Tag erzählen, vom Chef, der sich wieder aufplustern musste, der alten Frau mit den Plastiktüten, die Pfandflaschen gesammelt hat, der neuen Richtlinie oder dem Formular, auf dessen dritter Seite ein Rechtschreibfehler ist, dem überschwemmten Keller eines Kollegen, der seit Wochen schon gesagt hatte, dass seine Waschmaschine merkwürdige Geräusche macht, den Kindern, die sich in der Schule langweilen und auf die nächste Hofpause warten, den Jugendlichen, die in Parks Gras rauchen und der Meinung sind, ihre Klausuren verrissen zu haben, die sich über Jungs oder Mädchen unterhalten, traurig oder euphorisch werden, die irgendwann zur Uhr schauen und sich verabschieden, den Touristen, die sich vor Sehenswürdigkeiten fotografieren, in Museen einkehren, die die im Reiseführer empfohlenen Restaurants ausprobieren, den Nachrichten, die von Krisen berichten, Toten, Prominenten, die mit Fehltritten auf sich aufmerksam machen, nichts mehr mitbekommen. Der Fleck wird dann schon lange nicht mehr da sein.

So wie der Mann. Er biegt nun um die Ecke, geht seiner Wege, öffnet die Tür zu seiner einsamen Wohnung, macht Dosenraviolis im Topf warm, denkt darüber nach, sich einen Hund anzuschaffen, um sich gebraucht zu fühlen, um an Halt zu gewinnen, obwohl er unschlüssig ist, ob er dadurch wirklich an Halt gewinnen würde und ob er der Verantwortung überhaupt gerecht werden könnte und so isst er die Raviolis im Stehen und der Schatten, den er wirft, wird langsam länger und bald wird der Schatten verschwinden und dann ist nur noch Dunkelheit da und er wird noch immer im Raum stehen, die Raviolis zwar gegessen trotzdem Hunger haben und vielleicht wird er sich an das Mädchen erinnern, in das er mal verliebt war, die in ihm nicht mehr als einen guten Freund sehen wollte und sich dann auf einer Party in einer Ecke mit einem Jungen aus der Parallelklasse verknotet hat und wie sein Herz in tausend Splitter brach und er dann los ist, die Treppe heruntergestürmt, sich aufs Fahrrad geschwungen hat, nach Hause ist und sich im Bett liegend geschworen hat, er würde das nie machen, dieser Demütigung der Liebe noch einmal eine Chance geben.

 

Ferenc Liebig

 

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