freiTEXT | Ann-Christin Kumm

So oder anders

Sie bleibt stehen.

Die Bäume sind grün geworden, es muss in den letzten Wochen passiert sein, sie weiß es nicht, plötzlich Blätter. Die Sonne rutscht über den grauen Asphalt. Seine Haare sind rot.

Was weiß sie über ihn?

Er mag keine Eier, er will, das hat er dem mit dem Leberfleck gesagt, nichts essen, was jemandem aus dem Arsch gekrochen sei. Als er klein war, trat seine Mutter auf sein Lieblingsmatchboxauto. Mit Absicht. Er raucht Gauloises (sie freut das, es kommt ihr besser vor als Camel, sie hat sich oft vorgenommen ihn nach einer Zigarette zu fragen, er könnte ihr Feuer geben, seine Hand an ihrem Gesicht. Sie schafft es nie).

Er hat Sommersprossen im Halsausschnitt. Er hat keine Tätowierung auf den Oberarmen. Er ist gut. Sie nur manchmal, es gibt immer zu viel andere Dinge, außerdem ist sie faul, war sie schon immer.

Das Wichtigste, denkt sie oft, das fehlt. Das weiß sie nicht. Sie mutmaßt nur, und Mutmaßungen helfen nicht.

Jedes Mal stand es in ihrem Zeugnis, tut zu wenig, könnte mehr, so ein langweiliger Satz. Jedes Mal wartete sie auf die neue Formulierung, die nie kam; ein einziges Wort anders, das hätte schon gereicht.

Sie glaubt nicht, dass er jemals solche Sätze in seinen Zeugnissen gefunden hat.

Die erste Woche, sie hat es aufgeschrieben, aber sie hätte es auch so behalten, das erste Mal regnete es. Ihre Haare waren ein bisschen feucht. Sie saß ganz hinten, sie sitzt immer hinten, die Wand kühlt die Schultern, wenn man in der letzten Reihe sitzt. Und keiner kann auf ihren Hinterkopf starren. Sie hat den noch nie gemocht. Wenn sie als Säugling, gleich am Anfang, in den Spiegel geschielt hätte, sie hätte das da schon gefunden. Was für ein hässlicher Hinterkopf. Im Spiegel bekommt man kaum ein richtiges Bild davon, aber auf Fotos ist es eindeutig. Als hätte man ein Stück abgemeißelt.

Sein Kopf ist komplett. Schon deshalb kann sie ihn nicht ansprechen.

Sie steht da, sie fühlt genau, wie groß ihre Augen sind, der Straßenlärm hält nicht mit. Ihr ist ein bisschen übel.

In seinen Kopf passt also viel hinein. Auf der Liste hat sie seinen Namen gesucht, sie zählt die Leute ab zwischen ihm und ihr. Sie macht es jede Woche. Sie hat sich vorgetastet, eine Reihe, dann zwei, meistens sitzt er im vorderen Drittel. Sie hat die Wand verlassen. Sie kommt nicht immer auf denselben Namen, manchmal unterschreibt jemand nicht, das stört das System. Aber es gibt Wahrscheinlichkeiten.

Es gibt, denkt sie, hinübersehend, Wahrscheinlichkeiten.

Sie hat ihn ein einziges Mal berührt. Er stellte sein Tablett neben ihres auf das Band, sie drehte sich zu schnell um, er entschuldigte sich freundlich, er ging sehr schnell weg. Sie stand und beobachtete seine Nudelreste beim Verschwinden. Sie traute sich nicht.

Heute ist sie zu spät. Das erste Mal. Sie stimmt sich immer mit ihm ab, das weiß er nicht, aber sie geht immer direkt nach ihm in den Raum. Er ist ein pünktlicher Mensch. Oder das Thema interessiert ihn sehr. Oder beides.

Inzwischen sitzt sie direkt hinter ihm, ihm und dem mit dem Leberfleck, der immer dabei ist. Sie mag den mit dem Leberfleck nicht, aber er ist wichtig. Sie hört ihnen zu, manchmal schreibt sie etwas auf, zwischen die Zahlen. Er könnte es merken. Es kann sein, eines Tages dreht er sich um und fragt sie, warum sie sich immer hinter ihn setzt.

Was sie dann tun wird, weiß sie nicht.

Sie hat überhaupt immer das Gefühl, dass sie angestarrt wird. Wenn sie die Treppen zu ihrer Wohnung hochgeht, bedeutet jedes Stockwerk eine Pause. Schon seit einiger Zeit kauft sie fast jeden Tag ein, es sind dann viel kleinere Mengen. Sie geht in verschiedene Läden.

Wenn es also nicht der Hinterkopf ist, das kann sie sich problemlos ausmalen, dann ist es das. Er kann sie so nicht wollen. Sie würde es selbst nicht.

Die Sommersprossen an seinem Hals hat sie schon gezählt, wie oft, weiß sie nicht, oft. Die Anzahl hat sie aufgeschrieben. Überhaupt wird sie die Vorlesung nächstes Semester wiederholen müssen.

Seinetwegen, denkt sie. Das Wort gibt allem einen guten Klang.

Sie sieht, wie er sein Fahrrad an den Plakaten vorbeischiebt, wie er sich die Haare aus der Stirn holt, wie er den anderen ausweicht.

Deshalb muss sie stehen bleiben. Sie sieht.

Ihn zu küssen stellt sie sich nie vor. In ihrem Studiengang gibt es nicht viele Frauen. Und keine, die so sind wie sie. Man hat sich gewundert, was willst du denn damit, wenn es wenigstens Medizin gewesen wäre, als Mädchen. Sie hat die Familie jetzt schon eine Weile nicht mehr gesehen, nicht mal an Weihnachten. Sie will keine Fragen beantworten.

Sie denkt sich oft aus, wie sie ihn doch noch anspricht, in ihrem Kopf ist es einfach, in ihrem Kopf ist es real. Sie könnte ihn nach seinen Unterlagen fragen, falls er ihr keine Zigarette geben will. Er sollte es jedenfalls nicht. Sie war da allerdings noch nie gut drin. Verantwortung ist keins ihrer Wörter, es gehört nicht zu ihr. Sie hat also Angst.

Ob es darum mit dem letzten nicht geklappt hat, weiß sie nicht. Wenn sie versucht ihn zu erinnern, dann springen die roten Haare dazwischen. Es hätte viel mehr sein können. Mit hätte kommt man nicht weiter. Mach das nicht, hat er immer wieder gesagt, es war ihm wichtig, aber sie kann nichts dafür. Mach das nicht, es passt nicht zu dir, er hat sie gebeten. Dass sie da hingeht, dass es aus der Welt ist. Wegmachen. Er hat ihre Wörter auch gekannt. Seine Nachrichten bleiben unbeantwortet. Sie haben einfach aufgehört sich zu sehen.

Vielleicht, denkt sie, ist der Rothaarige nur da, weil sie letztes Jahr nicht richtig zugehört hat. Dabei glaubt sie gar nicht an Schicksale.

Sie sieht ihn, er ist fast vorbei, er braucht Monate, denkt sie, für diese kurze Strecke.

Sieh her, denkt sie. Sieh mich an. Er ist fast vorbei.

Als sie anfing, aus ihrer Kleidung zu platzen, hätte sie gern jemand anders in die Geschäfte geschickt. Es war keiner da. Vielleicht muss das so sein. Vielleicht braucht man das, aber wenn sie schöner wäre, wenn sie nicht so unförmig wäre, wie sie jetzt ist, dann könnte er sie bemerken. Sie hat sich noch nie überreden können.

Ihr Gesicht ist jetzt plötzlich in einer Schräglage. Es wird immer schräger.

Und er sieht sie an.

Der Krach in ihrem Kopf ist ganz zeitversetzt, der mechanische Krach, er ist hässlich. Die Bremsen tun in den Gehörgängen weh, etwas geht kaputt. Sie hört eine junge Frau schreien, es ist verwunderlich, denkt sie, dass jemand anders auch ihre Stimme hat. Sie würde gern überprüfen, ob ihre noch da ist, aber sie hat keine Zeit. Sie kann ihre Tasche sehen, wie sie sanft neben ihrem Gesicht auf die Straße klatscht. Das gehört da alles nicht hin, sie weiß das, sie ist sich sicher. Die Haut schürft über den Teer. Der Teer ist ziemlich warm. Dann hört die Bewegung auf. Sie schließt die Augen.

Als sie ein Kind war, hatte sie einen Hund. Er war klein und hässlich und gelb, ihre Eltern hatten nicht diskutiert, als sie vor seinem Käfig stehen blieb. Er kam überall hin mit. Nur in die Badewanne durfte er nicht, sie tat es heimlich, wenn sie allein waren. Sie tröstete ihn, wenn er sich nicht schön fand. Für sie war er schön, war seine Krummheit schön und sein Stummelschwanz und sein linkes Auge, das heller war als das andere. Sie war überzeugt, dass er alles verstand, was sie ihm in die verfilzten Ohren sagte.

Der Geruch nach Blut und Hundescheiße, als er überfahren wurde.

Die Arme und Beine da, denkt sie, die gehören ihr gar nicht. Man hat sie dort abgelegt, ohne sie zu fragen. Es sind so viele Menschen auf der Straße, es wird bald Sommer, bald werden sie mit ihrem Eis spazieren gehen. Ein Eis wäre jetzt gar nicht schlecht, der Geschmack kriecht über die Zunge. Ihr fällt ein, dass sie zu spät zur Vorlesung kommt. Das ist ihr noch nie passiert.

Es vergeht Zeit. Sie macht die Augen wieder auf, als sie etwas gefragt wird, sie reagiert. Jemand möchte das.

Sie denkt an seine Augen, es war etwas Komisches in ihnen, sie kommt nicht darauf, was es war. Sie wird hochgehoben und hingelegt. Sie macht die Augen ein zweites Mal auf.

Das ist, denkt sie, alles sehr freundlich. Sie würde gern aufstehen und gehen, irgendwo muss ihre Tasche sein, da sind alle ihre Unterlagen drin. Sie würde auch Finderlohn bezahlen, bestimmt hat sie jemand aufgehoben, es ist eine blaue Tasche, denkt sie. Der Reißverschluss ist an einer Stelle ausgefranst.

Sie würde gern gehen. Sie wagt es nicht, es scheint nicht vorgesehen zu sein. Jemand hat ihr etwas an den Kopf geklebt.

So sieht das also aus, denkt sie. Was war denn in seinen Augen, es fällt ihr nicht ein, das stört sie.

Der kleine gelbe Hund mochte keinen Schaum. Deshalb badete sie immer ohne, solange er da war. Es war ein echtes Opfer. Sie hat die Badekugeln ihrer Mutter sehr geliebt, sie hatten bunte Farben, giftbunt, sie rochen gut. Sie glitschten einem durch die Hand, wenn man sie ins Wasser hielt.

Sie würde sich gerne am Arm kratzen, auch das ist irgendwie nicht vorgesehen. Dieser hochgewölbte Bauch vor ihr, ihr Bauch, sie hält sich nicht damit auf. Sie würde gern etwas sagen. Jemand diskutiert, der Himmel, denkt sie, ist sehr blau heute. Es ist ihr nur selten passiert, dass man Dinge mit ihr macht, und sie ist nur einmal beim Arzt gewesen, das ist wie mit dem Rauchen und allen Verantwortungsdingen, denkt sie. Dann vergisst sie es.

Sie sieht ihn an.

Er sitzt neben ihr, hier ist nicht viel Platz, wie hat er das geschafft, denkt sie, sein Gesicht ist so nah bei ihr, dass sie es anfassen könnte. Sie will ihn fragen, wo er sein Fahrrad gelassen hat.

Sie lächelt ihn an, sie ist sicher, dass ihr ganzer Körper lächelt. Sie muss den Kopf nur wenig drehen. Er hat ihre Hand genommen, er isst keine Eier, seine Mutter hat sein Lieblingsauto zertreten, er raucht, er hat ihre Hand genommen. Matchboxautos, denkt sie, kriegt man doch gar nicht kaputt. Das Licht ist sehr hässlich, aber ihm kann es nichts anhaben. Er streichelt ihr Haar, sie ist verblüfft, dass er das gleichzeitig tun kann, dann fällt ihr ein, dass er ja zwei Hände hat.

Jemand sagt, dass dem Baby sehr wahrscheinlich nichts passiert ist.

Sie hört es nicht.

Ann-Christin Kumm

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freiTEXT | Olaf Lahayne

Die grelle Griselda

Sie hieß nicht wirklich Griselda.

Eh klar. Wer nennt sein Kind schon Griselda?

Sie nannte sich also selbst so. Griselda Grill, alias die grelle Griselda. Grill, so hieß sie wirklich. Mit Nachnamen. Mit Vornamen eigentlich Gisela.

Gisela, werden Sie jetzt sagen, das ist ja kaum besser als Griselda!

Nun, Gisela hatte halt eine gleichnamige Oma als Taufpatin. Eine durchaus wohlhabende Patin. Eine Patin, die ihre erste Enkelin stolz über den Taufstein hielt.

So lange jedenfalls, bis Gisela zu schreien anfing.

Das Geschrei war – man ahnt es – grell.

So grell, dass es außerhalb der Kirche zu hören war.

Sagt man.

Auf der anderen Straßenseite.

Jenseits einer sechsspurigen Hauptverkehrsstraße.

Aber das ist natürlich übertrieben.

Vermutlich.

Jedenfalls ließ sich die Großmutter künftig nur noch selten sehen. Im Gemeindebau aber, wo Giselas Familie lebte, da erweiterte sich rasch deren Bekanntenkreis. Leute schauten vorbei, die Vater und Mutter noch nie gesehen hatten. Selbst Nachbarn aus dem Parterre. Dabei wohnten die Grills im sechsten Stock. Und die Fenster wurden nur geöffnet, wenn Gisela schlief.

Also eher selten.

Angeblich schuf damals ein Nachbarsjunge den Spitznamen ›die grelle Gisela‹. Ein Junge, der erst seit ein, zwei Jahren im Land war, und Grell, Grill, das verwechselt man schon mal.

Wie auch immer: Bald schon, da fanden Giselas Eltern ein Mittel, ihr Töchterchen zu kalmieren: Nämlich mit Zuckerln und Spielzeug. Und Gisela lernte rasch. Sie lernte auch, dass man ein Mittel nicht überstrapazieren darf, wenn es wirksam bleiben soll. Somit schrie Gisela nur noch selten so grell, dass der halbe Gemeindebau aus den Federn fiel.

Auch in der Schule, da lernte Gisela schnell.

Und wer glaubt, dass sie dauernd störte: Oh nein!

Jedenfalls nicht dauernd. Nur, wenn es passte. Ihr. Oder auch anderen. So wurde sie prompt Klassensprecherin. Niemand störte, wenn sie sprach. Niemand sprach, wenn sie die Stimme erhob. Das mied man besser.

Sie meldete sich aber auch sonst zu Wort.

Im Unterricht. In allen Fächern. Ganz normal. Normal für ihre Verhältnisse, heißt das. Nicht gerade grell, aber nie sagte wer ›Lauter, Gisela!‹

Niemals!

Die Lehrer liebten sie. Meistens. Gisela konnte man immer fragen, selbst wenn keiner aufzeigte. Sie wusste immer was zu sagen. Klar, oft war es Unsinn, aber, so sagte man ihr: Besser was Falsches sagen als gar nichts!

In der Schule, da lernte Gisela wirklich was fürs Leben: Grell, das sind nicht nur Töne, nein, grell können auch Farben sein.

Grelles Grün, grelles Blau, grelles Rot. Besser noch: Grelles Gelb. Beim Zeichnen und Malen, da mochten die anderen Schüler Farben mischen, doch nicht Gisela: Stets nahm sie nur die reinen Farben.

Wie Gisela mit der Schule fertig war, da war ihr auch klar, was sie machen wollte: Kunst! Irgendwas mit Kunst!

Auch an der Universität, da lief es gut für Gisela. Schon im ersten Semester bekam sie ein Stipendium. Dazu verfasste ihr ein Kommilitone etwas theoretisches Zeugs zu dem Zeugs, das Gisela anfangs produzierte, von wegen Reinheit der Farbe, Berufung auf den Pointilismus, so etwas halt. Denn anfangs, da benutzte Gisela weiter die unvermischten Grundfarben. Auch ihren echten Vornamen benutzte sie noch, aber das änderte sich bald: Und zwar mit der Entdeckung dessen, was als ‚Grellweiß’ bekannt werden sollte.

Aber der Reihe nach.

Von einem Chemiker – dem Cousin jenes Kommilitonen –, da hörte Gisela von einem Farbstoff, der Weißer als Weiß sein soll, der mehr Licht ausstrahle, als er absorbiert, bis zu 30 Prozent mehr.

Unmöglich, sagen Sie?

Was meinen Sie, wie Ihre Waschmittel funktionieren?

Wie Ihre Gardinen Weißer als Weiß werden?

Weißmacher, das ist das Zauberwort! Die machen aus Ultraviolett sichtbares Licht.

Ist also nichts Neues. Neu war, dass dies auch bei normaler Farbe funktionierte, Farbe, die man wie üblich verarbeiten konnte, mit Pinsel, Rolle, Spachtel und Spray.

Dies, das wusste Gisela gleich, war genau ihr Ding. Und dank eines Anwalts – ein Nachbar jenes Cousins ihres Kommilitonen –, da gelang ihr der Coup: Für den Bereich der Bildenden Kunst erhielt sie einen Exklusiv-Vertrag: Sie und nur sie durfte da diese Farbe nutzen, ein Weiß, das ‚Grellweiß’ getauft ward. Und bei der Gelegenheit, da wurde Gisela zu Griselda, mit Eintrag im Ausweis und allem.

Dies war gefundenes Fressen für die Presse, und Griselda gab ihr, was sie wollte: Kuriose Fotos, schrille Stories, schräge Interviews, grelle Geschichten eben.

So ward ›die grelle Griselda‹ geboren. Von einer Designerin – der Freundin jenes Nachbarn des Cousins ihres Kommilitonen – bekam sie Klamotten auf den Leib geschneidert, alles in Grellweiß. Griselda erwog gar, ihre schwarzen Haare platinblond zu färben, aber ihr Friseur – der Bruder jener Freundin des Nachbarn des Cousins ihres Kommilitonen – riet ihr ab. So begnügte sie sich einer Sonnenbrille, in Schwarz, wenn auch nicht in Vantablack.

Natürlich setzte Griselda ihr Grellweiß ein, wo immer sie konnte. Sie wechselte zu grellweißen Installationen, bevorzugt aus Objekten, die vorher Schwarz waren: Alte Pneus, Vinyl-Platten, Smokings, Unterhaltungselektronik, ganze Klaviere. Auch dafür verfasste ihr jener Kommilitone theoretische Texte; schließlich muss man irgendwas neben die Werke schreiben.

Am liebsten aber trug Griselda diese Texte selbst vor, in Interviews, auf Ausstellungen, immer in Grellweiß gestylt, immer sehr selbstsicher, wenn auch mit inhaltlichen Abschweifungen, die viele befremdeten. Aber gute Stories gab es allemal ab.

Griselda merkte natürlich, dass sie gut ankam. So ging sie dazu über, Auftritte auch unabhängig von ihrer Kunst anzusetzen. Bei Happenings, bei Demos, bei Poetry Slams, in Talkshows. Stets lieferte sie eine Show ab, nicht immer eine gute, doch eine wirkungsvolle allemal, eine, die in Erinnerung blieb.

Eh klar, dass bald Agenten auf Griseldas Auftritte aufmerksam wurden. Speziell einer, nämlich der Vater jenes Bruders der Freundin des Nachbarn des Cousins ihres Kommilitonen – der übrigens nicht auch der Vater der Freundin des Nachbarn des Cousins ihres Kommilitonen war. Denn der Bruder, der war eigentlich ein Halbbruder.

Wie auch immer: Er – der Agent also –, der vermittelte Griselda den Kontakt zu einem Manager – seinem Golfpartner –, und der verschaffte ihr erste Auftritte, ließ ihr Songs und Videos auf den Leib schreiben, die Griseldas Organ und Erscheinung erst so recht zur Geltung brachten.

Das schlug ein. Wie eine Bombe. Eine grellweiße Bombe.

„Sie lässt Britney Spears und Lady Gaga bieder wirken“ hieß es. Rasch war ein Slogan geboren: „Grell, greller, Griselda.“

Dank ihres Managers stiegen Griseldas Gagen, stiegen die Preise für ihre Kunst um das Zehn- und Hundertfache. Ihre Alben stürmten die Charts, Alben, alle natürlich mit grellweißen Covern, die das ›White Album‹ blass aussehen ließen. Kurz, Griselda scheffelte Geld, richtig Geld.

Natürlich kam es, wie es kommen musste: Schon bei ihrem dritten Album, da hieß es, es sei unoriginell, allzu kommerziell, und die Kunstkritiker bemängelten, dass sie sich bei ihren Installationen nur noch selbst kopiere. Da konnte Griselda nur grinsen: Genau genommen, kopierten mehrere, bescheiden bezahlte Kunststudenten für sie.

Irgendwann, da schlug ihr Manager vor, dass Griselda auch als Schauspielerin arbeiten könne; er habe schon das eine oder andere Angebot. Griselda ließ sich das durch den Kopf gehen.

Damit stand sie vor der Wahl:

  1. Sie konnte versuchen, sich weiter zu steigern, bis ihr Publikum sie nicht mehr sehen, nicht mehr hören konnte und wollte.
  2. Sie konnte sich wiederholen, bis die Kopie von der Kopie von der Kopie immer blasser wurde, bis sie irgendwann tot von der Bühne fiel.
  3. Sie konnte versuchen, sich neu zu erfinden, sich ein neues Image zu verschaffen.
  4. Sie konnte Schluss machen. Klar, sie war erst knapp über Dreißig, aber sie hatte ihr Geld gut angelegt, dank ihres Anlageberaters, übrigens ein Parteifreund jenes Golfpartners des Vater vom Halbbruder der Freundin des Nachbarn des Cousins ihres Kommilitonen. Jedenfalls konnte sie bequem vom Kapital leben.

Griselda entschied sich für letztere Option.

Sie machte Schluss.

Mit der ihr eigenen Konsequenz: Keine Kunst mehr, keine Auftritte, kein grelles Scheinwerferlicht mehr, keine grellen Töne.

Was aus ihr wurde, wollt ihr wissen?

Falsche Frage!

Hier gibt’s kein Fadeout, sondern einen harten Schnitt.

Ende.

Olaf Lahayne

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freiTEXT | Kerstin Meixner

…dann kriecht man eben

Am Eingang des Friedhofs: Plötzliche Kindheitserinnerungen. Gedankenstakkato. Die erste Woche an einer neuen Schule und die damit verbundene Einsamkeit. Ein Junge auf dem Gipfel eines Schuttberges, der zu weiteren Kindern an dessen Fuß herabspricht. Assoziation des erwachsenen Ichs: Als habe er uns in eine Revolution führen wollen. Damals, mit neun Jahren: Noch kein Wissen über Aufstände. Blankes Staunen über den da oben. Das Gefühl der unter den eigenen Händen und Füßen herabgleitenden Trümmer ist wieder da. Der verbissene Wettkampf darum, den steilen Gipfel der gesprengten Lagerhalle zu erreichen, die aufgeschüttet vor ihnen liegt. Links und rechts die Schatten von Gleichaltrigen, die es ebenfalls versuchen. Er selbst noch hartnäckiger und unnachgiebiger ringend als sie, denn er ist neu in der Siedlung und verspürt in sich den Drang, sich vor den anderen behaupten zu müssen. Vielleicht ist es das beständige Knirschen der kleinen Steine, die auf dem Friedhofsweg ausgesät sind, unter seinen Schuhen, das ihn zurück an jenen Ort bringt.

Hendrik war damals nicht sofort mit ihnen losgerannt, als sie beschlossen hatten, den Berg zu stürmen. In einem gleichgültigen Trab war er ihnen auf das Fabrikgelände gefolgt und hatte vom Fuß des Hanges aus gelassen ihre fruchtlosen Versuche beobachtet, gegen die Trümmerteile anzukämpfen, die ihnen auf allen Seiten entgegenrutschten. Nach und nach hatten sie alle aufgegeben. Als letztes auch er selbst. Und plötzlich hatte Hendrik doch Anlauf genommen, sich auf der steilen Schräge merkwürdig flach auf alle Viere ausgestreckt und in dieser fast robbenden Haltung bald unter ihrem Jubel die Spitze des Schutthaufens erreicht. Später am Abend hatte er ihn gefragt, wie er es bis nach oben geschafft habe. Das erste Gespräch bester Freunde. »Wenn nichts mehr geht, dann kriecht man eben«, hatte Hendrik geantwortet. Mit schiefgelegtem Kopf.

Zwei Wochen später waren sie zum ersten Mal gemeinsam in Schwierigkeiten geraten. Sie hatten im Wald einen Stützpunkt für eine Bande errichten wollen, die zu gründen sie beabsichtigten. Hendrik hatte darauf bestanden, dass dieser nur perfekt sein würde, wenn sie ihn mit einigen Trümmerteilen vom alten Fabrikgelände ausstatteten. Dort jedoch hatte sie der neue Wachmann des Grundstücks erwischt und sofort zur Rede gestellt. Ob sein Freund wirklich nicht gewusst hatte, dass man auch Müll nicht einfach mitnehmen durfte, hatte er nie erfahren. Man hatte bei Hendrik überhaupt nie so genau gewusst, wo dessen Geschichten endeten und die Wahrheit begann.

Schon am Abend waren sie allen Warnungen zum Trotz wieder an der Fabrik gewesen. Das Hoftor war fest verschlossen und er selbst wäre sofort wieder nach Hause gegangen, aber Hendrik war, seinem Lebensmotto treu, so lange um das Gelände herumgeschlichen, bis er eine Stelle gefunden hatte, an der er unter dem Zaun hindurchkriechen konnte, wenn er sich nur eifrig genug bemühte. Als ihn der strenge Wächter am darauffolgenden Tag zu den fehlenden Stücken befragte, hatte sein bester Freund nur unschuldig zu diesem aufgeschaut und gesagt, er hätte die Schuttstücke wohl gerne haben mögen, doch die Mauern seien leider zu hoch für ihn gewesen.

Die Erinnerungen haben ihn über den Hauptweg des Friedhofs bis zu einer Abzweigung begleitet. Abschnitt B, Gang 3, Reihe III. Wie der Geheimcode für eine Bande, die es an ihrem Stützpunkt nie gegeben hatte. Stattdessen: Verbrannte Schulbenachrichtigungen. Blutsbrüderschaft. Freie Nachmittage. Vormittage auch. Irgendwann Mädchen. Streit darum sowieso, aber man kann vieles teilen. Heimat unter einem flachen Dach aus Trümmerteilen. Dann waren sie ihr entwachsen.

Gemeinsam beendeten sie die Schule und während er selbst seinen Zivildienst in einem der Altenheime der Stadt ableistete, entschied Hendrik sich für die Bundeswehr. Er hatte den Freund nicht verstehen können, aber Hendrik hatte nur gelacht und gesagt, dass man es dem deutschen Heer kaum vorenthalten dürfe, den weltbesten Durch-den-Dreck-Kriecher endlich persönlich kennenzulernen. Es war seit ihrem neunten Lebensjahr das erste Mal gewesen, dass sie nicht mehr in der gleichen Siedlung gelebt hatten und es hatte auch keine Rückkehr mehr zu diesem Status gegeben. Als der andere zwei Jahre später endgültig aus der Kaserne zurückgekehrt war, hatte er selbst schon zusammen mit seiner damaligen Freundin in der nächstgelegenen Großstadt gewohnt. Die Zeit des Teilens war vorbeigewesen. In mehr als einer Hinsicht. Einmal noch hatte Hendrik ihn abgeholt und sie waren gemeinsam heimlich in das alte Fabrikgelände eingestiegen, doch das Hindurchkriechen unter Zäunen hatte für ihn als angehenden Studenten den Reiz verloren gehabt. Auch Hendrik hatte bald darauf seine Taschen gepackt und sein Talent, auch dort noch weiterzukriechen, wo der Verstand einem sagte, dass nichts mehr zu erreichen sei, in der Welt erprobt. »Für den Sommer«, hatte er gesagt und war doch nur noch zu Weihnachten oder runden Geburtstagen in die Heimat zurückgekehrt und stets innerhalb von einer Woche wieder verschwunden. Umso überraschter war er daher im vergangenen Jahr gewesen, als Hendrik ihn kurz nach Neujahr angerufen und gefragt hatte, ob er ihn ins Krankenhaus fahren könne. Er hatte sofort zugesagt und war wartend auf dem Gang geblieben. Warum, das wusste er bis heute nicht. Niemand hatte ihn darum gebeten. Mit ernsten Gesichtern hatten zwei Ärzte ihren Patienten aus dem Behandlungszimmer begleitet. Auch, ob die Diagnose dieses Tages für Hendrik wirklich eine Neuigkeit gewesen war, gehörte zu den Dingen, bei denen er nicht sicher war, wo die Wahrheit begann und dessen Geschichten endeten.

Sie hatten noch einmal ihre alte Hütte im Wald besucht. Sie waren unter den fast eingestürzten Wänden hindurch in das Innere des Unterschlupfs gekrochen und hatten den Nachmittag weitestgehend schweigend verbracht, bis Hendrik plötzlich gefragt hatte, ob wohl der Wachmann von damals noch lebe und ob sie ihm nicht die Trümmerteile zurückbringen wollten. Tatsächlich hatten sie den Mann in ihrer alten Siedlung wiedergefunden. »Ich habe immer gewusst, dass du das warst«, hatte er nüchtern festgestellt und ausgesehen, als habe er in diesem Moment eine Art Frieden mit dem Freund geschlossen. Drei Wochen später war Hendrik gestorben.

Die letzten Meter sind die schwersten. Keine Kindheitserinnerungen mehr, stattdessen Erinnerungen an die Beerdigung. Er hatte den Sarg tragen wollen, aber es nicht gekonnt. Er hatte zur Andacht gehen wollen, aber nicht gewusst wie. Schließlich war er doch gegangen und am Rand geblieben.

Der Weg ist jetzt fremd. Zu selten hier gewesen. Verdrängung funktioniert so sehr, dass man Besuche am Grab vergisst. Rückkehr nur an besonderen Tagen. Stärkeres Vermissen des Jugendfreundes, als des Mannes, der gestorben ist. Diffuse Schuldgefühle. Noch einmal nur: Verbrannte Schulbenachrichtigungen, Blutsbrüderschaft, Heimat unter Trümmerteilen und irgendwann Mädchen - - Aber man kann nicht zu den freien Nachmittagen zurück. Zu den Vormittagen auch nicht.

Am Grab steht Hendriks Großmutter und versucht, mit ihrem Gehstock etwas am oberen Ende der Fläche zu erreichen. Sie erkennt ihn sofort. Unter der dichten Hecke liegt ein ausgebranntes Grablicht, das wohl der Wind dorthin geweht haben muss. Er bietet seine Hilfe an, sie nickt. Er betritt mit einem langen Schritt vorsichtig die vom Regen der vergangenen Nacht noch leicht rutschige Steinplatte in der Mitte der rechteckigen Ruhestätte. Von hier versucht er aus der Hocke heraus, die umgestürzte Kerze zu erreichen, aber es gelingt ihm nicht, also lässt er sich vorsichtig weiter auf seine Knie nieder und streckt sich merkwürdig flach über das Grab aus, bis er den kleinen, roten Plastikzylinder an der Hecke erreicht hat. Sein Hemd streift die feuchte Erde und als er sich wieder aufrichtet und vorsichtig die kleinen, schwarzen Klümpchen von seiner Brust abklopft, sieht er Hendriks Großmutter entschuldigend an. Die alte Dame aber nimmt ihm lächelnd die ausgebrannte Kerze aus der Hand und sagt: »Wenn nichts mehr geht, dann kriecht man eben.« Sie legt dabei den Kopf schief.

Kerstin Meixner

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freiTEXT | Carina Plinke

Druck nach Unten/ Trixi

„Ey Trixi, du siehst so geil aus. Du leuchtest richtig. Ich glaub, wenn du frei bist, schillerst du am meisten.“

Ich lächel und nicke, versinke in den merkwürdig aufdringlichen Farben, im Beat. Wir stehen mitten auf der Tanzfläche und unsere nassgeschwitzte Haut berührt sich. Unangenehm. Sie fasst mir mit der Hand an den Hinterkopf, als ob sie mir einen Kuss aufzwingen wollen würde. Sie kommt so nah an mich heran, dass ich sie riechen muss, und hören, weil die Musik ja sonst zu laut ist. Ich muss sie hören.

„Du bist so eine, dich muss man immer freilassen, ne? Bloß nicht festhalten,“ und während sie das sagt, rutscht sie mir mit ihrer Hand in den Nacken.

„Sag mal Trixi, wieso hast du überhaupt n`Kind bekommen?“

Mein Körper bewegt sich nicht mehr. „N`Kind?“

Ich zucke die Schultern: „Keine Ahnung!“

Ich will doch bloß tanzen. Warum fragt sie überhaupt, was geht sie das an?

„Druck nach unten. Seit der Geburt meiner Tochter habe ich immer so einen Druck nach unten.“

Die Therapeutin schaut mich nachdenklich an und fragt dann:

„Hast du dich jemals gefragt, ob du dein Kind liebst?“

„Nein, ich mein, ist doch klar, dass man sein Kind liebt! Der Druck kommt von der Gebärmutter.“

„Warst du mal beim Arzt?“

„Nein. Ich mag keine Ärzte“

Ich lehne mich übers Waschbecken und bilde mir ein, dass eine Spinne über meine Hand läuft, dabei war es vermutlich nur ein Schatten. Oder ein Haar. Oder eine Spinne. „Sandra, hast du die Spinne gesehen?“

„Was für ne Spinne, Trixi?“

„Ach, keine!“

„Lass mal was zu trinken holen!“

„Ne, ich glaub ich habe genug. Ich glaub, ich fahr gleich nach Hause!“, während ich das sage, sehe ich schon wieder diese kleine Spinne. Diesmal auf der anderen Hand. Sie ist so klein und flink, ich kann sie nicht im Auge behalten.

„Trixi, du hast endlich mal Ausgang. Ziad wird sich schon gut um die Kleine kümmern. Ich hol uns was. Du brauchst das!“ Du. Brauchst. Das. Was? Wirklich?

Sie schiebt mich an die Bar.

Ich schaue auf die Uhr, es ist drei. Um drei wird Mia meistens wach und will zu uns ins Bett. Um sechs will sie Frühstück. Das sind bloß noch drei Stunden.

Sandra schiebt mir nen Wodka zu.

„Habt ihr schon mal als Familie Urlaub gemacht?“

„Nein!“

„Warum?“

„Kein Geld!“

„Was macht dein Mann?“

„Er ist neu in Deutschland, er arbeitet nicht!“

„Fehlt dir das?“

„Dass er arbeitet? Manchmal fehlt es mir, dass sich jemand um mich kümmert, also finanziell! Ziad kümmert sich hervorragend um mich und Mia.“

„Gibt es denn kulturelle Differenzen?“

„Nein, bei Ziad und mir ist alles in Ordnung. Bloß...“

„Ja?“

„Manchmal fehlt er mir so... ohne Mia!“

Wir stehen wieder auf der Tanzfläche. Die Welt ist ad absurdum geführt, unter dem Alkohol keine Welt mehr, sondern ein Traum, einer ohne Mia und Ziad. Sie fehlen mir n` bisschen, aber der Typ hinter mir gefällt mir ganz gut, er legt mir die Hand um die Hüfte, zieht mich an sich heran. Seine Hand gleitet bis zwischen meine Beine, mitten auf der Tanzfläche. So was hätte ich auch betrunken früher nicht gemacht. Aber ich will den Mann. Jetzt und sofort. Ich mach das. Wir treffen uns auf der Toilette.

„Ich habe mal einen Text zu deiner Frage geschrieben.“

„Zu welcher Frage?“

„Ob ich meine Tochter liebe! Soll ich ihn vorlesen?“

„Gerne!“

„Als du vor einem Jahr geboren wurdest, lagst du vor mir und ich wusste nicht, wer du bist. Dabei wusste ich das, als du in meinem Bauch warst noch ganz genau, da habe ich dich noch gespürt, dich berührt, du warst mit mir, in mir. Ich war so verliebt in dich.

Bei der Geburt stellte ich mir nur noch die Frage: Was zur Hölle ist das? Über die Schmerzen hat man ja schon viel gehört. Aber das sind keine Schmerzen, das ist die Hölle. Irgendwann stieg ich aus. Die Schmerzen zu stark, fern ab von der Realität. Ich wollte mich verabschieden, von der Realität, in eine Zwischenwelt. Irgendwo da, wo ich mich nicht mehr spüre, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe. Da habe ich dich aber auch nicht mehr gespürt und da bin ich geblieben. Da bin ich immer noch. Ich spüre dich nicht. Ich spüre Mia nicht. Aber da ist trotzdem Liebe und die ist unendlich groß und es hört sich verrückt an, aber die Liebe macht mir die größten Vorwürfe. Als würde sie mir zurufen: Ich bin da, warum spürst du mich bloß nicht? Warum liebst du sie nicht genau so, wie du sie in deinem Bauch geliebt hast?“

„Trixi, das auf deiner Hand vorhin war keine Spinne, das war ne Motte, auf der Toilette sind ganz viele kleine Motten.“ Motten? Motten mögen das Licht. Ich auch! Ich vermisse das Licht, ich vermisse die Sonne. Aber ich habe nie Zeit mich zu sonnen. Zu viel Sonne ist nicht gut für Mia. Ich geh zurück auf die Toilette und schlage alle Motten tot. Schlage sie tot und schreie. Ich schlage um mich und schreie und schreie und schwitze und ich will sie doch lieben aber ich kann nicht weil ich mein altes Leben zurück will das schreie ich und sie kommen und stehen im Türrahmen dieser Clubtoilette und starren mich an wie eine Wahnsinnige was ist denn mit der die ist ja verrückt hat wohl zu viel gesoffen so schmeißt sie doch endlich raus raus mit ihr.

Das Krankenhauslicht ist so kalt geworden. Ich kann nicht mehr. Ich habe keine Kraft mehr. Sie muss endlich raus, holt sie zur Hölle aus mir heraus.

„Ziad?“

„Yes my dear!“

„What you think? What if Mia never existed? Would we still be lovers?“

Carina Plinke

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freiTEXT | Stefanie Schweizer

Nachts gehen die Lichter aus

Ein Auto fährt vorbei und wir drehen uns zu den Feldern in die Dunkelheit. David steckt die Kappe wieder auf den Filzstift. Er grinst und klopft auf das Metallschild mit dem Ortsnamen darauf. Sofie und ich legen den Kopf schief. Nee. Was nee, fragt David. Ja das funktioniert nicht. Noch ein Auto kommt und wir wenden uns wieder ab. Das ist halt nicht witzig, sage ich. Hanna hat Recht, mit Möckmühl geht das nicht so richtig. Aber man muss doch nur das c streichen, sagt David. Und das k. Und ein s einfügen. Und ein e. Oh. Merkste selbst? David nickt und Sofie steckt sich eine Zigarette in den Mund. In ihrer hohlen Hand explodieren kleine Funken.


David kommt in den Laden und trägt eine Kiste Kartoffeln. Ich nicke und er stellt sie auf die Theke. Ich krame unter dem Tresen herum, nehme eine Rolle Münzgeld und schlage sie in die Kassenschale. Tick, Trick und Track haben was geschickt, sagt Hannes und zieht einen Zettel aus dem Blaumann hervor, war heute Morgen am Fendt. Ich hebe den Kopf und lese: Wir sehen uns am Freitag beim Rettichfest – Chrissi, Simon, Lukas. Ich sehe David an. Das ganze Dorf geht zum Fest, natürlich sehen wir uns da. Was soll denn das für eine Drohung sein? David zuckt mit den Schultern.


Sofie und ich hängen unsere Badeanzüge an einen der Haken unter der Ablage. Die Dusche ist warm und ich tauche mit dem Gesicht unter. Die Frau vom Hins kommt rein und stellt sich unter die andere Brause. Grüß Gott. Ich verdrehe die Augen. Hallo, sagt Sofie. Tut schon gut, gell? Was, frage ich und blinzle durch den Schaum. Tut gut! Sofie nimmt ihr Handtuch und trocknet sich ab. Mädlen? Sofie und ich tauschen einen Blick und ich nehme mein Handtuch. Reist euch am Freitag mal zusammen, sagt die Hins, wir wollen nicht so einen Ärger wie letztes Mal. Sofie salutiert und wir gehen.


Wir liegen auf dem warmen Feldweg und sehen uns die Sterne an. Der Mais steht hoch und das Land ist knochentrocken. Ab und zu explodiert ein Korn im Kolben. Warum eigentlich, frage ich. Was, fragt Sofie. Das mit Tick, Trick und Track. Ist bestimmt so ein Familienfehdeding, sagt David, bestimmt haben sich schon unsere Ureltern gehasst. Ich hasse die nicht, sage ich. Vielleicht sind wir mit denen sogar verwandt, sagt Sofie. David richtet sich auf. Auf gar keinen Fall! Keiner von uns ist so ein scheiß Angeber, oh ich bin es, der Lukas, ich habe einen neuen Rasenmäher bla bla. Ich sehe Sofie an und wir grinsen.


Es trommelt an den Rollladen vor meinem Fenster und ich fahre im Bett hoch. Ich ziehe den Laden nach oben und mir schlägt Blaulicht ins Gesicht. Ich muss die Augen schließen. Mein Cousin rückt die Uniform zu Recht und nickt auf den Wagen hinter sich. Was dieses Mal, frage ich und winke David und Sofie zu. Einbruch, Diebstahl eines Aufsitzmähers, Zerstörung eines Aufsitzmähers. Ich ziehe die Augenbrauen nach oben. Du kannst froh sein, dass ich Dienst habe. Ich nicke und hole die beiden aus dem Wagen.


Der Löhneberger trägt sogar seinen Feuerwehrhut und der Dachser sieht sich um. Die beiden stehen auf dem Platz vom Rettichfest. Das Gras, das ist viel zu trocken, sagt der Löhneberger und schrubbt mit dem Schuh auf der Erde herum. Das muss man bewässern. Spinnst du? Das kostet einen Arsch voll Geld. Der Löhneberger fasst sich an den Hut und der Dachser verdreht die Augen. Und wenn es morgen noch regnet, fragt der Dachser. Dann muss man nicht bewässern. Der Dachser zieht ein paar Scheine aus seiner Hosentasche und steckt sie dem Löhneberger vorne an den Hut.


Chrissi, Simon und Lukas schieben sich zwischen den Bierbänken hindurch zu uns. Das ist unser Bierstand, sagt Chrissi. Sei nicht albern. Es gibt hier nur einen, sage ich. Und das ist unserer. Und das steht wo, sagt Sofie und lässt ihre Gabel sinken. Simon tritt an sie heran und ihre Nasenspitzen berühren sich beinahe. Sofie schmiert Simon den Rettich ins Gesicht und stößt ihn weg. Luka zieht nochmal an seiner Zigarette, schnippt sie weg und verpasst David eine. Ich packe Chrissi. Er packt mich an den Haaren, lässt aber sofort wieder los. Es riecht nach Gas. Ein Schlag ist zu hören und das Wellblechdach der Bierbude fliegt hoch in die Luft.


Der Bierstand ist komplett ausgebrannt. Das Gras zieht einen Kreis aus Feuer um die Bierbänke. Ein Funke hat das Dach des Grillhäuschens entzündet und ein paar Männer zerren die Gasflaschen heraus. Eine Stichflamme schießt brennende Fettpfützen auf die Bierbänke davor. Die Leuchtgirlande darüber brennt durch, schwingt wie eine Liane herunter und setzt den Baum in Brand. Es surrt und aus dem Stromkasten sprühen Funken. Die Preise der Schießbude schmelzen in sich zusammen. Plastik und Bratwurst liegt in der Luft.

Stefanie Schweizer

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freiTEXT | Markus Streichardt

Provisorium

K., der gerade ins Taxi gestiegen ist, sieht einen Mann auf sich zukommen und dann mit den Fingerknöcheln gegen die Autoscheibe klopfen. Er fragt ungläubig: „Ist er das?“, und noch ehe K. antworten kann, brüllt er lauter: „Ja, das ist er! Das ist er!“ K. starrt regungslos in das entsetzte Gesicht, starrt in zwei stecknadelgroße Pupillen und einen weit aufgerissenen Mund. Er zählt drei Plomben, ehe das Taxi losbraust.

K. dreht sich um und ist überrascht, wie viel Aufmerksamkeit der Zwischenfall verursacht hat. Passanten halten ihre Handys in seine Richtung, als würden sie Fotos machen, während der Mann, der ihn angeschrien hat, aufgeregt telefoniert.

Als das Taxi abbiegt, richtet K. den Blick wieder nach vorn und lässt sich tiefer in den Sitz fallen. Nimmt der Tag gar kein Ende?, fragt er sich genervt. Immer kommt mir was in die Quere. Erst die Flugverspätung und dann noch Schienenersatzverkehr am Bundesplatz. Zwei Busse für eine rappelvolle S-Bahn und das im Hochsommer, na geht’s noch?!? „Ja, aber ist gut für unser Geschäft“, antwortet der Taxifahrer, was K. irritiert. Habe ich laut gesprochen?

„Außer die Spinner steigen zu uns ins Taxi. Genau wegen denen hab‘ ich meine Schicht gewechselt. Nachts ist es nicht mehr auszuhalten in Berlin. Zu viele Verrückte“, flucht der Taxifahrer und fügt mit weicherer Stimme hinzu, „auch zu viel Elend.“ „Kommt das oft vor?“, fragt K. und erhofft sich Ablenkung. „Inzwischen jede Nacht. Früher is so ne Type mal am Wochenende aufjetaucht, hat nen bisschen Radau jemacht und war dann wieder wech. Kenn‘ mich da aus, weeß wovon ick rede. Bin Urberliner. Vor 56 Jahren hier jeeborn, aufjeewachsn und nie rausjehkommn, wie ick zusagen pflege.“ K. grinst und denkt, ich ja, ich bin rausgekommen und habe die weite Welt gesehen.

Wegen Sanierungsarbeiten verengt sich die Fahrbahn auf eine Spur. Der Verkehr stockt. Die Stille setzt K. zu. Er bittet, das Radio einzuschalten. Mit überdrehter Stimme kündigt der Moderator den nächsten Song an: A horse with no name von America. Die Musik erfüllt ihren Zweck und bildet ein angenehmes Hintergrundrauschen. Während K. im Viervierteltakt auf die Knie trommelt, beobachtet er, wie eine Walze langsam den aufgetragenen Asphalt der Fahrbahn verdichtet und zwei Bauerarbeiter mit Besen hinterher fegen. Mit diesem beruhigenden Bild vor Augen möchte er am liebsten einschlafen und den Tag vergessen.

Die Musik wird jäh unterbrochen: »Der aus der psychiatrischen Anstalt Entlaufende wurde zuletzt in einem Taxi auf der Bundesallee Richtung Friedrich-Wilhelm-Platz gesehen. Die flüchtige Person ist ca. 1,85m groß und schlank. Die Haare sind schwarz und kurz geschnitten. Er hat inzwischen seine Kleidung gewechselt. Er trägt ein dunkelblaues Jackett und eine schwarze Hose. Wie er sich aus dem gesicherten Bereich der Psychiatrie befreien konnte, ist weiterhin ungeklärt …«

K. weiß, er ist gemeint. Die aufkommende Panik versucht er mit rationalen Argumenten kleinzuhalten. Die Personenbeschreibung trifft auf jeden x-beliebigen Mann zu, denkt er angestrengt, der 1,85m groß ist, bei C&A einkaufen geht und Sport treibt. Vor anderthalb Stunden bin ich erst in Tegel gelandet. Das lässt sich leicht nachprüfen und - verdammt, ich sitze hier nur wegen diesem blöden Schienenersatzverkehr. Der Rollkoffer!, fällt ihm schlagartig ein, niemand flieht mit einem Rollkoffer! Die Vorstellung, wie er den Polizisten verschwitzte Hemden und seinen Kulturbeutel vorführt, belustigt ihn. Sein Grinsen erstarrt aber zur Grimasse, als sich sein Blick mit dem des Taxifahrers im Rückspiegel trifft. K. will die Sache klarstellen, aber dann glaubt er, eine Bewegung des Fahrers zum Handschuhfach auszumachen. Er brüllt „STOPP!“, reißt im nächsten Moment die Tür auf und springt hinaus. Dann läuft er in die entgegengesetzte Richtung davon.

Ich muss auf die Nebenstraßen ausweichen, überlegt K. verzweifelt, bevor mich der Mob fängt und massakriert. Er versucht langsamer zu laufen, aber sobald er mehr als zwei Personen auf sich zukommen sieht, macht er kehrt und zieht das Tempo an. Unterwegs wirft er sein Jackett achtlos fort.

Er flieht in die Kleingartenkolonie „Sonnenbad“, rennt die verschlungenen Pfade entlang, solange bis er sich hinter einer dichten Hecke wiederfindet. Er hört sich laut atmen und presst beide Hände auf seinen Mund.

Nach einigen Minuten steht K. vorsichtig auf, blickt sich um. Er ist auf einem verlassenen Grundstück. Der Rasen ist stellenweise verbrannt. Dahlien, Nesseln, Zinnien und Sonnenhüte säumen den Weg zum Bungalow - ein in L-Form gehaltener Flachbau mit Holzverkleidung und überdachter Steinterrasse. Im Hintergrund stehen zwei Apfelbäume, groß und mächtig, deren Äste die Außenfassade der Gartenlaube streifen. Ein verwunschener Ort, denkt K., bis ihm der Geruch von Grillfleisch und Brennspiritus in die Nase steigt und ihn an die Wirklichkeit erinnert.

Er geht zum Bungalow und rüttelt an der Tür. Verschlossen. Unter der Gartenbank entdeckt er neben Wassereimern und angerosteten Gießkannen einen halbvollen Bierkasten. Die Flaschen sind alle leicht staubig. K. pfeift. Irgendwo findet sich bestimmt ein Zweitschlüssel, denkt er, und ich komme rein.

K. füllt einen Eimer mit kaltem Wasser und legt einige Bierflaschen hinein. Dann schlendert er durch den Garten, inspiziert die Gemüsebeete und macht aus einer Laune heraus den Rasensprenger an. Gebannt verfolgt er, wie die Düsen um ihre eigene Achse rotieren und Sprühwasser im hohen Bogen ausstoßen. Das rhythmische Klicken der Automatik vermischt sich mit Kindergeschrei in der Ferne.

Dann zieht er seine Kleidung aus. Ganz selbstverständlich erst Schuhe und Socken, dann Hose und Hemd.

Während K. im selbst geschaffenen Sommerregen steht, wird ihm klar, dass die Geschehnisse, die zu seiner Verwechslung geführt haben, problemlos rekonstruiert werden können. Ich weiß, wer ich bin, denkt er und die Anderen werden es auch.

Trotzdem stellt er sich vor, wie es wäre, sich hier eine Zeit lang zu verstecken. Ich würde die reifen Tomaten und Auberginen vom Schneckenbefall befreien und ernten. Ich würde mir den Bungalow gemütlich einrichten und jeden Abend ein Lagerfeuer machen. Ja, das würde ich. Vielleicht wäre es nur ein Leben im Provisorium, denkt er, aber dieses Leben täte mir zur Abwechslung gut.

Auf diese Aussicht gönnt sich K. das erste gekühlte Bier.

Markus Streichardt

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17 | Martin Peichl

Beim Wuzzeln sind wir dann eine Familie

Heimat ist dort, wo der Dialekt nah und frisch klingt, wo sich die Wörter wie Toastkäse auf deine Zunge legen, wo Gulasch ein Ersatz ist für Liebe, aber Liebe kein Ersatz für Gulasch.

Wo man dir mit LEGO beigebracht hat, wie leicht man Menschen zerlegen kann und sie trotzdem weiterlächeln. Dieses unheimliche Weiterlächeln der LEGO-Figuren, egal wohin man ihre Köpfe steckt!

Zerfranste Erinnerungen an gemeinsam Spieleabende. Die wichtige Regel: Uno und DKT gewinnt man, indem man nicht mitspielt.

Heimat ist dort, wo man am 25. Dezember die feine Balance finden muss zwischen den Vanillekipferln und Mini-Schaumrollen der Tante und den Bierflaschen, die dir dein Cousin hinstellt. Beim Wuzzeln sind wir dann eine Familie. Da werden sogar Eigentore verziehen.

Martin Peichl

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16 | Iseult Grandjean

Bericht aus Babylon

Tag vierhunderteinunddreißig

Es ist so windig hier, dass ich manchmal das Gefühl habe, mir werden die Gedanken aus dem Gehirn gerissen. Dagegen kann man nichts tun, man kann sie ja nicht festhalten, so wie man Strafen nur abzahlen und Sehnsucht nicht ausbremsen kann, und deshalb warte ich dann. Ich warte und schlafe, ich mache ein paar Kniebeugen, um nicht den Kopf zu verlieren, und putze mein Gewehr. An windstillen Tagen laufe ich mit dem Gewehr im Arm durch die trockene Landschaft und streichle meine Waffe wie die Schultern einer alten Affäre. Am Anfang habe ich mich noch gewundert, wieso ich überhaupt ein Gewehr habe – aber dann habe ich getan, was jedem Menschen ein laufendes Leben gewährt und mich einfach daran gewöhnt. Das kalte Silber des Laufes fühlt sich an wie ein Fisch, der durch meine Finger gleitet; oder als schwömmen sie selbst, durch einen See aus flüssigem Metall. Was ist schon ein Ozean – und was eine machtlose Metapher? Inzwischen stelle ich keine Fragen mehr: Ich bin ein Soldat. Und ich berichte von der Front.  Als ich meinen Job hier angefangen habe, hat mir keiner erklärt, worin meine Arbeit eigentlich besteht. Aufpassen sollte ich, dass nichts aus den Fugen gerät und „den Laden sauber halten“. Ich wusste nicht genau, was damit gemeint war, und deshalb reinige ich jetzt jeden Tag mein Gewehr, obwohl ich es in den vierhunderteinunddreißig Tagen meiner Amtszeit noch nie gebraucht habe. Ich arbeite allein; das macht die Tage oft lang, aber anscheinend ist es unerlässlich, dass ich keinen Partner an meiner Seite habe und mir niemand reinredet. Manchmal bin ich mir unsicher, ob sie überhaupt wissen, dass ich keine blasse Ahnung habe, was ich überhaupt sagen und in was mir dementsprechend reingeredet werden könnte, und dass ich den Großteil meiner Zeit damit verbringe, mit meinem Gewehr im Arm auf und ab zu laufen und auf die feine Linie zu starren, die einem Horizont gleicht, aber wahrscheinlich eher so etwas ist wie die Oberleitung einer weit entfernten Bahnstation.  Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der nicht dieser Krieg herrschte. Ich kenne die Welt nur so: der Horizont verleimt von Bahnhöfen, Plakaten, Schildern, bitte aussteigen, bitte trinken, bitte kaufen, bitte konsumieren, aber bitte – kein Müll. Abfall gilt hier als Teufel im System eines falschen Minimalismus (gegründet auf Exzess und seiner Überforderung), denn Plastik und Öl verstopfen heimlich Waldärme und verkleben die Wirtschaft. Als wäre alles nur eine Frage des Stoffs. Doch der eigentliche Unrat, der wirkliche Feind, ist unmöglich zu treffen, denn er ist überall, er liegt in der Luft, hängt in Gardinen und klebt an Wänden, klettert in Ritzen und wächst auf den Bäumen. Er verbreitet sich durch die Zeitung und das Fernsehen, gebiert auf Kaffeetischen und in Krankenhäusern, befruchtet Ehebetten. Wahlplakate, Slogans, Parolen, Hashtags, Nachrichten, Informationen, Fake News; Worte zum Erklären, zum Überzeugen, zum Verführen. Es wirbt um jeden, bietet sich allen an und dient doch keinem außer sich selbst. Es ist Schaf und Wolf in Einem, Bauer und König, Hure und Diktator. Ich kann mich nicht erinnern: an eine Zeit vor der Diktatur des Wortes. Es kommt Gott so nah wie niemand zuvor, fast kann es seinen strengen Atem riechen. Und vielleicht wird es eines Tages sogar sein Mörder.

Tag vierhunderteinunddreißig, später

Deshalb sitze ich jetzt hier also im Wind, seit vierhunderteinunddreißig Tagen, und kratze mich am Arm. Vom dauernden Kontakt mit dem Metall des Gewehres hat er sich an der Ellenbogenbeuge innen entzündet. Ich beobachte die schuppig nässende Haut der Wunde wie ein Wissenschaftler oder ein Archäologe, mit wachsendem Interesse und gleichzeitig zärtlicher Gleichgültigkeit. Seit Wochen habe ich keine Nachricht mehr aus der Zentrale bekommen, keine Anweisung, kein Wort, aber dafür umso mehr Zeit zum Nachdenken; die Stille ist ungewöhnlich, seit der Informationsfluss versiegte. Außer dem verdammten Zug, der durch diese Einöde jagt, der durch keine Bäume und keine Häuserwände aufgehalten wird und dem sich nichts entgegenstellt, ist der Raum, in dem ich arbeite, leer. Und so langsam bekomme ich das Gefühl, dass das auch genau so gewollt ist. Von oben. Wer ist dort oben? Eigentlich gibt es keine Obrigkeiten mehr, das war ja einst die züngelnde Verlockung: Demokratie durch das Wort. Kollektive Wahrheitsfindung und jeder darf mitreden, Silben als Währung, jeder kann sich bedienen, ist genug für alle da. Aber allmählich entwickelte sich aus dieser kommunistischen Utopie ein Kapitalismus der Rhetoriker, der Texter und Wortgewandten, der Lauten, und man versteht sich nicht mehr. Jetzt werfen wir uns die Sätze hin wie vergammeltes Fleisch und graben in den Ruinen von Babylon nach einer Wahrheit, die es so nie gegeben hat. Das Wort hat sich verselbstständigt, ist übermächtig geworden; inflationär. Es hat auf dem Weg zum Monopol all seine Macht verloren: Babel hat sich selbst zerstreut.

Tag vierhundertzweiunddreißig

Heute habe ich zum ersten Mal mein Gewehr fallen lassen. Ich hatte beschlossen, mein Gebiet näher zu untersuchen. Irgendwelche Ergebnisse müsste ich doch nach Hause bringen, dachte ich panisch beim Aufstehen. Ein paar Daten, eine Handvoll aussagekräftige Erde, zumindest einen Bericht, ein Körnchen Wahrheit? Es kommt mir seltsam genug vor, Soldat zu sein, direkt an der Front, und nie auf den Feind zu treffen. Nur Himmel und Erde strukturieren mein Feld, getrennt durch diese eine feine Linie, die immer den Anschein macht, als wäre es möglich, sie zu überschreiten. Außer dem Wind, der manchmal leise pfeift und mir sonst geräuschlos über den Körper fährt, höre ich nichts. Die Stille ist ohrenbetäubend.  Ja, der große Knall, als meine Waffe auf die frostharte Erde stieß, war vielleicht das erste Geräusch seit Beginn meiner Dienstzeit. Als ich mich bückte, um es aufzuheben, fiel mir auf, dass der Boden unter mir von feinen Rissen durchzogen wurde, Linien, die mich an die Aufzeichnungen eines Seismographen oder eines EKG erinnerten. Erst dann wurde mir klar, wie symptomatisch diese Vergleiche für unseren Zustand sind, die wir am Wort kranken: Wie wir uns mit der Zeit angewöhnt haben, Ausdruck auf Ausdruck zu schichten und zu stapeln, Metaphern übereinander zu ziehen wie Kleidung an einem kalten Wintertag, als hätten wir Angst, ohne die schützende Speckschicht der Worte plötzlich allein im Wind zu stehen, zitternd und nackt. Ich sah mich um: Mich fror tatsächlich.

Tag vierhundertdreiunddreißig

Meine Felduntersuchung konnte also letzten Endes ziemlich schnell – und zugegeben recht stümperhaft – durchgeführt werden, und das lag nicht nur daran, dass mir immer kälter wurde und der silbrige Frost der Flinte meine Finger steif werden ließ, mein Blick wanderte von einem unbestimmten Punkt bis zum nächst denkbaren, irgendwo im Hintergrund meinte ich den Grundriss eines Baumes zu erkennen, ich notierte: Der Raum ist leer. Jetzt, wo ich es zum ersten Mal ausgesprochen habe, wird mir erst das Ausmaß dieses sprachlichen Hohlraums bewusst; überall lockte mich sonst immer etwas mit krummen Fingern, mal war es ein Schriftzug, mal eine Rede, manchmal auch nur ein einziger Satz, der ein Parteiprogramm oder das Patent einer Liebesfähigkeit beschwor, im Grunde ist jedes Wort, auch das private, nur noch Werbung, Reklame für die eigene Wahrheit in der Wahlurne eines anderen. Wir halten uns an Worten nicht mehr fest – wir hängen uns an ihnen auf. Davon ist in diesem Raum nichts mehr, nichts verhindert, dass sich mein Blick nach innen richtet. Ich blicke auf mein Gewehr, unbenutzt seit vierhunderteinunddreißig Tagen. Die kleine Öffnung im Lauf starrt schweigend zurück. Bin ich, in der Uniform eines Soldaten, endlich frei? Doch Freiheit, das merke ich ziemlich schnell, ist verunsichernd. Wir haben lieber falsche Wahrheiten als Ungenauigkeiten, lieber Fake News als sokratische Apologie. Diesen Krieg haben wir also selbst verschuldet, das Wort war immer nur Beihelfer: Es versucht Gefühle in Gedanken zu übersetzen, zwängt Vages in Gewissheiten, ja, es arbeitet ohne Skrupel – aber wir haben die Fäden in der Hand. Haben wir den Laut erst domestiziert, und dann vergewaltigt? So zogen wir damals der Musik den Strick der Sprache um die Kehle und seitdem verstopfen wir uns mit hohlen Phrasen den Hals. Man drückt den Menschen ein Instrument in die Hand, und für einen kurzen Moment fühlen sie sich frei; dann gehören sie ihrer Waffe. Ich stelle mir vor, dass die Welt vor dem Wort ähnlich dalag wie mein Gebiet: Weit und schweigsam, wie eine offene Wunde.

Tag vierhundertfünfunddreißig

Stattdessen dieser Krieg, und wir mittendrin. Sie holen mich jetzt zurück, gestern habe ich es erfahren. Anscheinend ist mein Job hier erledigt. Ich bin inzwischen überzeugt: Das war kein richtiger Einsatz. Vierhundertfünfunddreißig Tage und kein einziges Mal habe ich meine Waffe benutzt. Und doch war ich Soldat, direkt an der Front: Ich arbeitete als Späher und Steuer in der Stirn, stationiert am vorderen Ende der linken Großhirnhemisphäre eines so hungrigen wie maßlos übersättigten, eines freien und dabei unendlich verlorenen, kurz eines ganz gewöhnlichen Menschen. Ich sollte die Wahrheit ausmessen und in einem detaillierten Frontbericht aufschreiben. Was wollt ihr jetzt von mir hören? Ich habe nicht viel herausgefunden, außer dass man ein Gewehr am besten mit Öl und etwas lauwarmen Wasser wäscht und dass es keine Wahrheit gibt, sondern nur unendlich viele Übersetzungen davon. Ich notiere einen letzten Satz in mein Notizbuch: Sprache ist ein Schlachtfeld. Dann setze ich mich hin und warte.  Bald kommen sie mich holen. Es weht wieder wie am ersten Tag, mein Ausschlag ist noch nicht ganz verheilt und brennt im Wind. Ich atme in den Schmerz und vergesse mein Gewehr. Der Krieg wird wahrscheinlich weitergeführt, jedes Haupt an seiner eigenen Front, aber ich will dieses semantische Fressen nicht mehr, ich habe es satt und einen Beschluss gefasst, es ist ein Versprechen – und ich werde es halten: Das ist mein letztes Wort.

Iseult Grandjean

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14 | Nils Langhans

Il Postino

Es war ungefähr 20 Uhr, ich aß eine in Küchenrolle gewickelte Salsiccia, einige grobe Fettstücke verfingen sich zwischen meinen Backenzähnen, es roch eigentümlicherweise nach Marzipan, und einen halben Meter neben mir starb eine Taube. Sie kauerte, ein Flügel stand schräg aus ihrem Gefieder heraus, gebrochen, ihr Kopf kreiste, kreiste immer langsamer. Es war windstill. Ich stieß auf. Unter ihrem Körper breiteten sich jetzt einige Tropfen Blut aus, kaum eine Lache, höchstens ein größerer Fleck, den spätestens der nächste Regen hinwegwaschen würde. Noch immer roch es nach Marzipan. Die Taube atmete schwer, Versuch eines Aufbäumens, doch keinen Zentimeter wollte die Schwerkraft weichen, der Körper längst zu schwach. Ich blieb bei ihr, biss in die Salsiccia, kaute und versuchte mit meiner Zunge, das Fett aus den Zahnzwischenräumen zu entfernen. Die Taube gurrte, ich warf ihr das letzte Stück Wurst vor die Füße, keine Regung, noch zwei Atemzüge, und es war geschehen. Sie fiel geräuschlos in sich zusammen. Ich zündete eine Zigarette an und schaute auf das Meer, die See war ruhig, sie schimmerte preußenblau, kein Marzipan mehr in der Luft, stattdessen Kindergeschrei in der Ferne, ich blickte hinab und zu meinen Füßen setzen sich die ersten Fliegen auf die glasigen Augen der Taube.

Später am Abend saß ich in Annas und Viviannas Wohnung, kostete einige Schokoladenplätzchen und trank ein Peroni aus der Flasche. Viviannas Großeltern, die inzwischen zu uns gestoßen waren, empfahlen mir, Il Postino anzuschauen, den berühmten Film. Ich nickte. Vivianna war in etwa so alt wie ich, doch uns unterschied, dass sie schiefe Zähne hatte und ihr Zahnfleisch so künstlich, so gedunsen aussah, so als trüge sie eine Vollprothese, hellrosa, wie ein Babyschwein. Einmal sei sie in Miami gewesen, weil sie ein 6-Monats-Arbeitsvisum gewonnen hatte. Da habe sie in einem Geschäft Sonnenbrillen verkauft und Englisch gelernt. In Miami sei alles so groß gewesen, und erst recht in New York. Ich kaute und Vivianna bot mir weitere Kekse an. Ihre Mutter lugte unter ihrer Brille zu mir herüber, im Fernsehen lief ein Fußballspiel, die Großeltern saßen auf einem Sofa, starrten in den Fernseher und hielten einander die Hand, und ich dachte wie schön es wäre für immer hierzubleiben, Vivianna zu heiraten, zur Marine zu gehen, eines Tages würde ich ihr von meinem Lohn eine Zahnkorrektur spendieren, und in 50 Jahren würde ich auf Procida sterben und das Letzte, was ich hören würde, wäre die Kirchglocke schräg gegenüber, während ich in meinem Schaukelstuhl mit einem Glas Limoncello in der Hand einschlafe.  Plötzlich sagte Vivianna, dass es morgen regnen solle. Kurz darauf verabschiedete ich mich.

Auf dem Balkon lockerte ich den Tabak in einer der starken American-Spirit-Filterzigaretten. Dem Tabakfachgeschäft waren die Lights ausgegangen, sodass ich unweigerlich die stärkeren American Spirit kaufen musste, deren hellblaue Kartonage mir jedoch ausgezeichnet gefiel. Die Kirchglocke läutete ein paar Mal. Nach dem sechsten Gong hörte ich auf mitzuzählen. Ein einzelner Wassertropfen fiel auf meine rechte Schulter. Morgen würde es regnen.  Später ging ich noch einmal auf den Balkon, lockerte noch einmal den Tabak einer American-Spirit-Filterzigarette und entzündete ihn. Wieder läutete die Kirchglocke. Diesmal fing ich erst gar nicht an mitzuzählen. Ein weiterer Wassertropfen fiel auf meine Schulter. Es war so langweilig, dass es schon fast wieder langweilig war. In der Nacht versuchte ich Il Postino, den berühmten Film, auf einer Streamingseite anzuschauen, doch die Internetverbindung war außerordentlich schlecht. Ich schlief zu dem Standbild der Titelsequenz ein und träumte von frittiertem Brokkoli. Am nächsten Morgen fühlte ich mich äußerst ausgeschlafen.

„Als ich in deinem Alter war, Anfang der Achtziger war das, da bin ich einmal nach Stockholm geflogen, weil ich so verrückt nach Peter Weiss war“, erklärte mir der ältere Herr, der das Nachbarappartement bewohnte, während ich zum Frühstück ein Glas Orangensaft auf dem Balkon trank. Er verständigte sich in jenem Sprachgewirr aus Italienisch und Englisch, das entstand, wenn man einen Neapolitaner für ein halbes Leben in die klinische Sterilität Londons verpflanzte. Ich betrachtete seine fleischige Nase, die porige Haut, auf der die roten geplatzten Äderchen wie Wegmarken einer geheimnisvollen Schatzkarte erschienen, und er sagte, dass es damals ja noch kein Internet gegeben habe, damals, als er Peter Weiss in Stockholm gesucht hat.

„Aber ich wusste, dass er da wohnt. Das hatte ich rausgefunden. Und dann bin ich nach Stockholm geflogen und habe ihn fünf Tage lang gesucht. Fünf Tage, weißt du, fünf verdammte Tage. Peter Weiss war damals mein Gott, ich habe alles gelesen, wirklich alles, am besten war Marat/Sade, und ich wollte ihn unbedingt treffen. Fünf Tage habe ich ihn gesucht, fünf Tage, aber ich habe ihn einfach nicht gefunden.“ Sein weißes, kurzgeschorenes Haar gab ihm die Aura eines alternden Schneelöwen, der nach Ewigkeiten im Exil zum Lebensabend wieder in gewohntem Lande unter seinesgleichen ist, und ich hatte das Bedürfnis ihm mit meiner Hand über seine roten Wangen zu streichen und ihm ins Ohr zu flüstern, dass ich verstünde, dass es wohl eine Zeit gegeben hat, in der das Leben gut zu ihm war. Er pellte eine Orange und sagte mit vollem Mund, dass Warten auf Godot inzwischen sein Lieblingsstück sei. Seine Tochter rief aus dem Appartement in schaurigem Oxford-Englisch „Daaaaad?“, er häutete ungerührt eine zweite Orange, steckte sich ein Stück in den Mund und reagierte nicht, bis sie schließlich nach zwei weiteren Daaaaads herauskam und ihn nach der Sonnenmilch fragte. Er schob das Weiße der Orangen zu einem Haufen zusammen, sagte zusammenhangslos „Ach, Peter Weiss“, seufzte dann, seine Tochter kullerte mit den Augen und nasalierte „He’s always doing that“ in meine Richtung, bevor sie über die Balkontür wieder ins Appartement verschwand.

Es regnete den ganzen Tag über nicht. Nach dem Mittagessen ging ich zum Strand. Auf der Straße hinab zur Bucht spielten zwei Jungen mit Wasserpistolen. Dem Kleineren der beiden fehlte ein Schneidezahn.  Im Strandcafé bestellte ich Espresso und hörte dem Kellner zu, der mir erklärte, dass genau hier Il Postino, der berühmte Film, gedreht worden sei, und dass es später regnen solle. Anschließend schlief ich für eine Stunde in der Sonne.

Unweit des Strands – ich war bereits auf dem Rückweg – hingen an einer Mauer einige Käfige mit Wellensittichen, daneben ein Preisschild: 35 Euro. Ich betrachtete die Vögel und hörte ihrem leisen Piepsen zu. Eine junge Frau kam aus dem Geschäft gegenüber und erkundigte sich, ob ich einen der Wellensittiche kaufen wolle. Ich nickte. Sie öffnete den mir nächsten Käfig, nahm meine Hand und bedeutete mir, den Vogel zu berühren. Ich zog die Hand zurück und raunte ihr ein strenges „No!“ entgegen. Sie zuckte mit den Schultern und fragte, ob ich zusätzlich noch einen Käfig benötige. Ich verneinte, sie verschwand wieder in das Geschäft auf der gegenüberliegenden Seite, eilte dann mit einem ReebokSchuhkarton in der Hand zurück, öffnete den Käfig, lockte den Wellensittich mit einem Brotkrumen in den Karton, verschloss ihn und drückte ihn mir in die Hand. Ich bezahlte 35 Euro. Die anderen Vögel piepsten jetzt etwas lauter. Ich bog mit dem Karton in eine Seitengasse ein, der Vogel klopfte gegen die Pappe, ich streichelte über das leicht exponierte ReebokEmblem an der Oberseite der Schachtel, öffnete den Deckel und ließ den Wellensittich wegfliegen. Den Karton schmiss ich auf die Straße.

Gegen Nachmittag saß ich wieder auf dem Balkon. Ich trug ein Leinenhemd von Valentino, die Sonne brannte auf meinen Unterarmen und Vivianna reichte mir ein gefrorenes Glas mit selbstgemachtem Lakritzlikör, der kotbraun schimmerte. Ich probierte einen Schluck, Vivianna lächelte, ging zurück in ihr Appartement und ich goss den restlichen Likör in einen Blumenkasten. Er versickerte äußerst langsam in der ausgetrockneten Erde.  Die Rollläden des Nachbarappartements waren verschlossen. Auf dem Balkontisch lag noch immer der kleine Haufen mit dem Weißen der beiden Orangen. Ich ging in mein Appartement, legte mich bäuchlings auf mein Bett und schlief kurze Zeit später ein. Etwa zwei Stunden später wachte ich von den bittersüßen Lakritzablagerungen in meinem Zahnfleisch auf. Im Nebenzimmer lief SOS von ABBA und draußen vor der Tür schlug jemand mit einem Hammer monoton gegen eine Wand. Ich ging ins Bad und suchte in meiner Kosmetiktasche nach einer Tablette, nach irgendeiner Tablette.

Im Hafen von Marina Corricella las ich die Speisekarte eines Restaurants, das Il Postino sul Mare hieß, und der herbeieilende Kellner sagte zunächst, dass das Restaurant wegen des Films so heiße. Il Postino, der berühmte Film. Anschließend fragte er mich, ob ich etwas essen möchte. Ich nickte. Auf seinem T-Shirt stand Fashionman und ich bestellte Gnocchi alla Sorrentina.  Am Nebentisch aß ein Ehepaar schweigend ein Dessert. Die Frau trug ihre Haare mit einer großen Haarklammer zusammengekniffen, vermutlich, um ihren Spliss zu kaschieren, und ihrem Mann fiel das dünne Haar über die Stirn hinweg aus. Ein buschiger Schnauzbart thronte als letzte Bastion einstigen Testosterons über seiner wurstigen Lippe. Er trug ein Trikot des 1.FC Nürnberg.  Der Kellner mit dem Fashionman-T-Shirt verabschiedete sie kurz darauf mit Handschlag, blickte der Frau ganz tief durch ihre randlosen, nicht entspiegelten Brillengläser in die milchigen Augen und hauchte ihr ein „Signora, Grazie Mille“ entgegen. Sie lächelte unbeholfen, hakte sich bei ihrem Mann unter, er legte seine Hand auf ihren Po und sie entschwanden in eine Nacht, in der sie den deutschen Traum von Italien träumten. Sie und alle anderen glaubten die Geschichte der grün-weiß-roten Flaggen, des sonoren Singsangs, des überkandidelten Charmes, die Geschichte von Ferrari, Pizza und Pasta, sie glaubten so gerne, dass alles eins war, was blieb ihnen auch anderes übrig als zu glauben, zu glauben an die Illusion Italien, an den Kunststaat, der nie ein Staat sein wollte, an das Schelmenstück Garibaldis. Insbesondere in den Wintermonaten tröstete es die Deutschen, dass es Italien gab, und spät am Abend nach getaner Arbeit wälzten die Mitvierziger die Alltourskataloge, stießen mit einem Glas Chianti, den der Vater für 3,99 EUR bei den italienischen Wochen eines großen Discounters erstanden hatte, auf den anstehenden Sommerurlaub in der Toskana an, und später hatten sie noch drei oder vier Minuten Sex in der Missionarsstellung, das erste Mal seit drei Wochen. Danach glitten sie unter der Last ihrer zerborstenen Existenz in den Schlaf und träumten den deutschen Traum von Italien.

Inzwischen hatte es angefangen zu regnen. In der Ferne blitzte es und der Donner hallte einige Sekunden später über den Fischerhafen von Marina Corricella. Vivianna hatte Recht behalten. Das Wasser platschte vom Rand des Sonnenschirms in zapfengroßen Tropfen auf die weiße Tischdecke, schwemmte sie auf und der nasse Baumwollstoff glich einem adipösen Damenbauch, so wie er kleine, geschwulstartige Falten warf. Die Gäste rannten unter das Vordach, die Kellner sammelten eilig das Geschirr ein und zurrten die im Wind wankenden Schirme fest. Es blitzte taghell. Ich blieb sitzen und starrte in den Regen, der auf die Fischerboote prasselte. Die Lampe unter dem Sonnenschirm wog sich quietschend im Gewitterwind und ich trank einen Schluck Aperol Spritz, der inzwischen wässrig schmeckte. Ein Junge stellte sich in einem Verschlag rechts des Restaurants unter. Er hatte blaue Augen, daran erinnere ich mich genau.  Schließlich ging ich in das Restaurant und ließ mir ein Tiramisu bringen. Es war kreisrund, mit Kakaopulver bestreut und leicht rechts der Mitte auf einem viereckigen Teller platziert. Es schmeckte unaufdringlich. An der Wand gegenüber hingen gedruckte Filmausschnitte von Il Postino in sargbraunen Rahmen. Il Postino, der berühmte Film.

In der Nacht stand ich draußen auf dem Balkon und rauchte. Die Kirchglocke läutete zwei Mal. Neben meinem Aschenbecher kopulierten zwei Nacktschnecken, die der Regen angelockt hatte. Die Wolken zogen in kleinen Häppchen am Mond vorbei und es sah aus als würden sie mir eine Fratze schneiden.

Nils Langhans

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11 | Verena Ullmann

FortuneTeller

Du glaubst nicht an Zufälle, du glaubst an das Schicksal. Er findet das lächerlich. Noch nicht einmal sein Horoskop darfst du ihm vorlesen. Natürlich bist du nicht so naiv, das alles wörtlich zu nehmen. Sonst hättest du, die Jungfrau, ihn, den Fisch gleich wieder abgewimmelt. Das wäre schade gewesen, denn inzwischen habt ihr es euch so schön eingerichtet in eurem Aquarium.
Klug wie du bist, liest du das Horoskop vielmehr wie einen Wetterbericht. Da die Wolken nun mal ihre Launen haben, geht es vor allem darum, draußen die Augen offen zu halten.

Heute schenkt dir der Chinese mit der Rechnung einen Glückskeks. Nicht rein zufällig, nein. Wie du an seinem Lächeln siehst und an dem kleinen Zwinkern des Schicksals in seinen Augen, ist dieser nur für dich bestimmt und verspricht dir – schwarz auf weiß – Reichtum.

Erst fragst du dich, ob du gleich beim Kiosk vorne einen Lottoschein ausfüllen sollst. Aber das wäre zu einfach und leichtsinnig unverschämt dieser rätselhaften Macht gegenüber. Als du aus dem Restaurant spazierst, verdunkelt sich plötzlich der Himmel und vertreibt die Freude aus deinem Gesicht. Was wenn du erbst? Wenn jemand stirbt? Oma? Dein Vater? Du wirfst den Streifen Papier mit deinen negativen Gedanken in den nächsten Mülleimer, bevor das Schicksal sie bemerkt.

An der Ecke vor der Bushaltestelle zieht schließlich etwas deinen Blick auf sich. Ein Pappkarton. Er ist schon aufgeweicht, der Krempel darin lieblos durchgewühlt und laut Zettel „zu verschenken“. Unter dem Plüschhund und dem Kabel eines wohl nicht mehr funktionstüchtigen Geräts schimmern Blümchen hervor. Sie tanzen im Kreis und spielen mit den Flocken, die gerade wieder anfangen vom Himmel zu fallen. Deine Augen hängen an den Goldrändern, aber du weißt, der Bus kommt gleich und außerdem beginnt der Schnee zu nerven. Du willst den Strauß pflücken und merkst dabei: darunter sind noch mehr davon, ein ganzer Stapel Kostbarkeiten! Darum ein Gummiband gewickelt, lächerlich instabil. Also gräbst du sie mitsamt den Wurzeln aus, um sie nicht zu trennen. Auf der Busfahrt scheppern sie ein leises „Danke“ und du erkennst, wie wunderschön sie sind.

Zuhause fragst du dich, wohin damit? Das Regal in der Küche ist voll mit Schlichtheit in Scheiben. Und dein Fisch wird dich sowieso fragen, was du da wieder für einen Kitsch angeschleppt hast. Also pflanzt du sie erst einmal auf den Esstisch, dort wo die Sonne Platz nimmt, wenn sie denn heute noch vorbeischaut, und fragst dich, was sie wohl wert sind. Auf der Unterseite des Tellerstapels steht in feiner Schrift „Versailles“ und innerlich triumphierst du schon, als wärst du rechtmäßige Erbin von Marie-Antoinettes Kuchenservice, so unwahrscheinlich dies auch sein mag.

Es hat aufgehört zu regnen und du trägst deinen neuen Schatz, bevor dein Fisch nach Hause kommt, zum Antiquar auf der anderen Straßenseite. Du hast dir extra fusselfreie Handschuhe angezogen und deine Hände darin zittern so vor Aufregung, dass du Angst hast, all die Blumenpracht auf den vier Metern Straße zu zerschmettern. Du setzt sie auf der Theke ab. Der
alte Mann mit der Brille macht nur leider all deine Vorsicht sofort zunichte: er grabscht sich das oberste Exemplar, lässt Licht darauf prallen und kratzt mit seinem Fingernagel sogar an der Oberfläche der Blütenblätter. Für die geheimnisvolle Inschrift hat er nur ein Stirnrunzeln übrig, dem ein abschätziges Lächeln folgt. Dann verschwindet er wortlos in den Nebenraum. Mit so einer Unverschämtheit hast du an deinem Glückstag nicht gerechnet. Deine Aufregung schlägt in Wut um und du bist kurz davor zu gehen, bevor du überhaupt seine Meinung gehört hast. Allein wie inkompetent er sie begutachtet hat! Wie soll er so ihren wahren Wert erkennen?

Da erblickst du, zwischen Theke und Tür, ein Glitzern. Die Sonne ist zurück und spielt auf der Klinge eines Dolches, der in einer offenen Schatulle ruht, als wolle sie dir ein Zeichen geben. Als der Mann zurückkommt, hast du den verzierten Griff schon fest in deiner rechten Hand hinter deinem Rücken. Wie erwartet erklärt er, dass er dir für den wertlosen Krempel kein Geld geben kann. Da musst du ihm natürlich widersprechen. Mit der Spitze des Dolches kratzt du an seiner Kehle und er legt dir, mit einer Behutsamkeit, die du ihm nicht zugetraut hast, den Kasseninhalt auf die Theke. Etwas über Zweihundert Euro sind es nur.

Unter Reichtum hast du dir etwas anderes vorgestellt, aber für Diskussionen bleibt keine Zeit und leider hast du keine Tasche bei dir, um weitere Kostbarkeiten einzupacken. Also greifst du das Geld mit deinen Handschuhen, lässt den Dolch fallen, die Teller stehen, rennst nach draußen und traust dich erst wieder in dein Aquarium zurück, als es erneut zu schneien beginnt. Dass zwischen dem dritten und dem vierten Teller, dem vierten und dem fünften, sowie dem fünften und dem sechsten weitere Geldscheine eingeklemmt waren, insgesamt weitaus mehr als zweihundert Euro, das wirst du erst von den Polizeibeamten erfahren, die – zusammen mit deinem zappeligen Fisch – schon am Esstisch auf dich warten.

Verena Ullmann

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