Ihr Schreiben von gestern ist gegenstandslos

Mir ist gestern beim Schreiben doch tatsächlich mein Gegenstand verloren gegangen. Als ich mich an den Schreibtisch setzen wollte, war er noch da, aber dann war er auf einmal weg. Wie weggeblasen.

Ich habe noch ein wenig herumgekramt, bis in die entferntesten Winkel des Gehirns gestöbert. Ohne Erfolg. Andere längst verschollene Sachen sind zutage getreten. Aber nicht das, worüber ich hatte schreiben wollen. So läuft es immer. Du suchst etwas und was anderes tritt an seine Stelle. Mit realen Dingen ist es ebenso. Du suchst deine Bahncard und andere längst vergessene Sachen treten zutage: ein verrosteter Nagel, ein leerer Labellostift oder eine Arbeitsbescheinigung, die dir vor zwei Jahren abhanden gekommen war und die du mühsam beim Arbeitgeber hattest wieder einholen müssen, wegen der Steuer. So ging es immer. Als wäre ein Plan dahinter.

Ich hätte noch ewig nachdenken können, sicher wären noch andere vergessene Ideen aufgetaucht. Fakt war, dass dieser gewisse Gegenstand, über den ich heute unbedingt hatte schreiben wollen, verschollen blieb. Wie ausradiert.
Bloß nicht suchen, das sei der beste Trick, damit Verschwundenes wieder auftaucht, so hatte es mir meine Mutter beigebracht. Und die hatte das von ihrer Mutter.

Egalsein, sagte sie, ist Zauberwort bei jeder Sucherei. Du musst so tun, als ob es dir komplett egal ist. Schreib dir das hinter die Ohren, Dotscha.

Natürlich sagte sie nicht genau das, sondern etwas wie: Bind dir das gefälligst auf deinen Schnurrbart, Dotscha.
Die Redewendungen wurden bei uns noch immer frei aus dem Russischen übersetzt. Und diese mit dem Schnurrbart schien aus einer sehr alten Zeit zu stammen, als die Mushiks noch prächtige Bärte trugen.
Überhaupt war der Umgang mit Sprachbildern in unserer Familie eher kreativ. Wenn etwas erstaunlich war, standen wir davor wie die Kuh vorm neuen Tor. Bei uns waren auch überall Tretmühlen versteckt, wir wurden abwechselnd übern Kamm gekehrt oder über den Tisch gehauen. Vielleicht hatte diese Art, Dinge zu überlisten auch etwas mit unserer Herkunft zu tun? Der Trick, nicht nur Menschen, sondern Dinge bewusst zu schneiden, damit sie nervös wurden und dir hinterherliefen. Willst du was finden, hör auf zu suchen. Gab es dieses Konzept auch im Westen?

Als ich klein war, habe ich mir folgendes darunter vorgestellt: Dinge wollen verborgen bleiben, sie sind wie kleine Kinder. Spielen gern verstecken und freuen sich diebisch, wenn sie nicht gefunden werden. Tust du dagegen so, als würden sie dich nicht im Geringsten interessieren, geben sie ihr Versteckspiel auf und kommen schmollend wieder hervor. Das gilt für Gegenstände wie für Gedanken. Mit der Zeit wird das, was wichtig war, eh wieder angeschwemmt, das ist der Lauf der Dinge. Oft geschieht das ganz unerwartet, in einem unbedachten Moment.
Am allerbesten sei es, so hatte es mir meine Mutter beigebracht, wie es ihre Mutter ihr immer gepredigt hatte, etwas komplett anderes zu tun, beispielsweise sich hinzulegen und zu schlafen. Na warte, denke ich und setze mich aufs Sofa, wirst schon sehen. Mir doch egal, wo du bleibst und ob ich später Lust habe, mich überhaupt mit dir zu befassen, mal sehen, wer von uns sturer ist.

Erst mal ein kleines Schläfschen. Plötzlich erinnere ich mich an dieses Wort. So hatten unsere Eltern das genannt, ein Schläf-s-chen machen, mit falschem s mitten im Wort. Sie hatten diese Art, Worte zu verdrehen oder auszuschmücken, sodass sie unabsichtlich niedlich wurden. Bei uns gab es Millich zum Frühstück oder ein Gast hatte eine Mitbring-Insel dabei und Ohrringe waren im besten Fall mit Steinen verzerrt.
Erst mal also ein Schläfschen halten? Wie lang war das her, dass ich das so gehört habe? Irgendwann, beim Aufwachen, werde ich mich schon daran erinnern, was ich schreiben wollte. Die prophetische Kraft der Träume. In der Antike gab es ganze Traumzentren, wohin Menschen sich zurückzogen, um zu träumen, sich zu heilen, wieder klarzukommen. Ein Retreat auf Delphi, das wärs jetzt.
In einem russischen Märchen schläft der Held auf einem warmen Ofen aus Ton, der den gesamten Raum der Hütte einnimmt und die Lösung kommt zu ihm wie von selbst. In einem anderen bittet die Froschprinzessin den Prinzen, sich keine Gedanken zu machen und sich schlafenzulegen. Der Morgen ist klüger als der Abend. Schlafen als Lösung eines Problems scheint mir ein eher östliches Konzept zu sein. Zu wenig protestantisch, zu wenig an einem alles bestimmenden Arbeitsethos orientiert. Busy busy bis zum Burnout ist doch die Devise. Wie heißt noch gleich dieser faulenzende Mensch in einem alten russischen Roman? Habs gleich, Oblomow. Ich schau kurz nach, und siehe da, es gibt mehrere Dutzend Synonyme für Nichtstuer im Russischen, einer davon Leshebok oder Lesheboka, also Lieg-auf-der-Seite. Das, was ich gerade mache.
Ich browse weiter, im Deutschen gibt es mehr als 150 Begriffe für Faulpelz. Gewonnen!
Zugegeben, die Lieg-auf-der-Seite-Methode führt nicht immer zum unmittelbaren Erfolg. Vor allem nicht sofort. Es kann Stunden dauern oder sogar Wochen oder Monate, bis der verschwundene Gegenstand sich bequemt, wieder ins Bewusstsein zu dringen. Die Dinge sind bekannt dafür, dass sie solche Spielchen gern in die Länge ziehen. Also musste ich das Spiel mitspielen, um den verfluchten Gegenstand zu reizen. Ich legte mich wieder hin. Vielleicht macht ihn meine mangelnde Aufmerksamkeit mürbe und er tritt zwischen den Falten der Erinnerung hervor? Bis dahin würde mein Schreiben eben gegenstandslos bleiben. Reine Deko. Wobei, Dekoration ist in ihrer Dreidimensionalität doch auch irgendwie gegenständlich. Oder etwa nicht? Während ich so liege, huscht unvermittelt eine wabernde Kontur vor meinem inneren Auge, na, gleich habe ich dich! Ach, doch nicht. Zu flüchtig.

 

Melitta L. Roth

 

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