Von Idealismus, Vielfalt, Diskussionen und Vernetzung - die mosaik-Lesereise 2017

Nach der famosen Reise durch Bayern 2015 und der ausgedehnten Tour durch Deutschland 2016 begaben wir uns erneut auf Roadtrip und packen Autorinnen und Autoren ein, um mit Ihnen den Westen, Osten und das Zentrum Deutschlands zu erobern: vom Literatur-Wohnzimmer zur Lesereihe, vom Kulturcafé zum Vernetzungstreffen - wir berichten.

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Vom Idealismus (Berlin)

"Ich habe das Gefühl, dass viele Leute der Aufwand, der dahintersteht, nicht bewusst ist." Anneke Lubkowitz (Sachen mit Woertern)

Wir begannen gleich mit einem Paukenschlag: gemeinsam mit Vertretern junger Berliner Literaturinititativen diskutierten wir über die Gegenwart und Zukunft eben dieser jungen Szene. Wie sieht die junge, zeitgenössische Literaturpräsentation aus? Welche Personen stehen dahinter? Welche Rolle spielt Idealismus. Und: Darf man erwarten, mit der Arbeit im Literaturbetrieb Geld verdienen zu können - oder soll man aufhören zu klagen?

WhatsApp Image 2016-10-25 at 10.08.19"Idealismus ist etwas, das den freien Literatursektor durchdringt. Das wirft die Frage auf, inwiefern man mit der eigenen Arbeit dieses Prekariat reproduziert." - Saskia Trebing (54stories)

"Die Frage ist nicht: Idealismus, ja oder nein? - sondern: Aus Idealismus folgt was?" - Malte Abraham (Kabeljau und Dorsch)

"Warum dieses Rumgejammere, dass der Literaturbetrieb nicht ordentlich bezahlt ist. Dann hört doch einfach auf!" - Jo Frank (Verlagshaus Berlin)

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Das sind Fragen, die auch in "Idealismus und Kulturpräkariat" angesprochen und thematisiert werden. Ähnlich wie im Buch wurde den Eindrücken der Initiativen ein Essay vorangestellt - Max Czollek führt kurz ein in die zeitgenössische deutschsprachige Lyrikszene.

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https://soundcloud.com/verlagshaus/max-czollek-zur-lage-der

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Den zerstreuenden Teil des Abends bildeten Lesungen von Tobias Roth aus Baiae und Rudi Nuss sowie eine szenische Lesung eines Textes von Lars Werner.

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Von der Vielfalt (Köln)

Am Donnerstag waren wir zu Gast bei der legendären Kölner Lesereihe Land in Sicht im Café Fleur. Helene Bukowski und Margarita Iov stellten sich mit ihren Texten dem Publikum vor, Alke Stachler präsentierte die brandneue dritte Auflage ihres Erstlings dünner ort, Sven Heuchert las aus Zweifel zwischen Zwieback. All das in der wahrscheinlich gemütlichsten Jugendstil-Kaffeehaus-Athmosphäre westlich von Wien.

 

 

 

Von Diskussionen (Frankfurt)

Frankfurt war ein Blindflug. So ganz genau wussten wir nicht, worauf wir uns bei "Undercover" einließen. Sollten wir auch nicht. Aber Martin, Robert, Yannis und das ganze Team des Salon Fluchtentier wusste, was sie taten. 4 Autor*innen wurden zum Battle geladen. Alke Stachler und Safak Saricicek gingen für das mosaik ins Rennen, Julia Mantel und Grit Krüger waren ihre Kontrahentinnen.

Nachdem sich jede*r mit eigenen Texten vorgestellt hatte, galt es einen favorisierten Text aus dem freiVERS vorzulesen. Dieser wurde dann vom Publikum live in seine Einzelteile zerlegt, analysiert, kritisiert und gelobt - wobei es durchaus hitzig werden konnte, Interpretationen aufeinanderprallten. Schließlich lieferten sich die Texte von Simone Scharbert, Moritz Gause und Jan Skudlarek ein Kopf-an-Kopf-Rennen...

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Von Vernetzung (Erfurt)

Am Anfang stand die Frage, ob wir auf unserer Lesereise wieder in Erfurt vorbeikommen dürften, nachdem es das letzte Mal so schön war. Dass wir damit eine einmalige Vernetzung der Literaturszene einer ganzen Region anstoßen, war uns nicht bewusst. Die vier jungen und aufstrebenden Initiativen Literaturfestival Erfurt, In guter Nachbarschaft, HANT - Magazin für Fotografie und hEFt - Magazin für Literatur, Stadt und Alltag nahmen sich unseren Besuch zum Anlass, sich auch intern stärker zu vernetzen und gestalteten den Abend in der Frau Korte gemeinsam. Mit dabei waren: Kinga Toth, Franziska Wilhelm, Franziska Ostermann und Alke Stachler. Michael Donth las und sang zum Abschluss Texte von Arno Schmidt.

Den ausführlichen Nachbericht aus Erfurt gibt es hier.

Alle Fotos der Lesereise findest du hier


 

Dem aufmerksamen Leser mag aufgefallen sein: Auf dem Tourplakat finden sich keine Logos von Fördergebern. Diese Reise findet außerhalb der Jahresförderung des mosaik statt und wird teilweise von den Gastgebern (Köln), teilweise privat (Berlin, Frankfurt, Erfurt) finanziert. Vielen Dank an Alke Stachler, alle Autor*innen und an alle unsere Freunde und Partnerinnen überall, die uns bei der Organisation und Umsetzung unterstützt haben. Ohne euch gäbe es keine mosaik-Lesereise.

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freiVERS | Werner Weimar-Mazur

boğaz

wir standen am ufer des bosporus
und blickten hinüber
in das gespiegelte land
dort aßen sie honig und tranken galle
leoparden säumten das ufer
autos hupten und Şirin winkte
einem albatros nach
der schatten seines flügels
streifte ihr gesicht
das wasser sang
und in den wellen verhallte
schüsse aus einem fernen gebirge
schnee fiel

Werner Weimar-Mazur

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freiTEXT | Cornelia Mayer

Neujahr

I.

Ich bin Nacht. Ich bin peitschender Regen, zehrende Kälte.
Ich bin ein windiges Wimmern, das klein und klumpig aus meiner Kehle fließt.
Ich bin ohne Gestern.

Mein Schatten, mein großer, kräftiger Beschützerschatten  hält inne. Nur kurz. Seine grobe Hand ist weich und warm auf meiner Wange. Seine Lippen formen irgendetwas, aber der Klang der Worte wird vom Rauschen eines Autos verschluckt. Irgendwo schreit ein Baby. Laut, viel zu laut. Er gibt mir einen zitternden Kuss auf die Wange. Dann gehen wir weiter. Jedes Mal, wenn ein Auto vorbeifährt, wird die Dunkelheit einen schmerzend blendenden Moment durchbrochen. Das stört mich kaum, das ist nicht schlimm.

Irgendwann schaut mich das schmale Gesicht meines Bruders nicht mehr von der schützenden Schulter herab an. Ihm sind die Augenlider zugefallen. Sein Kopf wippt auf und ab mit den Schritten unserer Mutter. Kurz wünsche ich mir, mein Vater würde mich auch tragen, mich vergraben in den sandigen Weiten seiner Jacke. Dann erinnere ich mich, dass seine Hand meine wärmt und das reicht mir.
Wir gehen weiter. Wie lang noch, wie lang noch, wie lang wie lang lang lang noch, denke ich nicht. Ich will es nicht denken.

Es ist so dunkel, dass ich meine Füße am Boden nicht mehr sehen kann. Das Gefühl darin habe ich auch verloren, sodass sie nur wie von selbst und ganz flattrig ihren Weg über die bleierne Straße finden. Vielleicht bin ich gar nicht da, wenn ich mich weder sehe noch fühle, denke ich. Aber ich höre mich, in meinem Kopf. Es ist laut.

Ab und zu drückt Vater meine Hand und es ist, als würde er mich, ein schwaches, kleines Blatt auf einem Fluss, damit anpusten. Meine Beine und Arme werden immer leerer, kälter und stumpfer, außer, wenn das kleine Drücken in der linken Hand ein bisschen Wärme verströmt. Ich habe kein Gefühl mehr für Zeit. Bevor ohrenbetäubend pulsierende Erinnerungen meinen Brustkorb enger schnüren können, suche ich fieberhaft nach etwas, an das ich denken kann. Ein paar Verse finden ihren Weg zu mir, Verse, die irgendwann vor all dem Jetzt im warmen Atem meines Vaters in mein Ohr geschlüpft sind.

Meine Manteltaschen sind mein Schrank, / mein Kopf ist eine Sternschnuppe.*

Ich weiß nicht, von wem das Gedicht ist, ich weiß auch nicht, wie es heißt. Ich weiß nur, dass mein Kopf auch brennt wie eine Sternschnuppe. Aber vielleicht bedeutet das auch, dass ich mir etwas wünschen darf.

 

II.

Ich bin Licht. Ich bin viele Augen, starrende Gesichter.
Ich bin eine Explosion, eine paukend laute, die nicht enden will - aber irgendetwas hat, etwas Zartes, Zerbrechliches, etwas Schönes.
Ich habe ein Morgen.

Meine Finger sind umhüllt von Vaters samtigen Händen. Wie ein Bett, Matratze unten und oben eine Decke. Mein Bruder hält die andere Hand, wendet seinen Kopf unablässig nach links und rechts, nimmt all die Menschen in Augenschein. Es ist Nacht, wieder Nacht. Ich bin so dankbar, sagt meine Mutter immer und immer wieder. So dankbar. Morgens trinken wir jetzt Milch aus einer Packung, deren Aufschrift ich nicht lesen kann. Mein Bruder lacht, wenn ich versuche, die abgedruckten Wörter auszusprechen. Vater kann das inzwischen ganz gut - ansonsten macht er auch nicht viel. "Warten", sagt er, wenn ich frage. Wir warten weiter. Wie lang noch, wie lang noch, wie lang wie lang lang lang noch. Hör auf, das zu denken, murmle ich mir selbst zu. Vielleicht ist Warten unser Leben. Warten ist besser als all das, was unser Gestern zerfressen hat.

Viele sind hier, die nur so alt sind wie ich. Mein Blick wandert durch die Menge, verharrt auf einem rothaarigen Mädchen mit dunklem Schal, der zu groß, zu erwachsen an ihm aussieht. Ein Paar grüner Augen schaut mich einen kleinen, fremden Moment nur an, wendet sich sofort wieder ab.

Mutter und Vater flüstern. Ihre Stimmen klingen flatternd und freudig, obwohl ich sie nicht verstehe. Heute geschieht etwas, das fällt mir jetzt erst wieder ein. Halbherzig summe ich irgendeine Melodie vor mich hin, während sich eine stumme Unruhe in mir ausbreitet. Da streift mich jemand vorne an meiner Jacke und als ich aufblicke, schaut mich ein Lächeln an. Ich lächle auch ein bisschen. Dann verschwinden das warme Gesicht und die buschigen Haare hinter uns in der Masse. Es ist die Frau, die uns schon dreimal gesagt hat, dass wir keine Angst haben müssen. Wie wenn man nach einem Alptraum aufwacht und jemand sagt, alles nur ein böser Traum, nur ein Traum. Dabei meinte sie es irgendwie anders.

Da ist es. Auf einmal, wie aus dem Nichts, erheben alle ihre Stimmen im Einklang. In verschiedenen Sprachen, glaube ich zumindest. Denn die vertrauten, arabischen Worte kann ich auch ausmachen. Sie zählen. Und dann fällt mir ein, worauf wir warten. Mit den ersten Feuerwerksraketen durchschneidet mein Schrei das Dunkel. Ich breche in Tränen aus.

Plötzlich ist die Frau mit dem Lächeln wieder da.
Sie wiederholt ihre Worte auf Englisch wie einen Gesang.
Vater hält beide meiner Hände.
Mein Kopf ist eine Sternschnuppe.
Keine Angst. Das Feuerwerk ist nicht gefährlich.
Du bist in Sicherheit.
Frohes neues Jahr.

Cornelia Mayer

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* Masri, Monzer: Träumerei (deutsche Übersetzung) aus: Âmâl schâqqa (Harte Hoffnungen) aus dem Zyklus: Gedichte aus der Tasche eines Khakimantels, 1978.


freiVERS | Angelica Seithe

 

Aufbruch der Stare

Als rühre man durch einen Korb
mit Körnern
und Spelzen flögen auf

Bis prasselnd sich der Baum entlaubt
Ein Netz aus Vögeln kreist
und fängt die Krone wieder ein

Noch dieses eine Mal
Dann ziehen sie fort
Das Jahr wird alt
In unsern Augen
sammeln sich die Stare
Graue Tücher zwischen
dir und  mir

Lass uns nach Süden schlafen
Lass uns einfallen
in die Verästelungen großer Ruhe
auf besonnten Plätzen
zwischen Haut und Meer

Angelica Seithe

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freiTEXT | Michael Wehrmann

Tabak am Bachwasser

Denkst, du bist so schlau, Papa. Stehe am Bach, habe mit feigen Fischen zu tun. Erzählst mir aber vom Tabakgeruch und deinen Tabakdosen. Halte meine Hand ins Bachwasser, sehe Fische drunter wegtreiben. Reicht ein Kieselstein, um Fischschwärme aufzuschrecken. Sind Unterwasserfeiglinge. Dein Geruch erreicht das Bachwasser, Holzgerüche, Minze, einige Harze, denkst, dass du so schlau bist, Papa, wie du alles weißt über Tabakanbau, Tabakgeschichte und Tabakdosen. Erzählst mir das alles, höre nicht hin, habe versucht, Schmetterlinge auf die Fische anzusetzen. Sehen fliegend aus wie deine Tabakdosen, wenn sie sich in der Luft auf- und zuklappen würden. Finde, die hören sich gefährlich an: Schmetterling. Hör‘ mal kurz zu, Papa, ist mir aufgefallen, dass die Bachwasseroberfläche sich bewegt. Können nicht drauf navigieren, diese Schmetterlinge, diese Schmetterdosen. Wurde mir klar, dass ich Libellen wegen der Fische anheuern muss. Sehen fliegend wie in der Luft stehende, eingefrorene Silberplättchen aus. Hören sich gefährlicher an: Li-bellen. Jetzt weht wieder dieser Geruch von hundert Hölzern, hundert Welten, am Bach, dort, wo ich stehe und ich assoziiere gerösteten Kakao. Bist ja so schlau, Papa, wie du alles weißt über Tabakwürze. Libellen heben jetzt ab. Fliegen in voller Flughöhe bewegungslos über dem Bach. Bleiben so, mitten in der Luft. Jetzt aggressiver Selbstmordsturzflug auf das Bachwasser hinunter, durchbrechen die Bachwasseroberflächen wie geworfene Speere. Dort, wo Libellen ins Bachwasser einbrechen, ragt ein Wasserspeer in die Luft, um sofort wieder in sich zusammenzufallen. Hast es nicht gesehen, Papa, hast erzählt und erzählt. Siehst auch nicht, wie ich jetzt Tabak ins Bachwasser treiben lasse. Werde die Libellen in den Tabakdosen bestatten.

Michael Wehrmann

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mosaik22 – alles ist abgekaut

mosaik22 – alles ist abgekaut

Intro

„Wir sitzen in der Sonne, trinken Kaffee und gucken vor uns hin. Es stinkt ein bisschen, weil jemand die staubige Elektroheizung für draußen angemacht hat, damit es warm wird. Warm war es schon vorher und es hat gut gerochen, jetzt nicht mehr.“

Matrosenhunde machen den Anfang einer ungewöhnlichen mosaik. Einer Ausgabe im Zwischenstadium. Im Aufbruch begriffen. Wir fragen uns – mehr als je zuvor: Was kann Literatur leisten? Was ist die Zukunft des geschriebenen Wortes? Wohin führt die Tradition des gedruckten und gebundenen Textes? „alles ist abgekaut hier.“ – Ronya Othmann spricht uns aus der Seele: „hol die wäsche rein, sonst wird sie alt.“

Das mosaik ist in einem Übergangsstadium. Die Redaktion wurde vergrößert, das Programm um Lesereihen, Workshops, Bücher und Online-Veröffentlichungen erweitert. Die Sensibilität für neue Ansätze ist da und eure Qualität in den Texten ist Ansporn für uns, qualitativ ebenbürtig zu arbeiten. Doch wo führt das alles hin?

Das wird unter anderem in der ersten Konferenz zeitgenössischer Literaturzeitschriften – klein & laut –  im Mai in Salzburg diskutiert. Wie bei Idealismus und Kulturpräkariat, der Studie zeitgenössischer Literaturprojekte, bereits herausgearbeitet wurde, führt auch hier der Weg hin zu mehr Zusammenarbeit, Vernetzung, gemeinsamer Aktionen.

„Literatur ist ein Raumschiff, das uns hilft, den trivialen Erscheinungen unserer Gesellschaft zu entkommen.“ – Pola Oloixarac

Der Blick nach außen wird wichtiger: BABEL holt diesmal Stimmen aus Slowenien und Estland in die uns bekannte Sprache und schickt vertraute Stimmen ins Italienische. Kai Hilbert holt im Gespräch mit der argentinischen Autorin Pola Oloixarac eine digitale Zukunft in ein analoges Jetzt. Und in den Texten der Autor*innen der fünften Geburtstagsfeier des mosaik wird die Fragilität der Worte der Gegenwart deutlich.

Doch was das alles zu bedeuten hat, das weiß Tibor Schneider:

„das magische. lyroplyrodon
hat gesprochen:
its all about. Porn“

.

mit:

Renate Aichinger, Carolyn Amann, Veronia Aschenbrenner, Petra Feigl, Sara Hauser, Alexander Kerber, Daniel Ketteler, Luca Kieser, Sascha Kokot, Cornel Köppel, Jonas Linnebank, Matrosenhunde, Ronya Othmann, Jessica Sabasch, Tibor Schneider, Sabine Schönfellner, Simon Stuhler, Chili Tomasson, Vasilis Varvaridis und Matthias Weglage

Übersetzungen von Texten von:
  • Uros Prah (aus dem Slowenischen)
  • Vesna Liponik (aus dem Slowenischen)
  • Margit Lohmus (aus dem Estnischen)
  • Asmus Trautsch (in das Italienische)
Mit Auszügen aus:
  • KulturKeule XXII – 5 Jahre mosaik
Buchbesprechung:
  • Alke Stachler:  Chronographe Chronologien I (hochroth) von Kenhah Cusanit
Interview:
  • Kai Hilbert mit Pola Oloixarac über ihren Roman „Kryptozän“
Kolumne
  • Peter.W. – Hanuschplatz
Kreativraum mit Sarah Oswald

freiVERS | Natascha Huber

Wenn du von Metren sprichst...

Meine Hand auf eine Antwort reduziert, das Durch-
schimmern einer Bewegung, die Finger nackt, dem
Abzählreim die Unschuld vom Leib
gerissen: So sortiere ich den Abend

vor deinem Blick. Ein Messer
rutscht über den Tisch und du schneidest Alles
in Form, bevor du es aussprichst. Der Winkel deines
Mundes ein deutlicher Buchstabe, ein Miss-

verständnis, das sich fassen lässt. Da ist eine wunde
Stelle zwischen uns, ein Semikolon.

Natascha Huber

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freiTEXT | Thordis Wolf

track I – III

3d hast du gesagt. wir sind bei a, b, c vorbeigelaufen, an dem alten mann mit dem sabbernden hund und dachten: das nächste haus muss es sein. die kleinstädeplanerin hat sich wohl einen scherz mit uns erlaubt und das alphabet einfach umgestellt. das wissen wir noch nicht und läuten bei tür nummer 44. hinter den restlichen klingelquadraten in schwarz-feinripp: namen. gut leserlich, weil: indirekt beleuchtet, einheitliches schriftbild. korrekte beschriftung ist die halbe miete wert, hat sich da wohl jemand gedacht und trotzdem etwas übersehen: 44 namenlos, also: winzige lamellen unter meiner fingerspitze. sandra sagt: sicher wegen den bullen kein name dran. oder wegen der gis: sage ich und läute gleich nochmal. du hörst bestimmt nichts, die anderen sind laut. kaltschnäuzig will der alte mann mit dem hund jetzt wissen: was habt ihr hier zu suchen? jedes recht: sagt sandra unerschrocken. das reicht dem alten. er zieht davon und seinen vierbeiner hinter sich her, schnauze am boden. unheimlich: sagt sandra als ich bemerke: e statt d. die städteplanerin lacht sich ins fäustchen (verschluck dich nicht!) und wir schleichen um die ecke zum nächsten quader. das licht geht an, wir stehen richtig. d gleicht e, wie ein ei dem anderen. nur, dass neben den viereckigen klingelknöpfen andere namen stehen. nikolai grönwald. klingt ernst, aber: es bist du und ich: klingle. ich kann es selbst nicht glauben, ich gestehe: ich wusste nichts von deinem namen. du heißt uns trotzdem willkommen. der türöffner summt länger als nötig. draußen sieht der sabbernde hund, wie unsere schatten hinter milchglas ins innere von 3d verschwinden.

was hast du denn gedacht, wie er heißt? fragt mich sandra, als wir im lift unsere augen gegen das grelle fahrstuhllicht zusammenkneifen. vergiss es: sage ich und dann öffnest du die tür.

es riecht nach gras. (du würdest »ganja« sagen.) und vanillekipferln. kipferl ist ein hässliches wort. ich wünschte, es gäbe ein anderes dafür. vanillehörnchen vielleicht? beschissen, dennoch: already taken. bourbon-halbmonde: könnte funktionieren. später finde ich heraus: christmas scented candles, very seasonable. nicht winterliche musik als ausgleich: reggae, zeitlos. obwohl: du bist ein sommerkind. seit ich dich kenne, stehst du auf reggae. auf reggae und annika, die eigentlich mit nur einem n geschrieben wird und die jetzt mit dani zusammen ist. vor einigen jahren mal... da wart ihr beide ein paar, du und annika. ihr wart wie nimm2: leuchtend, nur nicht: gelb & orange. noch übrig aus dieser zeit sind: zwei falsch geschriebene namen in meinen kontakten und die couch, auf der wir jetzt sitzen. let’s get together and feel alright: trällert bob marley seine 1 liebe im hintergrund und sandra vor sich hin.

du kommst aus der küche auf uns zu: ins wohnzimmer. küche und wohnzimmer sind ein und derselbe raum. you move with purpose. (sonst wäre dein zugang nicht zu erkennen.) du bietest uns kuchen auf alufolie an. niemand hat geburtstag. sandra hört auf zu singen, nimmt sich ein stück und fragt mich: fährst du? aus der bisher unerwähnt gebliebenen runde sagt jemand: ich kann fahren, wirklich. du reichst mir eine gabel, ich lehne ab. lieber ess ich mit den händen. nusssplitter fallen aus dem schokoladenteig. ich denke an wolken und das schlaraffenland.

niemand rührt hier das besteck an. es bleibt: abandoned, am tisch liegen. während: ich, ungeübt in full lotus, auf die couch krümmle. mir wird schwindlig, i almost faint. but then: just light-headedness und: es geht gleich wieder. sorry: sage ich, ganz ehrlich. du lachst, kurz und laut. dann sagst du: macht nichts und nur annika weiß, warum, doch nichts von alledem: sie schläft schon lang. das bett ruft: sagst du und meinst damit eigentlich deine arbeit morgen. wir gehen, umarmungen zum abschied. du bläst die duftkerzen aus, während wir ins auto steigen. sandra und ich sitzen hinten. die rückbank ist kalt, auf den scheiben: frostkristalle. jemand schlägt vor: enteisen. mir gefallen die eisblumen. ich will, dass sie bleiben. das bringt unglück: behaupte ich und wir fahren los, lassen 3d hinter uns und den frost auf den scheiben liegen. was geht in dir vor: frage ich den schwarzen samthimmel und rechne nicht mit einer antwort. doch dann: ein scharfer schnitt, der beinah blutig endet. ich pralle mit der stirn gegen die kopfstütze des vordersitzes. ein erdbeben peitscht durch meinen körper. magnitude, magnitude, Magnitude, plötzlich hell: Magnitudo, ich sehe sterne. dann: stillstand, abrupt. ich hör die andern atmen. weiße wolken steigen auf. eine straßenlaterne wirft sich vor das erschütterte schwarz, licht fällt auf den intruder, mit dem wir beinah kollidiert wären. i see: he’s marked: LOVE 1. black velvet: denke ich und weiß: das war knapp. wer bekennt sich so offen zur liebe: frage ich sandra. du weißt aber auch gar nichts: antwortet sie und lässt ihre fingerknöchel knacken. vorne: shift to first gear, almost simultaneously. schon sind wir zurück: auf kurs.

Thordis Wolf

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freiVERS | Marina Büttner

Ich baue ein haus aus licht

Ich baue ein haus aus licht
inmitten von hauptverkehrsstraßen
ich bringe sterne mit & luft
ich bringe sprache in alle
stockwerke – stiegenhausblues

rauhfaserfarbene worte schlag
ich aus unverputzten wänden
ich verstehe längst nicht genug
vom handwerk, ich sammle
backsteine auf abraumhalden

berge von schutt und metall
ziehe worte magnetisch an
kleide sie ein – ein taufkleid
sollen sie tragen & und namen
die noch keiner kennt

ich baue ein haus, ich öffne türen
licht fällt herein & am boden
spuren von anziehungskraft
ich klaube die hellen klaren heraus
alles spricht und springt mir bei

Marina Büttner

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freiTEXT | Nils Langhans

Lichtschutzfaktor

Das Gästehaus lag einige Passstraßen oberhalb der Cinque Terre. Von meinem Zimmerfenster aus sah ich über die Hügelketten. In der Dämmerung verschwammen die Gipfel mit der steingrauen Wolkendecke zu einem bedrohlichen Klotz, der düster über der Welt thronte und mich grimmig anstarrte. Ich starrte zurück. Nichts regte sich. Das einzige Geräusch, das sich der vollkommenen Stille widersetzte, war der Gesang einiger männlicher Ammern. Ich war mir zumindest sehr sicher, dass es Ammern waren, und dachte darüber nach, wie praktisch es wäre, wenn es ein Shazam für Vogelstimmen gäbe. Über den Gedanken schlief ich kurze Zeit später ein.

Am nächsten Morgen klopfte Francesco an meiner Zimmertür und weckte mich sehr freundlich. Wir würden in einer halben Stunde losfahren, sagte er durch den Türspalt.

Zum Frühstück aß ich einen Apfel. Francesco hatte ihn sicher am Morgen von den pensionseigenen Apfelbäumen gepflückt, war auf eine klapprige, dreistufige Holzleiter gestiegen, hatte den Baum gerüttelt, die Äpfel waren zu Boden gefallen und es ward Frühstück. Ich hätte seinen Namen stundenlang aufsagen können. Francesco, Francesco, Francesco, so sonor wie ein Eichendorff-Gedicht, immer Francesco. Wäre er Deutscher und sie hätten ihn Franz genannt, ungläubig staunend hätte die Standesbeamtin seinen Vater angeschaut, ob er noch bei Trost sei, ein Kind Franz zu nennen, und das in den Achtzigern. Franz wie Strauß, wie Beckenbauer, wie antiquiert das klänge, ein Kind Franz nennen, nein, bitte, vielleicht im Zweitnamen, aber als Rufname wäre Franz eine Bürde - so würde sie reagieren als pflichtbewusste Beamtin, die sich dem paternalistischen Staat verpflichtet sah, der denen, die noch nicht ihrer Handlungen eigener Puppenspieler sein konnten, den Weg ins Gute wies. Franz, Franz, Franz. Man könnte es niemals vor sich hin summen oder gar singen. Man könnte es bloß salutieren. Franz Göring, jawohl, zu Befehl. Die Härte der deutschen Sprache war der wachste Erinnerungsruf, der einen jeden mit jedem Wort der Verbrechen mahnte, die von deutschem Boden ausgegangen waren. Die Härte des Deutschen machte zu allem fähig.

Wir fuhren in einem Fiat Skudo etwa zwanzig Minuten bergab, bogen uns um windschiefe Kurven, links, rechts, links, die Wipfel der Korkeichen schwangen erhaben im Rhythmus unseres 4-Zylinders, Francesco fuhr mit einer Hand am Steuer und ich studierte auf dem Beifahrersitz einen Bericht des Merian über den ökologischen Landbau in Ligurien. Die Sonne schien. Ich wühlte in meiner Strandtasche nach einer Sonnenmilch mit Lichtschutzfaktor 25, denn die Septembersonne fräste sich nicht mehr so hemmungslos durch die Hautschichten wie die Augustsonne. Lichtschutzfaktor 25 würde ausreichen.

Francesco hielt an am Ortseingang von Riomaggiore und wünschte mir einen schönen Tag. Im Autoradio lief der Refrain von Grenade und ich dachte darüber nach, ob Bruno Mars wohl am Morgen seine Wimpern zupfte. Francesco fuhr weg und hupte zwei mal, während sich neben mir ein Mittvierziger in cargobrauner Dreiviertelhose beherzt mit der flachen Hand in die Arschritze griff, der Vertikalen entlang einige Sekunden hin und her rieb, schließlich anstandshalber flüchtig über die Schulter schaute und dann unbehelligt weiter ging.

Das eigentliche Riomaggiore erreichte man von der Stelle, an der Francesco mich abgesetzt hatte, durch eine Unterführung, die genauso gut zwei Bahngleise eines Provinzbahnhofs hätte verbinden können. Sie war eine denkbar schlechte Vorbereitung auf die Explosion, die sich – just da man aus dem Tunnel ins Licht ging – auf diesen paar winzigen Quadratmetern auftat. Mich überfiel ein Farbschauer, ein Zittern, die sorgfältig abgeblätterten Pastelltöne, das Preußenblaue Meer, einige Fischerboote, die Frauen beinahe versengt, Espresso auf Beistelltischen. Es war Zusatzversion der Realität, als würde man ein frühes Bild von Bernardo Bellotto auf LSD anschauen. Die Schönheit hier war kaum auszuhalten.

Ich stieg linkswärts der Bucht eine Treppe hoch, glaubte einen alten Schulkameraden im Gegenverkehr zu erkennen, traute mich aber nicht ihn anzusprechen, ging weiter, setzte mich auf die mit roten Ziegeln überzogene Mauer auf der Anhöhe und betrachtete einige Männer, die von den Felsblöcken ins Meer sprangen und wie junge Delfine im Wasser tollten. Ich zitterte noch immer. Die Sonne stand irgendwo im Westen. Am Nebentisch bat ein ergrauter Mann mit dunkelblauem Gaastra Polo die Kellnerin in perfektem Deutsch um die Rechnung.

Ich versuchte die Bucht von Riomaggiore auszuhalten, aber die Kulisse war zu perfekt, eine Superrealität, zu fein gearbeitet war, zu detailreich und zu gleißend. Ich ging die Stufen wieder hinab und bog in die Unterführung - erst jetzt fiel mir der bröckelnde Spritzputz auf, der sich an der Decke durch das Tropfwasser des Bergmassivs über Jahre in einen algigen Camouflagematsch gewandelt hatte.

Ein Zug fuhr in den Bahnhof von Riomaggiore ein. Die Klimaanlage sog die Menschen vom Bahnsteig in den Innenraum, sie würde sie wenige Minuten später in Monterosso wieder ausspucken, frierend und schlimm erkältet. Ach wer da mitreisen könnte in der prächtigen Sommernacht. Eichendorff konnte es ja nicht besser wissen. Damals gab es noch keine Klimaanlagen und keine Linoleumfußböden. Zum Glück musste er all das nicht mehr miterleben. Die Ästhetik der Moderne war ein einziger Irrtum.

Ich stieg in ein Taxi, ließ mich zu meiner Unterkunft fahren, packte eilig meinen Koffer, Francesco war nicht anzutreffen, ich stieg ins Auto und fuhr weiter Richtung Süden.

Nils Langhans

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