freiTEXT | Olav Amende

Olav Amende - Mittag. Fügnis.

Der 12-Uhr-Glockenschlag weitet sich in der Stadt. Vom Friedhof bis zur Seniorenresidenz, die der stilvoll gekleidete Gruftie-Altpunker mit Sisters of Mercy im Ohr zum Beginn seiner Schicht betritt; von der Kleingartenanlage, in der der ehemalige Vorstand die beiden fremden Spaziergänger auf sicherer Distanz hält, bis zum Wasserturm, auf dessen Gesims sich ein weißes Täubchen niederlässt und dabei von niemandem erblickt wird. Der 12-Uhr-Glockenschlag schwebt über den versteinerten Wellen des Marktplatzes und auf diesem steht heute eine Gulaschkanone in Grün. Betrieben wird die grüne Gulaschkanone von einer Rentnerin – einstige Köchin in einer Oberschule oder einem Kindergarten oder in einem VEB-Großbetrieb, der Papiersackfabrik vielleicht. Unterstützt wird sie von ihrer Enkeltochter. Gerade ist Pause. Das Mädchen übt sich im Radschlagen. Sie schlägt die Räder quer über den gesamten Marktplatz, so lange, bis ihr schwindelt und sie in Folge dessen aufs Hinterteil fällt. Da hupt ein von rechts kommendes Auto einem Kontrahenten von links hinterher und bremst nicht ab. Morgen wird das in den „Groitzsch-Pegauer Nachrichten“ nachzulesen sein, wenn es diese noch gäbe. Im Blumenladen haben sich die alten Frauen zum Schwatzen versammelt, während der Florist das Kleingeld zählt, das sie ihm in die Tasche seiner Schürze stecken und eine ihrer Freundinnen nebenan beim Metzger an der Theke zur Aufbesserung ihrer Rente Metthalbbrötchen zubereitet, sehr zur Freude zweier junger Männer. Am Rathaus klopft ein Lehrling Steine – ein Quadratmeter ergibt eine Stunde, schätzt er und blickt auf das Trassierband in zwanzig Meter Entfernung. In der Zwischenzeit ruft sein Großvater zwei durch die Anlage des Kleingartenvereins „Naturfreunde 1907“ e. V. streifenden jungen Männern entgegen: „Was gibt es hier Interessantes?“ Die Stille, die zwischen dieser Frage und der Gegenfrage: „Was gibt es für Sie Interessantes?“ klafft, ist das Echo des 12-Uhr-Glockenschlags, der Moment, in dem sich das Täubchen auf das Gesims des Wasserturms niederlässt oder sich von diesem erhebt, der Gruftie-Altpunker aus seinem Ledersakko in den weißen Kittel schlüpft, die ehemalige Großköchin den Kanoneninnenraum umrührt, ein Besucher der Groitzscher Buchhandlung hinter einer Reihe Schulpflichtlektüre ein verstecktes Buch entdeckt und das Mädchen ein Rad zu viel schlägt.

Zwei Arbeiter der Stadtreinigung sitzen in ihrem Wagen und schlürfen Erbsensuppe. Das Mädchen stellt sich an den Rand der Dreierstufen und lunzt zu den Schreibenden auf der Parkbank. Einer der beiden schaut mal hin, mal weg, mal hin, bis er endlich begreift, dass das Mädchen darauf wartet, dass er ihr zuguckt, wenn sie über die Stufen jumpt. Gut, schaut er eben wieder hin. Das Mädchen grinst, beugt sich zurück, der Lehrling erhebt den Fäustel, die Arbeiter pusten auf ihre Löffel, das Mädchen springt. Der ehemalige Vorstand des Kleingartenvereins „Naturfreunde 1907“ verschließt seinen Schuppen und murmelt, während sich das Täubchen in die Luft erhebt, der Pfleger über die Hand eines alten Mannes streicht, sich einer der beiden jungen Männer auf der Bank eine Faser Mett aus den Zähnen zieht, und das Mädchen auf dem Bauch landet. Es feixt. Die Großmutter rührt noch einmal die Kanone um.

Im Buchladen holt einer der beiden Schreibenden Prousts „Auf der Suche nach der usw.“ hervor. Die Verkäuferin tritt heran und sagt: „Ach, der. Der ist hier hängengeblieben.“ Der 12-Uhr-Glockenschlag verhallt, das Weiß der Taube löst sich ins Weiß der Wolken und die ehemalige Großköchin reicht ihrer Enkeltochter eine Schüssel mit Erbsensuppe.

 

Olav Amende

 

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freiTEXT | Magdalena Maier

Glück

Ich stehe vor meinem Teich und stell mir vor, er wär das Meer. Also voll Salz und Fische und mit Sand am Rand. Wenn jemand die Blätter vom Apfelbaum mit Booten oder Wellen austauschen würde, wäre die Transformation perfekt. Was will man sonst von einem Meer? Wasser, Salz, Boote, Fische, Wellen, Strand.

Leider ist mein Teich kein Meer. Gestern war der Himmel grau, heute ist er blau und mein Teich spiegelt die Wolken, weil er glaubt, er sei ein Spiegel. Mich spiegelt er nicht. Die Katze vom Nachbarn fällt durch die Hecke und landet trotzdem auf allen Vieren. Dass ich regelmäßig stolpere und hinfalle, rechtfertige ich dadurch, dass ich nur zwei Beine habe. Mit zwei als Back-up würde ich auch nicht stürzen. Die Katze vom Nachbarn kitzelt inzwischen meine Waden mit ihrem Schwanz. Die Katze ist schwarz. Ich stell mir vor, dass das Glück bringt.

Aus Reflex trete ich das Tier, als es mich zu Kratzen beginnt. Das Geräusch, das dem kleinen Körper entflieht, würde bei einem Menschen tief unten aus der Kehle kommen. Ein Fluch fällt mir aus dem Mund und jagt die Katze in die Flucht. In meiner Haut ist eine Linie, die rote Perlen aufzufädeln beginnt. Ich stelle mir vor, es wären Rubine. Leider schmelzen sie unter meinem Blick und rinnen in meine Socken.

Egal, die muss ich sowieso waschen, weil ich jetzt einen Schritt in den Teich hinein mache. Dass das Wasser in der Wunde nicht brennt, verunsichert mich. Ist das nicht normalerweise so bei Salzwasser? Meine Schuhe werden vom erdigen Boden verschluckt und ich sehe sie nicht mehr. Der zweite Schritt fällt mir schwer, weil sie im Morast eingesunken sind und mit dem anderen Fuß bleibe ich stecken, stolpere, würde auf allen Vieren landen, wenn ich nur 4 Beine hätte. Aber so klatsche ich mit meinem ganzen Körper in den Teich hinein.

Mein Gewand ist schwer an meiner Haut, bewegt sich träge vor Nässe, klebt an mir und gleichzeitig schwimmt es von selbst. Meine Schuhe sind aus blei und erschweren meine Brustschwimmbewegungen. Fast kann ich es nicht glauben, also ich schon nach kürzester Zeit am anderen Ende des Teichs angekommen bin. Ist das Meer nicht größer?

Die Sonne scheint an diesem Ufer. Der Sand ist ziemlich grobkörnig und manch einer würde behaupten, es wäre Kieselsteine, die ich letzten Sommer hier aufgeschüttet hätte, aber ich weiß, dass es Meeressand ist. Weil man am Strand nicht mit nassen Kleidern steht, ziehe ich das T-Shirt aus und werfe es ins Wasser. Dann die Schuhe, schließlich die Socken. Die Hose geht unter, als ich sie nachschmeiße, die Unterhose schwimmt. Die Brise, die in dieser Bucht weht, ist kühl, aber sie trocknet die Wassertropfen an meinem Körper. Nur die Haare bleiben länger nass und kleben als Coolpack an meinem Nacken.

Die Hecke zum Nachbarn ist hoch. Die Fenster vom anderen Nachbarn sind mit Rollläden verschlossen. Obwohl sie beide immer zu Hause sind, sehen sie mich nie, wenn ich hier nackt stehe. Kein Wunder, ich bin ja auch am Meer. FKK-Bereich, da schaut man nicht hin. Die Katze sitzt am anderen Ufer und beschnuppert meine Unterhose, die es dort drüben angeschwemmt hat. Bringt meine Unterhose jetzt Glück?

Bis meine Haare trocken sind, dauert es noch eine Weile. Ich setze mich in den Sand und beginne eine Burg zu bauen. Manch einer würde sagen, es sei eine Kieselpyramide, aber manch einer würde auch sagen, die Luft würde hier nicht nach Meer schmecken. Manch einer würde so einen blauen Himmel wegen der Rollläden gar nicht bemerken. Er würde nicht sehen, dass im Sonnenschein heute ein Meer in meinem Garten rauscht. Er würde seine Wäsche waschen und die dunklen Wolken am Nachmittag argwöhnisch beäugen, bevor er die Wäscheständer über Nacht doch lieber wieder ins Wohnzimmer stellt. Er würde im Regen von Morgen die Gartentür nur zum Stoßlüften öffnen und wenn er aus dem Fenster im ersten Stock schauen würde, würde er seufzen. Seufzen über den seltsamen Nachbar, der wieder und wieder einen Handstand vor dem Teich versucht und wieder und wieder scheitert und im Wasser landet.

Was der Nachbar nicht weiß, ist, dass ich Morgen eine Schnitzelgrube in meinem Garten finden werde. Dass es regnet, macht das Ganze ein wenig unangenehm, aber einen Handstand wollte ich immer schon lernen. Die Katze leistet mir an Regentagen selten Gesellschaft und so langsam frage ich mich, ob sie tatsächlich Glück bringt, oder ob sie mir das nur von ihrem Besitzer leiht. Weil dann müsste ich es ja irgendwann zurückgeben. Und darauf habe ich keine Lust.

 

Magdalena Maier

 

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freiVERS | Dennis Hannemann

Gleichheit

Und hier kommt einer der
nicht weiß wie viel Pfand er braucht

um die Parkbank zu bezahlen
die ihn nachts vor Kälte und Kampfhunden schützt

und hier kommt eine die
nicht weiß wer sie zur Ärztin schickte

die ihr anstatt der Behandlung
eine Karte für Shakespeare schenkte

und hier kommt einer der
nicht weiß ob die Mutter noch lebt

beim letzten Besuch da nannte sie ihn
den Sohn einer anderen das Messer zur Hand

(zu Sigmar Polke: Liberté, Egalité, Fraternité, 1988)

Dennis Hannemann

 

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freiTEXT | Jasmin Gerstmayr

Der dritte Wunsch

Ich wische über mein Phone, nach rechts, rechts, rechts. Währenddessen fällt mein Blick auf meinen Bonsai-Baum. Ich habe ihn gestern gedüngt, nur ein klein wenig, denn wenn man es zu gut meint mit den Dingern, dann sind sie beleidigt. Genauso ist es mit den Frauen. Alle wollen sie den Bad Boy mit dem Dreitagebart. Aber wehe, man ist in den richtigen Momenten dann nicht lieb und sanft. Ha, ein Match. Endlich mal wieder. Ich schaue mir ihre Profilbilder an. Sie hat raspelkurze Haare und trägt schwarze weite Sachen. Eigentlich nicht mein Typ, ich mag lange Wallemähnen, die man den Mädels aus dem Gesicht streichen kann, bevor man sie küsst. Wenigstens ist ihre Figur ganz ok. Vielleicht ein bisschen zu wenig Busen. Naja. Hast du morgen Lust auf ein Treffen, schreibe ich ihr. Gern, antwortet sie fast sofort. Ich befühle die Erde meines Bonsais. Sie ist noch feucht. Stolz streiche ich über seine kleinen Blätter. Ich habe wirklich ein Händchen dafür.

Ich bin vor ihr da, wie sich das gehört, denn eine Dame lässt man nicht warten, auch wenn die, die jetzt kommen wird, wohl keine klassische Dame ist. Zumindest von der Frisur her. Ich stelle mich vor das Lokal und zünde mir einen Tschick an. Da biegt auch schon ein Mädel um die Ecke, mit glattrasiertem Kopf. Sie trägt einen schwarzen Mantel und kommt direkt auf mich zu. Lukas, stellt sie fest, ohne eine Miene zu verziehen. Ihre Augen schauen ganz nett aus, groß und bernsteinfarben. Freut mich, sage ich und gebe ihr Küsschen auf die Wangen. Dabei bemerke ich, dass sie ein wenig größer ist als ich, obwohl sie keine High Heels trägt. Den Rest des Abends werde ich auf Zehenspitzen verbringen, soviel steht fest. Ich dämpfe meine Zigarette aus und schnippe sie lässig davon. Sie hebt ein wenig die Augenbrauen. Ich tue so, als würde es mir nicht auffallen, und halte ihr die Tür auf.

Es ist recht voll, und wir setzen uns erst mal an die Bar. Ich will ihr aus dem Mantel helfen. Geht schon, sagt sie. Sie trägt lockere, schwarze Sachen, wie auf den Fotos. Naja. Bier passt, fragt sie mich. Ich nicke, und noch bevor ich die Initiative ergreifen kann, bestellt sie zwei Bier. Ich kenne keine Frauen, die Bier trinken, sage ich. Ich kenne keine, die es nicht tun, meint sie gleichgültig. Sie schiebt mir mein Bier hin. Die nächste Runde geht auf mich, sage ich mit fester Stimme. Schon gut, antwortet sie. Sie nimmt einen großen Schluck von dem Bier und seufzt zufrieden. Es schmeckt auch wirklich herrlich. Sie wischt sich mit dem Handrücken den Schaum von der Oberlippe. Also, was machst du so, fragt sie mich. Ich nenne den Namen der Firma, bei der ich ihm Controlling tätig bin, und erläutere die grundlegenden wichtigen Aufgabenbereiche meiner Position. Aha, grinst sie, stolz drauf, gell. Es ist das erste Mal, dass ich sie heute lachen sehe. Sie hat schöne Zähne, perfekt aneinandergereiht. Mein Gesicht wird ein wenig heiß. Na, und was machst du, frage ich kühl. Sie ist in der Erstbetreuung von Flüchtlingen tätig. Klingt spannend, sage ich, und das meine ich auch so, obwohl ich mir irgendwie nicht wirklich vorstellen kann, wie das ist, als junge Frau mit so vielen fremden Männern. Ob die einem nicht auf die Pelle rücken. Ich halte aber lieber den Mund. Wahrscheinlich schüchtert sie die Typen sowieso alle ein. Schöne Profilbilder hast du übrigens, sage ich stattdessen. Sie hört mich aber nicht, denn sie beugt sich über den Tresen und bestellt noch zwei Bier. Passt das, fragt sie mich, obwohl sie eh schon bestellt hat. Ich nicke ein wenig verwundert. Sie lehnt sich plötzlich zu mir, nahe zu mir. Ihr Atem riecht nach etwas Minzigem und ein wenig nach Bier, aber nicht unangenehm. Wenn du drei Wünsche frei hättest, sagt sie mit leiser Stimme, wofür würdest du dich entscheiden. Ich finde die Frage irgendwie merkwürdig, bei einem ersten Date. Darüber habe ich noch nie nachgedacht, sage ich. Es stimmt zwar nicht, aber egal. Sie scheint meinen Widerwillen zu bemerken, denn schnell sagt sie: Gleiche Rechte für alle, und genügend Zeit für meine Malerei. Sie macht eine Pause. Den dritten Wunsch, meint sie dann, den würde ich mir aufheben, denn man weiß nie, was noch kommt. Klingt vernünftig, sage ich und nehme noch einen Schluck von meinem Bier. Eigentlich kann ich auch einfach drauflosreden, ich sehe sie sowieso nie wieder. Irgendwie ist es ja auch lustig, auf solche Frauenfragen zu antworten. Ich wünsche mir ein kleines Haus, irgendwo im Grünen, und zwei Kinder, sage ich. Ich erkläre ihr, wie wichtig es ist, dass das Haus einen großen Garten hat, denn ich möchte mein eigenes Gemüse anbauen. Ich warte darauf, dass sie lacht. Ich bin nicht ungeschickt mit Pflanzen, verteidige ich mich schon mal. Habe ich das behauptet, sagt sie, und erzählt von den Anbauversuchen auf ihrem Balkon, Chilis, Heidelbeeren, Minigurken. Nur die Tomaten, die gehen mir immer ein, meint sie achselzuckend. Du darfst sie nicht direkt in die Sonne stellen, erkläre ich, das mögen sie nicht. Sie brummt irgendetwas Unverständliches. Gehen wir eine rauchen, sagt sie dann.

Draußen beginnt sie, sich mit irrer Geschwindigkeit eine Zigarette zu drehen, und hält sie mir hin. Danke, sage ich und fische mein Feuerzeug aus meiner Hosentasche. Ich nehme einen tiefen Zug. Es ist keine besonders klare Nacht, man sieht nur ein paar Sterne. Trotzdem irgendwie schön. Wir sagen beide nichts. Nach einer Weile dämpft sie die Zigarette aus, im Aschenbecher auf dem Stehtisch. Irgendwie habe ich plötzlich das Bedürfnis, mich zu rechtfertigen, dass ich eigentlich sonst meinen Tschick nicht einfach auf den Boden werfe, aber dann lasse ich es doch. Magst du mir deine Wohnung zeigen, sagt sie mit sanfter Stimme und nimmt meine Hand. Hm, das ging ja flott. Klaro, sage ich perplex und ein wenig dümmlich. Ich denke schnell nach, ob meine Wohnung in einem vorzeigbaren Zustand ist, und gratuliere mir selbst zu meinem Ordnungssinn. Nur das Poster mit dem Playboyhäschen über dem Sofa könnte mir Probleme bereiten. Egal. Ich streichle ihre Hand, den ganzen Heimweg lang. Sie ist ganz weich.

Nach dir, sage ich. Sie zieht sich rasch ihre Schuhe aus und geht ins Wohnzimmer. Für ihre Größe hat sie unerwartet zarte Füße. Fast niedlich. Sie lässt sich auf das Sofa fallen, als wäre es ihr eigenes. Ich muss grinsen. Cooles Bild, sagt sie dann, und deutet auf das Playboyhäschen mit den Megatitten. Ich kann nicht erkennen, ob sie das jetzt sarkastisch meint, darum sage ich lieber nichts. Sie steht wieder auf, tritt dicht an mich heran und flüstert: Was war der dritte Wunsch. Ohne meine Antwort abzuwarten, geht sie vor mir auf die Knie, zieht mir die Jeans herunter und nimmt meinen Schwanz in den Mund. Herrlich. Ich stöhne.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, bin ich erstaunlich gut drauf. Kein Kopfweh, keine Gliederschmerzen. Naja, waren ja auch nur zwei Bier. Der Platz neben mir ist leer, darum gehe ich in die Küche, nur in Boxershirts. Soll sie mein feines Sixpack ruhig auch mal bei Tageslicht sehen. In der Küche ist sie aber nicht, und auch nicht im Bad. Schnell schaue ich bei den Schuhen nach. Ihre sind nicht mehr da. Ich seufze. Ich greife nach meiner Jeans und ziehe mein Phone aus der Hosentasche. Keine neue Nachricht. Wie, sie bläst mir einen, wir haben Sex, und sie haut einfach ab. Echt jetzt. Genervt wandere ich zurück ins Bett. Irgendwie fühle ich mich doch ein wenig müde. Ich schließe die Augen und döse ein bisschen und denke an mein kleines Haus mit dem Garten. Die Wiese streift meine Waden. Ein Junge und ein Mädchen spielen Fußball. Sie kreischen unbeschwert. Ich beuge mich über eine Tomatenstaude. Es hängen einige glänzende Früchte dran. Abendessen, ruft sie plötzlich. Sie trägt ein schwarzes Kleid und steht barfuß auf der Wiese. Ihre Füße sind wirklich niedlich, die Zehen ganz klein. Ich gehe zu ihr hin, ein wenig auf Zehenspitzen, und lege meinen Arm um sie. Sie lehnt sich gegen mich. Die Tomaten werden, sage ich. Ich spüre ihr Lächeln.

Als ich wieder aufwache, checke ich zuallererst mein Phone. Keine neue Nachricht. Ich überlege, ob ich ihr schreiben soll. Warum nicht, denke ich mir dann. Ich begnüge mich mit einem simplen: Danke für den schönen Abend. Kuss, Lukas. Schnell absenden. Ich stehe langsam auf und trotte zu meinem Bonsai ins Wohnzimmer. Er schaut noch immer prächtig aus, allerdings hat er über Nacht zwei braune Blätter bekommen. Beunruhigt zupfe ich sie ab. Dann fällt mein Blick auf die Wand über dem Sofa. Ich traue meinen Augen nicht und trete näher heran. Das Poster mit dem Playboyhäschen fehlt. Stattdessen klebt da ein Post-It: Danke, würde mir die gern selbst aufhängen. Mit Smiley. Ungläubig schüttle ich den Kopf und lasse mich auf das Sofa fallen. Dann checke ich mein Phone, wieder. Keine neue Nachricht.

 

Jasmin Gerstmayr

 

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freiVERS | blume (michael johann bauer)

auf der leisen faehrte des schreis

um nicht zu fallen traegst du die maske des laerms
zum beispiel auf um im jubel & trubel unterzugehen
treibst du vorbei an bevoelkerten ruinen mahnmaelern
weil alle straszen fluesse sind tosend irre ihre kreisel
& kreuzungen wirbel wo du dich fast zu tode drehst
potenziell zumindest findest du es nicht sehr leicht
dich zu orientieren & dabei sehnst du dich nach gleich
klang also stille synchronizitaet von innen & auszen
willst sie hinter dir lassen die tuecken die huerden
dieser voellig konfusen stadt in der du gestrandet
deine vergangenheit verlierst oder schon verloren
gegeben hast denn beim besten willen glaubst du
dich nicht mehr daran erinnern zu koennen wie
es einst zustande kam dein wesentlichstes wesen

blume (michael johann Bauer)

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freiTEXT | Stefan Kreiger

Auto

Auf dem Weg nach Hause in dem Boliden: Genaugenommen habe ich ihn gestohlen oder zumindest beiseite geräumt, wie man so sagt. Das Auto meines Vaters ist mehr oder weniger das Einzige, was ich retten kann von dem ganzen Hofstaat. Der Zustand, den er mit seinem vorzeitigem Tod hinterlassen hatte, verspricht ein riesen Scheißhaufen zu werden. Beginnt zu wachsen, kaum dass er seinen letzten Atemzug getan. Eigentlich schon vorher, vielleicht lange vorher. Es hatte sich was angesammelt. Heute weiß ich mehr. Aber viele Dinge kann man ignorieren. Manche ein Leben lang. Juristisch bin ich etwas mehr involviert als mir lieb ist, in dieses Kartenhaus, das in Zeitlupe über mir beginnt in sich zusammenzufallen - und eigentlich nur die Spitze eines Eisbergs darstellt.

Mir ist seltsam, meine Zukunft scheint mir ungewisser als sonst. Ich schwimme in dem fetten, silbernen Mercedes, der eher einem Zuhälter gut zu Gesicht stünde - Seltsame Fassaden, die mir zwei Nummern zu groß sind. Das Gaspedal spürt man kaum. Ich glaube mich an eine Halbautomatik zu erinnern. Bequem, zugegeben und der Fuß liegt wohl etwas lockerer als sonst: Ich trete drauf - Turbo. Aber meinen Testosteronspiegel hebt es nicht merklich, auch wenn es so gedacht sein dürfte. Ich kann Fahrzeuge solcher Machart nicht ausstehen. Irgendetwas daran ist verkehrt, überzogen - zu breit, zu lang, dafür zu flach. Als hätte man in einer Dimension gespart, damit er in den Anderen besser klotzt. Was soll man dazu sagen. Mehr Status als Transportmittel eben.

Gedankenversunken geht es weiter heimwärts. Neben mir seine Seidenkrawatten und das Silberbesteck. Ein paar andere Erinnerungsstücke rollen lose auf der Rückbank. Ich fühle mich schäbig. Ich telefoniere und erfülle jede Voraussetzung für Rollenbilder, die ich eigentlich zu meiden suche. Eine Zivilstreife macht sich bemerkbar, hält mich auf. Ich versuche unauffällig - also weder zu schnell noch zu langsam - ranzufahren. Es gelingt mir stattdessen fast eine Vollbremsung am Pannenstreifen. Mein Herz klopft, mehr prinzipiell als aufgeregt, wie immer eigentlich wenn Freund und Helfer meine Wege kreuzen: Die angeborene Hassliebe zu den Autoritären. Meine sexuellen Vorlieben erklären sich so, obendrein. Uniformierte Figuren nähern sich geübt dem Raumschiff.

Dem Gesichtsausdruck der Beamtin ist zu entnehmen, dass sie Anderes erwartet hat, als ich das Beifahrerfenster elektrisch runterlasse. Unbeholfen, weil ich die neumodische Mechanik nicht sofort bedienen kann und wohl eigentlich eher nach einer Kurbel suche. Sie hat keinen Pferdeschwanz, wie so viele ihrer Kolleginnen, als sie sich siegessicher ins Cockpit beugt. Ich bekomme ungewollt völlig automatisch mein schuldbewusstes Büßergesicht, das ich schon seit meiner Kindergartenzeit mit mir rumtrage. Ich habe keine Kontrolle darüber. Sie blickt sich um und sieht einen Dieb. Man solle sich nicht wehtun, lacht sie lapidar und meint wohl alles zusammen, sprich: Fahrzeug, Ware, Fahrstil und Telefonat in Kombination. Sie winkt den Kamerad herbei, der die Nummerntafel übers System jagt.

Ich stammle etwas von toten Vätern, Erbstücken und pflegebedürftigen Verwandten (der Anruf) um eine grobes Bild zu skizzieren. Ich spüre Schweißperlen. Der Check ergibt nichts. Sie sieht mir nochmal in die Augen, da sie mich nicht einordnen kann, wie ich vermute. Ich versuche standzuhalten. Ich habe nichts falsch gemacht - nicht wirklich jedenfalls - dennoch fühlt es sich so an - das machen sie immer so. Ich löhne einen Fantasiebetrag von glatten fünfzig Mücken in mitteleuropäischer Währung in bar und bekomme im Gegenzug eine Quittung und die üblichen elterlichen Ratschläge für künftiges Verhalten. Ich verspreche mich zu bessern und bedanke mich demütigst. Halb geheuchelt, halb ernst gemeint, wie es meiner ambivalenten Natur entspricht - Erledigt.

Zuhause parke ich den Schlitten in die Tiefgarage und hoffe insgeheim, dass mich keiner der Nachbarn auf den neuen Untersatz anspricht. Da steht er nun und triumphiert - ich verwünsche ihn. Es wird eine Weile dauern, bis ich ihn veräußern kann. Das deutlich funktionalere Eigengefährt wird lieblos als Dauerparker vors Haus befördert. Ich sammle Mut und rausche in den nächsten Tagen zu einer dieser Kfz-Verkaufsstellen - mit dem neuen Ding. Der Berater inspiziert auf Herz und Nieren, labert einen Standarttext. Ich glaube ihm nicht und meine im Privatverkauf mehr lukrieren zu können. Also wieder zurück - langsam wird es eine Odyssee. Bis ich mich dazu durchringe, Näheres in die Wege zu leiten, vergehen Wochen. Dann alles sehr schnell: Fotos, Beschreibung, Anzeige, Ebay-Generation eben.

Einschlägige Interessenten melden sich, versprechen das Blaue vom Himmel. Auf den Fotos sehe er ja gut aus, man nehme ihn auf jeden Fall, und so weiter. Ein Treffen wird arrangiert. Tags darauf, abgemachte Uhrzeit: Ich stelle mich runter, damit man mich findet. Ein Wagen fährt vor, nicht unähnlichem Jenem, den ich eigentlich loswerden zu gedenke. Drei Typen steigen aus und mir wird schlagartig bewusst, dass ich einen Fehler begangen habe. Sie passen ins Bild. Ich lege sie in die dazugehörige Schublade und versuche mich nicht zu sehr über meine Vorurteile zu ärgern. Auch sie erkennen mich sofort und freuen sich über Beute. Eine Probefahrt: Ich sehe mich gezwungen mitzufahren uns steige ein - in eine archaische Blase, die zu beschreiben mir jegliche Worte fehlen.

Wir sitzen zu viert im Ufo, der Jüngste von Ihnen am Steuer. Die andere Beiden geben sich als Vater und Bruder aus. Man möchte offensichtlich die patriarchale Flotte erweitern, stelle ich mir vor. Als sie in der 30er Zone mit Karacho den Turbo austesten, fragen ich mich was ich hier eigentlich tue. Nerven liegen blank, mein Unterbewusstsein schickt Stoßgebete, Gott weiß wohin. Der Rest verblasst - Wieder Tiefgarage: Dieses und Jenes wird plötzlich bemängelt, mit Speziallampen wird die Lackierung enttarnt und überhaupt. Sie reden auf mich ein, wissen ihre Zeilen auswendig. Ich bin ein gefundenes Fressen. Sie sind von weit angereist und wollen das Ding unbedingt, aber nicht zum ausgeschriebenen Preis. Es geht lange hin und her und sie kriegen mich soweit - Schließlich habe ich die Schnauze voll.

Ich will nicht mal mehr zurück zu der Verkaufsstelle, wo deutlich mehr geboten war - Der Mann dort hatte recht behalten. Aber die Karre ist schon abgemeldet und ich habe keine Lust mehr auf weiteres Prozedere. Ich lenke ein. Handschlag - in Mehrzahl. Ihre Flossen fühlen sich an wie nasse Lappen. Keiner von ihnen sieht mir in die Augen bei diesem Ritual. Sie haben ein Schnäppchen gemacht und freuen sich. Gleichzeitig verachten sie mich zutiefst und ich Sie. Unmut staut sich, in der ansonsten so gemütlichen Garage an diesem Tag - So funktioniert die Welt. Der Älteste von Ihnen entdeckt schlussendlich noch das Behindertenemblem am Heck, versucht es angewidert abzukriegen. Er weiß nicht wohin damit und drückt es mir in die Hand. Ich fühle abermals seine schlappe, feuchte Pfote in der Meinen.

Papiere werden unterfertigt, Unterlagen ausgehändigt. Ich trenne mich vom Zündschlüssel und damit dann doch recht abrupt von dem Unding. Die Bürde, die Last, die verbundene Emotion und das Symbol, zu dem dieses Auto für mich geworden war, verlassen mich allerdings erst Jahre später. Leise und schleichend. Wie eine Schildkröte die, wenn man eine Weile nicht hinsieht, fort ist. Vielleicht um die nächste Ecke, eine Straße weiter, unter der Brücke, am Kiosk vorbei, aus der Stadt raus, über die Grenze, westwärts, den Kontinent auf dem Schiffsweg verlassend, im Nebel an neuen Ufern anlegend, eingereist, nach Kalifornien, weiter übergesetzt und immer fort. Aber die Welt ist eine Kugel und die Schildkröte kommt wieder. Du siehst hin, siehst weg, siehst nochmal hin und schon ist sie wieder da.

Stefan Kreiger

 

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freiVERS | everelusive

Funkenstörung

Dein Lachen
gluckst
wie Stundenblau
im Wasserglas

Gleichgültig zeichne ich
mit der Gabel
unsystematische Muster
in den Miniatur-Zengarten

Dein Schweigen
zieht Kreise
am Himmel

Wann planst du
den Überfall?

Wann schlagen die Zeiger
Halbnacht?

Mein Anthrazitblick
perlt an dir ab
wie Acryl von Butter

Eine Fliege
im Glauben hinter dem Glas
befände sich die Welt

Sie muss ja nur
geradeaus fliegen,
sagst du

everelusive

 

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freiTEXT | Maline Kotetzki

Kirschrot

Langsam ließ sie die Bürste durch ihr ohnehin schon spiegelglattes Haar gleiten. Sie griff es im Nacken zusammen und drehte es solange, bis an ihrem Hinterkopf ein fester Knoten entstand, den sie mit einer goldene Spange feststeckte. Keine dieser Bewegungen nahm sie bewusst wahr, alles an ihr war auf Automatisierung eingestellt. Wenn sie jemand fragen würde, welche Ohrringe sie anlegte - es waren die blauen mit den kleinen Perlen -, sie könnte die Frage nicht beantworten. Seit drei Wochen war das nun schon der Fall. Sie konnte sich an nichts mehr erinnern, was seit dem Anruf geschehen war. Sie hatte einfach nur funktioniert, obwohl dieses „Einfach“ gar nicht so leicht gewesen war. Mit nichts von alledem hatte sie gerechnet, aber wer tat das schon? Es gab Dinge, über die kaum jemand sprach, vielleicht, weil man damit keine Geister rufen wollte, die unter den Türspalten durchkletterten und sich einnisteten.

Der Regen fiel in langen, grauen Fäden vor dem Fenster herunter, während sie mit einer Tasse Tee in der Hand hinausblicket. Eigentlich würde sie lieber einen Kaffee trinken, aber ihr Herz pochte ohnehin schon zu schnell und hinter ihren Schläfen sammelte sich bereits ein stechender Schmerz, den auch das beste Lavendel-Öl aus dem Reformhaus nicht wegdünsten konnte.

Durch die letzten Wochen war sie wie durch einen dichten Nebel geschlafwandelt, nur begleitet von ebenjenem Schmerz, der auch jetzt ihren Kopf durchdrang. Sie wusste nicht, was sie alles unterschrieben, welchen Plänen sie zugestimmt hatte. Wahrscheinlich hatte sie sich Sachen aufschwatzen lassen und alles würde exorbitant teuer sein, aber das kümmerte sie nicht, obwohl es das wahrscheinlich sollte. In ihr war kein Platz für Gedanken über Geld, alles war verdrängt worden. Sie war froh gewesen, jegliche Entscheidungen in die Hände anderer zu geben, nur hier und da ein Kreuz machen oder ihren Namen unter ein Schriftstück setzen zu müssen. Dennoch war sie beim Unterschreiben immer wieder ins Stocken geraten, denn das auf dem Papier, das war nicht nur ihr Name. Sie hatten ihn zusammen getragen und jetzt war sie die alleinige Trägerin. „Namen sind Schall und Rauch.“ Aber dieser Name hatte ein Gewicht, das sie niederdrückte. Jedes Mal, wenn sie ihn aussprach, blieb ihr für ein paar Sekunden die Luft weg. Vielleicht sollte sie ihn wieder ändern, vielleicht, dachte sie und wusste im selben Moment, dass sie es doch nicht tun würde.

Eine Sache hatte sie in dieser Zeit verstanden. Das Wort „immer“ hatte keine Macht. Sie hatten sich geschworen, immer beieinander zu bleiben, immer zusammen zu sein. Und jetzt? Jetzt gab es nur noch ein Nie, das sich bis ins Endlose ausdehnte. Nein, „immer“ gab es nicht, damit hatten sie sich belogen, weil sie es nicht besser wussten. Es gab nur „niemals mehr“. Niemals mehr diese Stimme hören – warum gab es auf der Mailbox keine persönliche Ansage? – niemals mehr eine Berührung, niemals mehr dieser Geruch nach Zitronen und Kaffee und Holz. Sie vermisste den Körper, der sie so viele Jahre begleitet hatte, der jeden Morgen und jeden Abend neben ihr im Bett gelegen hatte, das jetzt seltsam unausgeglichen aussah und dessen eine Seite sich nicht mehr veränderte, nicht mehr unordentlich, nicht mehr schlafeswarm wurde. Sie konnte nicht verstehen, wie sich alles ändern konnte und doch so aussah, als ob es stillstand. Und wie die Welt noch immer so wie vorher war, auch wenn sie nicht anders hätte sein können.

Die Tasse Tee in ihrer Hand wurde langsam kälter, es stieg kein Dampf mehr auf. Sie blickte an sich hinunter. Da waren die schwarzen Schuhe, das schwarze Kleid, die schwarzen Strümpfe. Über einem Stuhl hing der schwarze Mantel. Wie blind hatte sie die Teile aus dem Schrank genommen; nur auf die Farbe geachtet. Keines dieser Kleidungsstücke würde sie je wieder tragen können, das war eine der wenigen Sachen, derer sie sicher war. Sie würde sie wegwerfen oder in die hinterste Ecke ihres Schrankes stopfen und hoffen, dass sie sie so schnell nicht wieder benötigen würde.

Wieder blickte sie hinaus in den Regen und in ihren Gedanken regte sich etwas, was sie nicht zu fassen bekam. Alles wurde übertüncht. Vom Klingeln des Telefons. Von einer besorgten und gleichzeitig unbeteiligten Stimme. Von Bildern, die während des Gesprächs durch ihren Kopf brausten und von denen sie hoffte, so sehr hoffte, dass sie nie stattgefunden hatten. Von einer Umarmung. Von einem weiteren Telefonat, bei dem der Hörer aufgeknallt wurde. Von einem Lachen. Von den Tagen dazwischen. Von blauen Farbspritzern auf dem Küchenboden. All das war so viel wichtiger als alles, was seitdem geschehen war und je wieder geschehen würde. Morgen um diese Zeit würde sie schon den Weg zwischen den Birken entlang gegangen sein, den Blick fest auf den Boden gerichtet. Nur die Füße des Pfarrers würden sich in ihr Sichtfeld schieben und sie würde ihnen im Takt zu den Kirchenglocken folgen. Bis sie zu einem Loch kamen, an das sie nicht denken wollte, das ebenso bodenlos war wie die Zukunft, die sich vor ihr ausbereitete.

Wieder dieses Pochen im Kopf. Sie hatte etwas vergessen, etwas Wichtiges. Sie versuchte, ihre Gedanken darauf zu lenken, weg von den Tanzschritten und den Schmerzen in den Füßen, weg von den Klängen einer Trompete und dem Geschmack von Zitronenravioli. Es hatte etwas mit dem Regen zu tun, da war sie sicher. Sie konnte den Gedanken fast schon erhaschen, wie die Schnur eines Drachens, der knapp über ihrem Kopf schwebte und den der Wind stets nur einige Zentimeter zu hoch fliegen ließ. Sie streckte sich ihm entgegen, stand auf den Zehenspitzen, griff in die Luft. Und plötzlich hielt sie ihn in der Hand.

Es waren Regenschirme! Mit so etwas Banalem hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. In Filmen hatten immer alle schwarze Regenschirme bei so einem Wetter. Oft trugen sie dann auch noch schwarze Sonnenbrillen, was ihr immer paradox vorgekommen war, aber wenn sie sich ihre Augen so ansah, konnte sie es jetzt sehr gut nachvollziehen. Meistens stiegen die Menschen aus Taxis oder Limousinen, zumindest aus schwarzen Audis aus und von der Seite wurde von irgendeinem Mann in einem zu engen Anzug ein Regenschirm über sie gehalten, der ebenso schwarz war wie ihre Kleidung. Wie konnte sie das vergessen? Und wie konnte sie an so etwas denken?

Vollkommen unangebracht, wirbelte eine Stimme durch ihren Kopf, die verdächtig nach ihrer Tante klang. Die hatte jedes Mal geseufzt, wenn sie auch nur einen lauteren Schritt gemacht hatte, und ebendiese Worte gemeinsam mit einer Schwade Zigarettenrauch zwischen ihren Zähnen ausgestoßen. Wie konnte sie jetzt an einen Regenschirm denken? Es war tatsächlich so gar nicht angebracht, aber was hieß das schon?

Draußen hielt ein Taxi. Sie blickte auf die Uhr an ihrem rechten Handgelenk. In zwanzig Minuten musste sie dort sein. Sie stellte die Teetasse in die Spüle, zog den Mantel an und blieb an der Tür stehen, neben der ein kirschroter Regenschirm lehnte, der ihr mit seiner knallenden Farbe immer wie der perfekte Schutz gegen das nasse Grau vorgekommen war. „Damit du ihn nicht liegen lässt. Etwas Knalligeres hatten sie nicht“, weil sie in den Tagen davor immer ohne aus der Wohnung gegangen war und damit jedes Mal das Wetter herausgefordert hatte. Ihren alten Schirm, einen schwarzen, der heute so perfekt gepasst hätte, hatte sie irgendwo liegen lassen. Sie zuckte mit den Achseln, wedelte die Stimme ihrer Tante weg wie deren Rauch, der ihr immer im Hals kratzte, und nahm den roten Schirm in die Hand. Er würde das einzige Stück seien, das sie auch nach dem heutigen Tag verwenden würde. Sie hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet ein Regenschirm sie an diesem Tag zum Lächeln bringen würde.

 

Maline Kotetzki

 

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Himmel und Glas

Sonntag
oder Montag

Ich lehne mich zurück
und frage mich
ob alle anderen wohl gelangweilt sind
Kakteen und Glasscherben
Kakteen und Schlaftabletten

Ich würde mich etwas in Acht nehmen
denn die Rasenmäher sind zurück
scheppern laut über alles neue Leben
durch Fensterläden
und verstopfte Ohren
es gefällt mir
sie nur vom Fenster aus
beobachten zu können

Ich lese eine Gratiszeitschrift
greife nach dem aufgewirbelten Staub
wohlwollend und träge
Staubmäuse seid gewarnt
eure Regeln gelten hier nicht mehr

Jetzt im Frühling
wenn alle Toten auferstehen möchten
brennt die Realität noch unter uns
wir warten
wir klatschen

Kakteen und Bienenhäuschen
Kakteen und Lungenversagen

Lea Schlenker

 

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