freiTEXT | Suse Schröder

Formtat

Unsere Eltern warten auf Nachricht. Die sind wir ihnen schuldig. Ständig rufen sie an, aber wir gehen nicht ran. Wir wollen nicht die immer gleichen Gespräche führen. Wir beschließen, aus einer Brauselaune heraus, ihnen zu schreiben. Dafür brauchen wir Input, um ihnen glaubwürdig zu erscheinen und uns selbst zu glauben, und Briefpapier. Bis-dann-H holt ihre alte Postmappe und Stifte. Wir greifen zu.

Wir spielen Wetter Befinden Tätigkeit Essen.
Hab‘s-schön-M schreibt: Gewitter Gabelspagetti Gehen Gut.
Viele Grüße-O findet das zu fad, greift aber auf Hab’s-schön-Ms Gs zurück:
Gerölldonner Gähnen Gnoccisgebraten ganzgutsoweit. Gegen das Gähnen hat Bis-dann-H was. „Gähnen kann auf Langeweile und Müdigkeit hinweisen. Erschöpfung sogar. Da rufen deine Eltern doch erst recht an.“
„Wir könnten Fragen stellen.“
„Ja, kurze! Auf die sie Lust haben schriftlich zu antworten.“
Tschüss-K hört gar nicht mehr auf zu nicken, hat aber auch keine Idee für eine mögliche Umsetzung.
„Unsere Eltern sind doch Generation Handy. Die wollen digital und nicht Zettel und Stift. Meine tippen selbst ihre Einkaufszettel ins Phone.“
„Aber über Post freuen sie sich auch, oder?“
„Wenn‘s keine Rechnungen sind, ja!“
„Sollen wir Fragen zu offenen Rechnungen stellen? Vielleicht sind sie dann erleichtert, dass sie keine haben und wollen uns das dann mitteilen.“
„Mhhh…“, meint Bis-dann-H, während Tschüss-K, Viele-Grüße-O und Hab’s-schön-M wie wild zu schreiben anfangen. Alles-Liebe-Ch schaut zu, wartet ab. Beim G hatte er nicht geglänzt, sich viel blaue Tinte über die Schreibhand geschmiert und nicht mal vorlesen wollen.
„Morgensonne Marmorkuchen mittelmäßig Machen“, liest Tschüss-K und merkt beim Vorlesen, dass sie damit nicht punkten wird. Kein*e andere*r hat eines ihrer Wörter. Diese zählen nur, wenn sie für die anderen ansprechend und für die elterliche Post inspirierend sind.
Viele-Grüße-O liest wieder als Letzter. Auf seinem Blatt stehen mehrere Wörter zu jedem Buchstaben.
„Montagswetter Mäuseschwänze Mittagslaune Magnolienschauen.“
„Mensch, Viele-Grüße-O, richtig lyrisch“, sagt Tschüss-K, weil sie das Gefühl hat, die Stimmung etwas anheizen zu müssen, um sich nicht allein defizitär zu fühlen. Die anderen schweigen, kritzeln Kreise, malen Quadrate auf ihre Briefpapierränder.
„P“, sagt Hab’s-schön-M und tobt übers Papier.
„Pfützenregen Pfannkuchen Piktogrammezeichnen platt“, liest sie schreiend vor, nachdem sie den letzten Buchstaben aufs Papier gesetzt hat. „Eierkuchen oder Pfannkuchen?“, fragt Bis-dann-H und Hab’s-schön-M kann sich nicht entscheiden, weil Pfannkuchen so gut passt, sie aber lieber Eierkuchen mag. „Mit den Piktogrammen finde ich stark“, sagt Viele-Grüße-O und Tschüss-K: „Ja, vielleicht schreiben wir gar nicht, sondern zeichnen.“ Für Minuten ist es still. Hier wird gedacht. „Joa“, sagt Alles-Liebe-Ch und kritzelt auf seinem Papier. Mit rotem Kopf zeigt er seine Zeichen-Zeichnungen in die Runde. Wir raten, aber auch nach dem zehnten Versuch schüttelt Alles-Liebe-Ch den Kopf. Eine Chance haben wir reihum noch. Trotz gegenseitiger Beratung lösen wir keines seiner Bilder auf und verlieren die Lust. „Wollen wir fertig werden? Auf mich übt das ganz schönen Druck aus“, sagt Viele-Grüße-O und Bis-dann-H verschwindet wieder in ihrem Zimmer. Wir hören sie kramen. Sie kommt freudestrahlend mit einem Stapel Postkarten zurück, verwischt sie auf der Tischplatte und legt Briefmarken dazu. Für jede*n von uns eine. „Sucht euch das Bild aus, was euch als erstes anspricht“, sagt sie und Tschüss-K muffelt: „Spielen wir Therapie oder was?“ Bis-dann-H ignoriert Tschüss-K’s Kommentar und formuliert ein mögliches Ziel: „Wir schreiben jetzt jede*r für sich, lecken die Briefmarken an, kleben sie auf und ab geht die Post.“ „Einfach so aus der Kalten?“, fragt Alles-Liebe-Ch. Alle nicken instant, weil das jetzt ein Ende finden soll.
Hab’s-schön-M stellt ihren Handywecker: „Auf! Fünf Minuten!“ Und dann schauen wir uns an, grabschen uns einen Stift, greifen eher wahllos jede*r eine Postkarte und kritzeln los. Als Hab’s-schön-Ms Wecker schrillt, haben wir rote Gesichter, eine flache Atmung, beschriebene Postkarten und Durst. Bis-dann-Hs Vorräte sind bereits aufgebraucht. Wir gehen gemeinsam zum Späti, auch weil davor ein Briefkasten steht. Nach und nach werfen wir alle etwas zu feierlich, Alles-Liebe-Ch sogar sehr albern, unsere Post ein. Ob sich unsere Eltern gefreut, uns gar zurückgeschrieben haben, erzählen wir uns ein anderes Mal. „Abgemacht?“, fragt Tschüss-K. Und dann legen wir alle unsere Hände übereinander und sagen unisono: „Abgemacht!“, sehr laut zur eingeschalteten Laterne hinauf und also in die Nacht, erleichtert und froh, dass wir Dinge geregelt kriegen.

 

Suse Schröder

 

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24 | Helene Lanschützer

Stille Nacht in c-Moll

Feli sitzt am Badewannenrand mit angezogenen Knien unter ihrem Kleid, das sich darüber dehnt wie ein Zirkuszelt. Vor dem Badezimmerspiegel steht Mama und beugt sich über das Waschbecken, biegt die Wimpern mit einer schwarzen Bürste nach oben, legt rosa Farbe auf, dass die Wangen glänzen, kämmt sich die Haare. Manchmal kämmt Mama auch Felis Haare und flechtet ihr danach einen Zopf, einen Rapunzel-Zopf, der bei den Ohren beginnt und bis über den Rücken reicht. Meistens muss sich Feli aber selbst eine Frisur mit einem von Mamas schwarzen Gummis machen, dann schauen die Strähnen oben wie kleine Hügel heraus und die kürzeren Haare fallen vorne in die Augen.
„Heute ist Weihnachten“, sagt Mama und steckt Feli eine glitzernde Haarspange in die Stirnfransen. „Weihnachten ist der einzige Tag im Jahr, wo alle hoffen, dem Glück zu begegnen.“ Sie klingt nicht glücklich. Aber ihr scheint es besser zu gehen, ihre Wangen leuchten rosa und sie hat Feli eine halbe Frisur gemacht.
Jetzt nimmt sie ein Glasfläschchen aus dem Schrank.
„Was ist das?“
„Ein Duft.“ Sie sprüht sich den Duft auf ihren Hals, auf die Handgelenke und reibt sie an den Innenseiten aneinander.
„Was ist das für ein Duft?“ Feli beugt sich wie Mama eben über das Waschbecken und versucht zu lesen, was auf der Flasche steht, kann die Buchstaben aber nicht zu Wörtern zusammenfügen.
„Das ist Parfum de Noël.“
Parfö de Noäl riecht nach Punsch vom Weihnachtsmarkt und den Zimtsternen, die sie bei Felis Freundin zuhause gebacken haben.
„Ist da Punsch drin?“, fragt sie.
„Aber nein.“ Jetzt zuckt es um Mamas Mundwinkel. Kurz sieht sie glücklich aus. „Es ist ein Duft, der nach Zimt riecht. Nach Zimt und Weihnachten.
Sie nickt. „Parfö de Noäl.“
„Das ist Französisch. Irgendwann fahren wir nach Paris, nur wir beide. Zum Eiffelturm und den Croissants.“ Feli nickt wieder. Letzte Woche wollte Mama mit ihr nach Italien, nachdem sie Nudeln aus der Dose aufgewärmt hat.
„Irgendwann essen wir Spaghetti in Venedig auf dem Markusplatz, nur wir beide.“
Feli freut sich schon, wenn sie es schaffen, eine Reise in den Supermarkt zu machen, in die Gemüseabteilung, meistens landen sie bei den Konserven.
Heute hat Mama aber sogar die Jalousien von ihrem Schlafzimmerfenster aufgezogen und gelüftet, im Zimmer hängt noch der Rauch des Nachbarn, der über ihnen auf dem Balkon seine Zigaretten ausdrückt. Heute lässt Mama die Welt in die Wohnung hinein, weil Weihnachten ist. Sogar das Bett hat sie gemacht, falls auch die Oma ins Zimmer hineinschaut.
Auf dem Küchentisch liegen die Zimtsterne, die Feli von ihrer Freundin mitbekommen hat. „Die können wir zum Tee servieren“, sagt Mama und holt Tassen aus dem Geschirrspüler. Feli setzt sich auf das Sofa. Das Wohnzimmer ist im gleichen Raum wie die Küche, Mama nennt es Allzweckzimmer. Sie streicht über den sonnenblumengelben Stoff, er ist glatt, hat keine Falten und Dellen wie sonst, wenn jemand ganz lange darauf liegt. Mama holt die kleine Holzkrippe aus dem Schrank, der Weihnachtsstern über dem Dachgiebel hat früher geleuchtet, doch die Batterien sind schon lange leer. Feli stellt ihren Playmobil-Weihnachtsbaum daneben. Er ist viel zu klein, aber sie haben keinen größeren Baum. Mama hat darauf vergessen und Feli heute Morgen mit zehn Euro noch losgeschickt. Die Weihnachtsbaumverkäuferin hat gelacht. „Mit zehn Euro bekommst du gerade mal einen Ast“, sagte sie und gab ihr dann einen Ast. Aber ohne die zehn Euro zu nehmen, die Feli ihr mit der rechten Fäustlingshand hinhielt. Der Weihnachtsbaumast liegt jetzt neben den Zimtsternen auf dem Küchentisch, ein paar Nadeln sind schon abgefallen.
„Gleich kommen Oma und Opa“, sagt Mama. „Erzähl ihnen nichts davon, dass ich oft müde bin. Das verstehen sie immer falsch. Und hol deine Blockflöte aus dem Zimmer. Wenn es zu viel wird, dann kannst du ein paar Lieder vorspielen.“
Die Lehrerin in der Schule hat immer von einer Weihnachtsstille gesprochen, wenn sie die Kerzen am Adventkranz angezündet hat. Still ist es auch am Küchentisch, als Opa, Oma und Tante Elisabeth auf der Küchenbank sitzen, von groß nach klein, sie erinnern Feli an die unterschiedlich heruntergebrannten Kerzen am Kranz vom ersten bis zum dritten Advent. Tante Elisabeth ist Omas Schwester und wäre an Weihnachten ganz allein gewesen, deshalb ist sie auch mitgekommen, weil sie hier vielleicht hofft, dem Glück zu begegnen. Oma hat Erbsensuppe mitgebracht, die Mama im gleichen Topf aufwärmt, in dem sie vorher das Teewasser erhitzt hat.
„Die Zimtsterne sind hart“, sagt Oma.
„Die habe ich gebacken.“ Feli kratzt den Glitzer von der Haarspange ab. Er fällt auf das grüne Tischtuch.
„Man kann sie gut in den Tee tunken“, sagt Opa und tunkt die weiße Zuckergussspitze in den Tee.
„Es ist schön, euch wieder einmal zu sehen“, sagt Tante Elisabeth. Feli kann sich nicht erinnern, sie jemals gesehen zu haben.
„Wie geht es euch? Man hört nicht oft etwas von dir.“ Oma sieht Mama an.
„Gut geht es uns“, Mama streicht über Felis Kopf. „Sonst würden wir uns melden.“
„Und die Arbeit? Du bist doch nur zu Hause.“
„Mama, ich bin selbstständig. Da arbeitet man zu Hause“, sagt Mama. Feli hat Mama noch nie das Wort Mama zu einer anderen Frau sagen hören. „Wir haben gerade darüber gesprochen, dass wir nächstes Jahr nach Paris fahren wollen, nur wir beide.“
Feli sagt nichts. Mama nimmt die Hand von ihrem Kopf. Feli duckt sich schnell, bevor die andere Hand darüberstreichen kann, und spielt mit dem durchsichtigen Batterien-Häuschen des Weihnachtssterns, macht den schwarzen Schalter an und aus.
„Was wünschst du dir zu Weihnachten, Felicitas?“, fragt Opa.
„Ein Pony“, antwortet Feli. „Ein Pony mit einer Mähne, die man kämmen kann.“
„Das nächste Mal bringe ich Batterien für den Weihnachtsstern mit“, sagt Opa. Feli weiß, dass es lange dauern kann, bis aus dem nächsten Mal wieder ein dieses Mal wird.
„Ich sehe doch, dass es dir nicht gut geht“, sagt Oma über ihren Kopf hinweg, Mama protestiert, das Gespräch läuft weiter. Feli holt das Jesuskind aus der Krippe und lässt es auf das Dach des Stalls klettern. Die Stimmen werden lauter, bald würde es einen Streit geben, bei dem die Türen und Sätze knallen. Bei dem Oma irgendwann ihre Handtasche nehmen würde und ohne ihren Mantel die Wohnung verlässt und Opa ihr mit dem Mantel hinterhergeht.
„Ich kann es nicht mehr hören“, ruft Mama jetzt und Feli möchte auch nichts mehr hören.
„Was riecht denn hier so?“, fragt Tante Elisabeth auf einmal.
Das ist Parfö de Noäl, will Feli sagen, aber da ruft die Oma: „Jessas, die Suppe!“, und Mama rennt zum Herd, wo die Suppe anbrennt, und stellt ihn aus. Sie greift sich mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel, das macht sie immer, wenn sie erschöpft ist.
„Soll ich etwas auf der Flöte spielen?“, fragt Feli.
„Das ist doch eine gute Idee“, sagt Opa und Feli holt ihr Notenheft, schlägt Stille Nacht auf, weil es das einzige Lied ist, was sie gut kann. Sie presst die fünf Finger der linken Hand auf die oberen Löcher und beginnt auf dem g. Das Lied kann sie auswendig, sie muss gar nicht auf die Noten schauen. Auf einmal wird es still im Raum. Eine Weihnachtsstille, denkt Feli und als sie am Ende des Liedes angekommen ist, fängt sie wieder von vorne an. Sie würde nicht mehr aufhören, Stille Nacht zu spielen, weil es noch nie so weihnachtlich still im Allzweckzimmer gewesen ist. Es gibt keinen Streit, keine lauten Stimmen mehr, nur noch Stille Nacht auf der Blockflöte. Manchmal holt sie kurz Luft, streicht sich die Spucke von den Lippen und macht weiter. Sieben Mal fängt sie von vorne an, bis sie eine Hand an der Schulter spürt. Sie riecht den Weihnachtsduft. „Jetzt ist es genug“, sagt Mama. Und Opa applaudiert.

 

Helene Lanschützer

 

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20 | Guillermo Millán Arana

Eierpunsch

Obwohl wir in derselben Kleinstadt wohnten, sah ich meinen Großvater nur bei bestimmten Familienfesten. Traf trifft es besser, denn ich sah ihn oft. Ich erinnere mich an einen Herbstabend, als ich mit meinen Eltern auf dem Heimweg von einer Gaststätte war, als in einer Seitenstraße eine Kneipentür vor uns aufging und sein scharfes Lachen zu hören zu war. Durch eines der beschlagenen Sprossenfenster sah ich meinen Großvater mit hochrotem Gesicht in einer Gruppe von Männern stehen. Er packte einen jungen Kerl, aus seinem Schützenverein, denke ich, am Kragen, nahm ihn grob in den Schwitzkasten und verpasste dem verlegenen Burschen mehrere Backpfeifen mit der freien Hand. Die anderen schienen sich zu amüsieren, klatschten, johlten meinem Großvater zu. Ich sah hinauf zu Mama. Sie sagte nichts. Dann stupste sie mich an und wir gingen weiter. Ich weiß nicht, ob meine Mutter wollte, dass ich das sehe.
So munter er in der Gesellschaft seiner Freunde war, setzte mein Opa auf Familienfesten sein Schweigen durch. Dafür musste er nichts unternehmen, oder zumindest nicht aktiv, da er mit seinem Naturell für Ruhe sorgte. Für gewöhnlich apathisch, haftete seinem Ausdruck, vor allem zu Tisch, eine gewisse Verärgerung an, ja fast ein unterdrückter Zorn. Die zuckenden Augenbrauen, die zusammengepressten Lippen, das leicht abgewandte Gesicht, der fliehende Blick, der, wenn man ihn erwischte, nur mit einer Art automatischem Misstrauen entgegnet wurde; das alles vermittelte uns anderen Familienmitgliedern die stille Botschaft, im Grunde unerwünscht zu sein, dass er den Abend lieber allein verbringen wollte.
Auch wenn die Stimmung auf solchen Familienfeiern lebhafter wurde, geschah das nur zu seinen Bedingungen. Zu Weihnachten etwa löste sich das Gemüt meines Großvaters nur, wenn es Eierpunsch gab. Obwohl ich ein kleines Mädchen war, konnte ich ausrechnen, wie sich seine Stimmung veränderte, wenn er trank. Zwei Gläschen waren das goldene Maß, dann überkam Opa eine seltsame Rührseligkeit. Das war uns Kindern unangenehm, denn in der Phase des Abends wurde er auf seine Weise zutraulich: Mein Cousin Tommy bekam zum Spaß einen Tritt in den Hintern, mir fuhr er erst mit sanfter Hand durchs Haar, um mir zur Pointe mit einem Jauchzer an den Zöpfen zu ziehen, und Max, der Sohn meiner Tante Sabine, der laut Mama aus einer flüchtigen Liebesnacht entstanden war, nannte Opa „mein kleiner Bastard“.
Beim sechsten Gläschen wurde er allmählich gemein. Er frotzelte über jede unserer Ideen, fast mit einem Krächzen, begleitet von einem Schwung seines gedrungenen Leibes. Schon damals kam mir seine Ausgelassenheit gezwungen vor, als erlaube ihm der Suff, seine höhnischen Zwischenrufe in die Form eines Lachens zu kleiden. Die Erwachsenen stellten sich für gewöhnlich dumm, vor allem nach dem Essen: Die Frauen wandten sich ab, plauderten am Erwachsenentisch, die Männer gingen zum Kindertisch, um Skat zu spielen und zu rauchen, während wir Kinder Zuflucht vor Opa suchten. Wenn er mir viel Angst machte, suchte ich Mama mit den Augen. Stumm erwiderte sie meinen Blick und schaute dann verlegen auf die Tischdecke. Für Oma war es am schlimmsten. Abends, oft waren wir Kinder noch wach, kam unweigerlich die Zeit, in der sie meinen Großvater ins Bett bringen musste. Später, wenn wir Kinder im Flur spielten, hallte sein Schnarchen als Echo seiner Hänseleien aus dem Schlafzimmer.
Nur durch Zufall erfuhr ich, dass Opa den Eierlikör zubereitete, aus dem Oma dann zu Weihnachten den Eierpunsch machte. (In der Verwandtschaft ging man davon aus, dass nur Oma etwas damit zu tun hatte, und jedes Jahr aufs Neue erntete sie aufrichtiges Lob für den guten Punsch. Wenn ich Eier nur rieche, wird mir übel; trotzdem habe ich diesen Eierpunsch oft und gern getrunken.) Einmal, ich war etwa fünfzehn, fuhren wir unangemeldet zu meinen Großeltern. Heiligabend war noch eine Woche hin. Die Englischlehrerin hatte darauf bestanden, den zweiten Teil von Henry IV aufzuführen, und mein Bruder sollte John Falstaff spielen. Mama hatte schleunigst sein Kostüm zusammenzunähen, für das sie Omas Stoffsammlung durchstöbern wollte. Oma stand zunächst ganz verdutzt in der Tür und ich war mir kurz sicher, dass sie uns nicht reinlassen würde. Aber Mama schob sich murmelnd an ihr vorbei und ging auf den Dachboden. Oma bat mich ins Haus, und deutete verstreut mit dem Kopf zur Küche. Bevor ich eintrat, schien sie zu zögern, aber sie tat nichts. Opa stand hemdsärmlig in der Küche. Auf der Arbeitsfläche vor ihm lagen die Zutaten ausgebreitet: Eier, Rum, Puderzucker, ein Glas Wasser, eine Vanilleschote. Fast eindringlich lud er mich ein, einzutreten. Sorgfältig verrührte er Schritt für Schritt alle Zutaten. Aus der Vanilleschote schnitt er mit geübter Hand das Mark heraus.
Er sprach kaum, murmelte gelegentlich vor sich hin, dass man den Fusel aus dem Supermarkt nicht nehmen dürfe, weil man sonst die heilige Jungfrau beschmutze. Oder auch, dass die ganze Welt im Ei stecke. Aber das wirklich Erstaunliche war, ihn so in etwas vertieft zu sehen, so in sich ruhend. Oft habe ich darüber nachgedacht, ob er an jenem Nachmittag sein wahres Wesen offenbarte. Aber auf der Weihnachtsfeier zeigte er sein übliches Gesicht. Diesmal fiel ihm mein Bruder zum Opfer. Mein Opa, der schon beim siebten Gläschen war, grölte ihm zu, er solle doch Shakespeare rezitieren. Mein Bruder antwortete nur: „Fuck you.“ Großvater brüllte vor Lachen. Als mein Bruder später an ihm vorbeiging, schlug ihm Opa so heftig in den Nacken, dass mein Bruder vornüberfiel und erst einmal liegen blieb. Mama sagte nichts, sie sah Opa nicht einmal an. Wir halfen meinem Bruder auf die Beine und gingen sofort heim. Nach dem Vorfall haben wir nur noch im kleinen Kreis gefeiert.
Opa starb ein paar Jahre nach Oma. Mama, die ihn hin und wieder im Pflegeheim besuchte, sagte uns eines Tages am Esstisch, dass es ihm schlecht gehe. Ich sah sie an und hatte das Gefühl, dass sie sich seinen Tod wünschte, aber ich sagte nichts. Einige Wochen später teilte sie uns mit, dass er gestorben sei. Ich glaubte, Erleichterung in ihrem Gesicht zu sehen, und schwieg. Neulich habe ich zum ersten Mal versucht, mit ihr über Opa zu sprechen. Sie sagte, sie wisse genauso viel über ihn wie ich.

 

Guillermo Millán Arana

 

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18 | Chili Tomasson

Die Brücke am Ostufer

Die Kinder spielen Fußball. Sie spielen ohne schreiende Väter neben dem Platz. Sie spielen ohne weiße Markierungen am Spielfeld. Sie spielen mit einem Plastikball auf einer Wiese.

Ich öffne das Fenster in der Küche.
Das Wetter am Wochenende bleibt beständig. Montags fällt die Temperatur unter 20°, aber die Stromleitungen sind intakt.

Wir wohnen in einem Einfamilienhaus am Stadtrand. Die Solarpanele wurden staatlich gefördert und vergangenen Sommer auf dem Dach montiert. Die Einfahrt ist mit hellgrauen Steinen gepflastert und eine schmale Mauer trennt sie an beiden Seiten vom Rasen. Das Gras ist kurz geschnitten und jeden Frühling freue ich mich über die ersten Triebe der Stockrosen.
Seitdem die Brücke gesperrt ist, brauche ich jeden Tag mehr als eine Stunde, um in die Arbeit zu kommen. Der Ausbau der Straßen wurde bereits vor Jahren versprochen, aber die Bauarbeiten haben erst vergangenen Mai begonnen. Ich denke, dass es noch mehrere Jahre dauern wird, bis die Umfahrungsstraße fertiggestellt sein wird.

Im Sommer erscheint mir der Berufsverkehr lauter als sonst. Es ist schon hell, wenn ich auf die Hauptstraße einbiege und ich bemerke, wie sich die Hitze allmählich über den Asphalt legt. Die Luft entfaltet sich langsam und schwer. Im Rückspiegel erkenne ich das Ausmaß der äußeren Bezirke. Sie wachsen stetig und orientieren sich an den Büros im Zentrum und den Fabriken im Süden der Stadt.
Im Sommer habe ich, wie alle anderen, die Fenster unten, während ich an der Ampel warte.

Der Regen zieht nach Südosten ab, von Norden her lockern die Wolken allmählich auf. Mäßiger bis lebhafter Westwind. Die Temperaturen erreichen 17° bis 22°.

Arbeitszeiterfassung:

Arbeitsbeginn: 09.00
Kaffeepause: 11.15
Arbeit: 11.30
Mittagspause: 13.00
Arbeit: 13.30
Kaffeepause: 16.00
Arbeit: 16.15
Arbeitsende: 18.00

Seit vermehrt über Einbrüche berichtet wurde, versperre ich das Garagentor und die Eingangstür hinter mir, wenn ich zu Hause ankomme. Es verursacht keinen Mehraufwand und verschafft Sicherheit.
Ich weiß, dass alle hören, wenn ich nach Hause komme. Trotzdem rufe ich immer nach ihnen, während ich mir die Schuhe ausziehe.

Vom Küchenfenster aus kann ich den ganzen Garten überblicken. Kommendes Wochenende werde ich den Rasen mähen und die Hecke schneiden. Die Stockrosen haben bereits zu blühen begonnen und die Tage sind lang.
Abends erzähle ich von der Arbeit. Wir sprechen über die Prognosen der bevorstehenden Wahlen. Ich schneide das Gemüse und wasche den Salat. Dann essen wir alle gemeinsam zu Abend.

Kühl, trüb, unbeständig. Im Süden sind leichte Regenschauer zu erwarten. Die Schneefallgrenze sinkt hier gegen 2000m Höhe. Ansonsten bleibt es größtenteils trocken. Leichter bis mäßiger Nordwestwind. 13° bis 18°. In 1500m Höhe um 5°.

Bevor ich schlafen gehe, sitze ich noch eine Weile im Wohnzimmer und lese in den Fachmagazinen.
In der darauffolgenden Nacht träume ich erneut:

Vom Ostufer aus sehe ich die Abschussrampen und Raketenfelder. Das Einfamilienhaus steht am Stadtrand.
Die Luftwaffe hat nach eigenen Angaben gestern drei Kampfflugzeuge im Süden des Landes abgeschossen;
oder
Drei Kampfflugzeuge seien mittags in der südlichen Einsatzzone abgeschossen worden.
Die Behörden machten bislang keine weiteren Angaben zu dem Vorfall. Die Zahlen können nicht unabhängig überprüft werden. Die Streitkräfte wehrten zuletzt weitere Angriffe im Süden ab. Dort spielen die Kinder Fußball. Sie spielen ohne schreiende Väter neben dem Platz. Sie spielen ohne weiße Markierungen am Spielfeld. Sie spielen mit einem Plastikball auf einer Wiese.

 

Chili Tomasson

 

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15 | Sonja Grebe

Provinzmond

Klirrend kalt, wolkenlos. Der runde Mond strahlt wie Flutlicht vom Himmel. So stechend hell, dass die Dinge Schatten werfen und sie selbst in scharfer, quarzweißer Klarheit hervortreten, überscharf; ich betrachte entfernte Häuschen durch die Lupe aus gläserner Luft und kann jede Dachpfanne einzeln glitzern sehen. Dunkel schimmern das Gefieder der Krähen, die in der Pappel schlafen, die nassen Steine im Bach, Flaschenscherben an der Regiobus-Haltestelle, Isolatoren an Weidezäunen, Misteln, Hagebutten, die Bugwellen eines Kanalschiffs. Im Weltall-Licht entziffere ich, was mir die Risse und Teerflicken der Landstraße buchstabieren. Das Licht glasiert ausgeblichene Schilder, „Zum Dorfkrug“, „Änderungsschneiderei“, „Schlachterei und Partyservice“, „Spielhalle“, es löscht oder verbläut Farben, es versilbert die Nachtstunden der Füchse, Feldmäuse, Kleinkinder und wem sonst noch mit Uhrzeigern nicht geholfen ist. Alles gleißt still. Unterm Mond wird alles überdeutlich und zugleich unbeschaulich. Der kirschrote Rahmen des leeren Kaugummiautomaten glänzt tollkirschdunkel, die Nietbolzen der Kanalbrücke sind metallische Käferpanzer, der Horizont ist ein Streifen Magnetband. Gartenschaukeln, Bänke, Jägersitze, ein Bauschutt-Container (5 Kubik), Strommasten, Storchennester, die örtliche Motorsirene, der rostige Baukran, freistehende Bäume sind jetzt Skulpturen, rätselhafte Kultobjekte. Die Strahlung ergießt sich in die flächige Weite, sie sickert hinab zu den Knollen und Engerlingen in der Erde, drängt hinein in die Höhlen der Tiere und auch in die Häuser, Boote und Autos der Leute, sie erfasst alles, kennt alles persönlich. Mich genauso. Der Mond sieht mich spazieren gehen. Der Mond sieht mich einen Stein aufheben, von dem ich kurz glaubte, er würde atmen. Da rauscht ein VW Passat – heraldisches Gerät dieser Region – um die Kurve und spuckt Musik. Soweit kein Ereignis. Aber die Musik, die jetzt an mir vorüber schwallt, kommt hier sonst nie vor: 54-46 was my number höre ich Toots & The Maytals singen. Mondweiße Wildschweine würden mich weniger verwundern. „Solche Leute gibts hier?“ Der Mond blinzelt nicht mal. „Wie lange weißt Du schon davon?“, frage ich ihn vorwürfig.

 

Sonja Grebe

 

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12 | Laura Kind

Schwestern

Wind kommt auf. Ich spüre die Steine unter den Sohlen, das Salz auf meinen Lippen. Das Licht bricht sich in den Kristallen und verbrennt meine Lippen, bis sie kleine Bläschen bilden. Doch das ist später. Jetzt schmecke ich noch das Salz und fühle den Wind, die Erde unter den Füßen. Der Weg ist eng und ich muss ausweichen, als wir von einer Gruppe Wandertouristen überholt werden. „Amis“, sagt Jasna und ich nicke, was sie nicht sehen kann. „Michigan“, sage ich und denke, dass ich noch nie in den USA war. Ich schaue an mir herunter, auf meine Tchibo-Sporthose und die Meindl-Wanderschuhe. Dann hefte ich den Blick wieder auf den Rücken der Schwester. Sicher setzt sie einen Fuß vor den anderen. Ihr Schritt ist zügig und ich muss mir Mühe geben mitzuhalten.
„Alles okay da hinten?“
„Alles okay.“
„Komm, wir machen eine Pause.“
„Nicht nötig.“
Sie muss sich nicht umdrehen, damit ich ihre Zweifel im Gesicht sehen kann, die hochgezogenen Augenbrauen, die gerunzelte Stirn. Sie ist die Sportliche von uns beiden, egal wie viele Kilometer ich joggen gehe und wie viele Kilos ich abends nach der Arbeit im Gym stemme. Jasna läuft vorneweg und ich laufe hinterher. Ihre Füße finden ohne Zögern den nächsten Stein und ich setze meinen Fuß auf genau dieselbe Stelle. Manchmal gehe ich extra einen schwierigeren Weg, um nicht in ihre Fußstapfen zu treten. Doch meist wirft mich das dann ein paar Meter nach hinten und Jasna muss auf mich warten. Die Sonne bricht durch das Geäst und sprenkelt den Weg vor mir mit zuckenden Lichtern. Der Rosmarin wächst hier in üppigen Büschen. Der Oleander leuchtet im Staub. Ab und an blitzt das Blau des Meeres durchs Grün.
Ich spüre, wie meine Waden krampfen. Mein BH-Träger reibt schmerzhaft über einen Mückenstich. Es war Jasnas Idee, diesen Urlaub zu machen. Dabei haben wir eigentlich genug zu tun. Die Wohnung muss ausgeräumt werden und das kann dauern. Der Vater war ein Sammler. Er hat alles Mögliche konservieren wollen: Korken, Zuckertütchen aus Cafés, in denen er mit Mutter war, alle Ausgaben der Zeit. Doch Jasna hat darauf bestanden: „Jetzt, wo wir nur noch zu zweit sind. Da wäre das doch gut für uns, meinst du nicht?“, hat sie gesagt. Ich höre noch ihre aufgesetzte Fröhlichkeit durch den Telefonhörer. Das ist ihre Stimme, wenn sie sich selbst überzeugen will, wenn sie mir und sich sagen will, dass alles in Ordnung ist. Und dann ist es meine Aufgabe schnell einzustimmen, um das zu bestätigen. „Okay“, habe ich gesagt und meine Stimme nahm den Klang ihrer an und wir sagten beide „Schön.“, und legten auf.
Der Weg wird immer steiler. Die Sonne steht höher am Himmel und brennt mir im Nacken und auf der Kopfhaut. Ich hätte einen Hut mitnehmen sollen. „Willst du meinen?“, hat Jasna im Hotel gefragt, bevor wir losliefen. Ich musste nicht antworten. Die Schwester wusste auch so, dass ich ablehnen würde. Jasna wirft mir einen Blick zu. „Ganz schön anstrengend, was?“ Sie blickt mich dabei fröhlich an und sieht überhaupt nicht angestrengt aus. Mein T-Shirt klebt an meinem unteren Rücken. Ansonsten ist alles trocken: Der Staub unter meinen Fußsohlen, das Geäst, wie es knackt, wenn ich es zur Seite schiebe, meine Kehle, denn ich habe natürlich zu wenig Wasser eingepackt.
„Hier ist es.“ Meine Schwester steht auf einem Plateau und deutet mit dem Finger auf den Abgrund. „Schön, nicht wahr?“ Die Felsen schneiden scharf in den blauen Himmel, der über dem Azur des Wassers verblasst. Gewaltige Wassermassen schlagen gegen die Steilküste, doch hier oben ist nichts davon zu hören. Der Wind legt sich über meine Ohren, verschließt sie vor jedem Geräusch. Mit der nächsten Böe verliere ich kurz das Gleichgewicht. Die Angst vor dem freien Fall ist ein kraftvolles Lehnen gegen den Wind, verzögert um eine halbe Sekunde, die mich vor mir selbst erschrecken lässt.
Jasna steht direkt neben der Abbruchkante. Der Wind wirbelt ihre Haare durcheinander, so dass ich ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen kann, wie damals, kurz bevor wir ins Meer sprangen. Ich erinnere mich an den Sog, der an meinen Beinen, an meinem ganzen Kinderkörper riss, spüre noch die Strömung, die mich herumwirbelte, als wäre ich kein Kind, sondern bereits Schaum geworden. Ich erinnere mich an die Angst, die sich in mir breitmachte, mir den Atem nahm, ebenso wie das Wasser. Ich sah die Schwester, die das Wettschwimmen gewonnen hatte, natürlich hatte sie das, und die jetzt zum Strand schwamm. Das nächste, an das ich mich erinnere, ist das Gesicht des Vaters, in das ich Wasser spuckte.
Jasna blickt mich jetzt erschrocken an. „Vorsicht!“, ruft sie. Dann zieht sie mich zu sich. „Du musst aufpassen!“ Ich schüttele den Kopf. „Ist doch alles gut“, doch mein Herz klopft in der Kehle, so dass sich die Worte ganz dünn machen müssen, um am Herzen vorbeizukommen. „Nichts passiert.“
Jasna holt tief Luft. „Weißt du, ich habe keine Lust, dass du auch…“
„Was?“
„Wir sind nur noch zu zweit.“
„Und was ändert das?“, will ich sagen, aber ich zucke nur mit den Schultern und laufe an der Schwester vorbei. Auf dem Geröll rutsche ich ein paarmal weg, verlangsame meine Schritte aber nicht. Am Ende des Weges bleibe ich stehen. Ich setze mich auf einen Stein und blicke auf den Hafen. Die Schiffe liegen sanft schaukelnd nebeneinander. Der Wind hat sich beruhigt. Das Wasser liegt wie ein ausgebreitetes blaues Tuch vor mir, nur dann in Falten geworfen, wenn jemand mit seiner teuren Yacht in den Hafen steuert.
Ein Schatten läuft über den Weg und bleibt vor mir stehen. „Deutscher“, sagt Jasna.
Ich betrachte den Mann, der seine Jolle in den Hafen fährt. „Vielleicht“ sage ich.
„Kommst du mit schwimmen?“
Ich schüttele den Kopf und stehe auf. Dann gehe ich zum Hotel und packe meine Sachen.

 

Laura Kind

 

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11 | Kerstin Hatzi

Glitzer im Gesicht

Schillern ist ein schwaches Verb, sagst du. Und ich nicke, obwohl wir beide etwas vollkommen anderes meinen.
Das ist eine Geschichte, die Sie so oder so ähnlich schon tausendmal gehört haben. Aber man glaubt ja immer, man selbst sei etwas Besonderes, oder?

Also: ICH
Ich bin in einer Stadt, die sehr nah an der Stadt ist, die einmal meine war. Ich bin in einer Stadt, die oft als pittoresk oder malerisch, manchmal auch nur als charmant beschrieben wird. Ich lasse mich davon nicht beirren. Denn: Es ist eine Stadt wie für mich gemacht. Eine mit der genau richtigen Anzahl an Menschen, zu viele, um ganz zu verschwinden, zu wenige, um nie wieder aufzutauchen. Eine mit ausreichend Gassen, um sich zu verlaufen und einer Sprache, die ich nicht spreche. Ich bin seit elf Tagen in dieser Stadt und war noch nicht beim Amt. Habe bisher keinen Supermarkt von innen gesehen, die Wohnung nicht eingerichtet, mit niemandem so etwas wie ein Gespräch geführt. Aber ich habe ein Café gefunden, eines mit durchgesessenen Polstermöbeln und Plastikblumen am Tisch, wo es immer irgendwie nach Rauch und Frittierfett riecht, obwohl keine Speisen serviert werden. In diesem Café trinkt nie, wirklich nie jemand Kaffee, sondern nur Bier und Wein und wenn gar nichts mehr geht, dann einen Kurzen.
Und so sitze ich jeden Abend in dem Café, das eigentlich eine Bar ist, und trinke ein Glas Wein, rauche, schreibe und frage mich: Bin ich jetzt offiziell Autorin oder nur ein Klischee?

Und DU…
Du sagst: Du hasst Menschen, aber liebst deine Freund:innen.
Du isst seit fünf Jahren kein Fleisch, aber Leberkässemmel einmal im Monat muss einfach sein.
Du findest Montage schmecken salzig und Donnerstage sind blau.
Du kannst das Meer nicht riechen und schwitzt nur an der Nase.
Du rechnest mit deinen Fingern und kannst bis heute kein Rad schlagen. Und es ist dir egal.
Du bist lieber laut als leise. Zu spät als zu früh. Zu viel als zu wenig. Mehr Bauch- als Kopfmensch.
Du liest Romane nie, wirklich nie zu Ende, aus Prinzip, sagst du und funkelst mit deinen grünen Augen, die manchmal blau, manchmal grau sind.
Manchmal glaube ich, alles über dich zu wissen. Jeden Schritt und jeden Atemzug vorhersehen zu können.
Aber wo du jetzt gerade bist, was du tust, denkst oder fühlst, das weiß ich nicht.

Also: ICH
Liege da, Arme und Beine von mir gestreckt, liege da und starre an die Zimmerdecke, liege da und schwitze in mein Leintuch, liegt einfach da, in diesem, meinem Zimmer, das sich fremd anfühlt, in dieser, meiner Wohnung, die noch kein Zuhause, in der Gerüche noch nicht vertraut, Geschichten noch nicht Einzug gehalten haben.
Mein Blick wandert durch den Raum und bleibt an meinem Leben hängen, das in 6 Umzugskisten, 2 Koffer und 4 Ikea-Tüten passt. Vor zwei Wochen und drei Tagen in der hintersten Ecke des Zimmers abgestellt, seit zwei Wochen und drei Tagen nicht mehr angerührt.
Schreibtisch, Klappstuhl, Schrank, Bücherregal, das ohne Bücher eigentlich streng genommen nur ein Regal ist. Alles an seinem Platz, alles so wie es die Mieterin vor mir verlassen hat. Nur die feine Staubschicht, die ist neu.
Als ich meiner Mutter vor drei Tagen am Telefon von dem Umzug erzählte, nannte sie ihn ein „mutiges Projekt“. Ich wollte sie korrigieren. Wollte einwerfen, dass es sich hierbei um nichts Geringeres als um mein Leben handelt. Aber ich schwieg. Für meine Mutter ist seit der Scheidung alles ein Projekt: Töpferkurs, Darmreinigung, Mutterschaft. Mein Vater war nicht zu erreichen. Also schrieb ich ihm eine SMS, schrieb, dass ich raus musste, aus der Wohnung, der Stadt, sogar aus dem Land. Er antwortete per Mail. Schrieb, ihm tue das alles schrecklich leid für mich, aber, und das müsse er jetzt auch mal sagen als mein Vater, er müsse sagen, dass ihn das alles nicht wundere, eine Expertin für das Leben sei ich schließlich noch nie gewesen.

Und DU…
Wenn du lachst, bebt der ganze Körper. Die Mundwinkel ziehen nach oben, die Nasenlöcher weiten sich, die Augen werden zu schmalen Schlitzen. Wenn du lachst und prustend deinen Kopf nach hinten wirfst, wenn du lachst und mit den Händen auf deine Schenkel klopfst, drehe ich mich beschämt zur Seite.
Wenn du einen Raum betrittst, nimmst du ihn ein. Du machst das nicht absichtlich. Aber du machst es und bist in Sekundenschnelle mit allem eins. Mit jedem Menschen, jeder Zimmerpflanze, jedem Molekül. Wenn du einen Raum betrittst und in deinem Element bist, alles und jeden in dich aufsaugst, raubst du mir die Luft zum Atmen.

Also: ICH
Ich sitze in dem Café, das eigentlich eine Bar ist, und scrolle mich stundenlang durch alte Fotos am Handy. Ich sehe diese Frau, Anfang/Mitte Dreißig.
Die Frau isst Döner, vegetarisch, aber mit Zwiebeln, viel Zwiebeln
und trinkt Cola, nicht light, sondern normal.
Die Frau reist allein durch Vietnam und streichelt Esel in Marokko
Sie gewinnt im Backgammon
und zockt im Casino
Die Frau knutscht Fremde
und tanzt barfuß in Clubs
Sie trägt Glitzer, oft und viel Glitzer im Gesicht.
Und ich erkenne die Ähnlichkeit, ich kenne die Frau, aber ich weiß, ich kann das nicht sein. Ich kann das nicht sein, weil ich weiß, was ein Foto nicht ist:
ein Abbild,
ein Ausschnitt,
ein Dokument der Wirklichkeit.

Ich sitze in dem Café, das eigentlich eine Bar ist und schreibe in mein Notizheft. Ich schreibe: Was es bedeutet zu gehen, Doppelpunkt. Ich schreibe:
Du wirst nicht essen.
Du wirst nicht schlafen.
Du wirst nachts Geister jagen.
Du wirst nicht eine, sondern 20 Hände brauchen, die dich halten und die ersten Meter tragen.
Du wirst in dich zusammenfallen und immer weniger und weniger, aber alle werden sagen: Gut sieht sie aus.
Du wirst nicht alles, aber das meiste in Frage stellen.
Aber am Ende wird es besser sein.

Weil ich nicht Schritt halten kann
und du eine 5er Pace hast.
Weil ich neben dir immer ein bisschen weniger Feministin bin
und du immer nur du.
Weil ich irgendwann mehr sein möchte als nur eine Aneinanderreihung von Möglichkeiten
und du doch nur in deiner Inkonsequenz konsequent bleibst.

Und dann erinnere ich mich wieder, an den Moment:
Drei Tage bevor ich die Wohnung, die Stadt, ja sogar das Land verlassen musste.
Wir stehen im Badezimmer. Es ist schon hell, wir waren noch nicht im Bett, wir haben wie so oft die Tanzfläche zu spät verlassen.
Schillern ist ein schwaches Verb, sage ich und nicke. Schaue in den Spiegel. Sehe meine grünen Augen, die manchmal blau, manchmal grau sind. Sehe die kleinen Schweißperlen auf der Nase. Sehe zu viel Farbe, zu viel Glitzer, zu viel von dir. Nur mich – mich sehe ich nicht.
Das ist eine Geschichte, die Sie so oder so ähnlich schon tausendmal gehört haben. Das ist eine Geschichte, die sich so oder so ähnlich oder ganz anders zugetragen hat. Und ich denke mir, ich will das niederschreiben. Will mich aufs Papier bringen. Neu verfassen. Aber ich finde den Ausdruck nicht. Alles schon gesagt.
Und trotzdem weiß ich irgendwie: Ich bin noch nicht auserzählt.

 

Kerstin Hatzi

 

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7 | Jutta Schüttelhöfer

Der Ententeich

Ihre Schritte knirschen auf dem leicht abfallenden Schotterweg. Sie geht langsam, vorsichtig, um nicht erneut zu stürzen. Vor einer Woche gab es ein paar frostige Nächte. Da hat sie in der Dunkelheit früh morgens auf dem gefrorenen Boden den Halt verloren. Ihr rechtes Knie ist noch immer blaugrün verfärbt. Aber zimperlich war sie nie. Sie zwingt sich trotz Schmerzen in Bewegung zu bleiben.
Sie ist jetzt 94. Inzwischen ist sie immer zu früher Stunde auf den Beinen. Ihre schmerzenden Knochen treiben sie zeitig aus dem Bett. Früher liebte sie es auszuschlafen. Manchmal begann ihr Tag erst zur Mittagszeit. Aber das ist lange her. Wenn sie nun morgens noch vor der Dämmerung allein in ihrer Wohnung hockt und neben ihrem eigenen Atem bloß das Ticken der Küchenuhr die Stille durchdringt, verlässt sie zuweilen bereits in der Dunkelheit das Haus, um nicht in tiefer Einsamkeit zu versinken. Die Geräusche des anbrechenden Tages außerhalb ihrer Wohnung verleihen ihr ein Gefühl von Lebendigkeit, das sie drinnen allzu oft vermisst.
Heute hat sie jedoch eine Weile gebraucht, bis sie das Haus verlassen konnte. Ihre Schlüssel lagen nicht am vorgesehenen Platz auf der Flurkommode. Seit über 30 Jahren wohnt sie hier. Seither liegt ihr Schlüsselbund, wenn sie nicht unterwegs ist, immer in der kleinen Keramikschale auf der alten Kommode aus Mahagoniholz. Bloß heute nicht! Über eine halbe Stunde suchte sie vergeblich danach, ohne eine Erinnerung zu haben, wann sie diesen das letzte Mal in der Hand hatte. Mehr zufällig fand sie ihn schließlich auf ihrem Nachttischchen.
In letzter Zeit passiert das öfter. Gegenstände verschwinden und tauchen plötzlich an Orten wieder auf, wo sie sie sicher niemals hingelegt hat. Erklären kann sie sich das nicht. Inzwischen hat sie allerdings aufgehört, über diese Seltsamkeiten nachzudenken. Sie möchte nicht kostbare Lebenszeit mit Grübeleien verschwenden. Zumal ihr alle diese Vorkommnisse bisher ein Rätsel geblieben sind. Ganz egal, wie lange sie darüber auch sinnierte.
Der scharfe Wind weht ihr eisig ins Gesicht. Es sind höchstens ein bis zwei Grad über null, denkt sie und zieht sich die Wollmütze tiefer in die Stirn. Am Ententeich setzt sie sich auf eine Bank. Stehen kann sie nicht mehr lange, denn nach wenigen Minuten protestieren ihre Knie. Auch das Laufen fällt ihr schwer und die Strecke ist mittlerweile, obwohl der Park nicht weit von ihrer Wohnung entfernt ist, eine kleine Herausforderung für sie. Trotzdem kommt sie oft hierher. Sie liebt die Ruhe, besonders am frühen Morgen.
Langsam durchdringt die Feuchtigkeit der zum Teil mit Moos überzogenen Holzbank den dünnen Stoff ihrer Hose. Normalerweise hat sie eine Plastiktüte als Sitzunterlage dabei, doch auch die scheint heute auf mysteriöse Weise verschwunden zu sein.
Die Enten hocken schlafend an der Uferböschung. Ihre Schnäbel tief im dichten Gefieder vor der Kälte geschützt. Die Brötchentüte knistert, als sie sie aus ihrer Handtasche zieht. Ein paar Enten drehen die Köpfe in ihre Richtung. Sie schüttet die Krümel auf den Rasen und sieht zu, wie Leben in die Gruppe kommt. Eine Weile beobachtet sie, wie die Tiere sich auf das Futter stürzen. Dann lässt sie ihren Blick staunend über den See gleiten, als betrachtete sie ihn zum ersten Mal in ihrem Leben.
Sie genießt die Ruhe, lauscht auf das Schnattern zu ihren Füßen und fragt sich, warum sie diesen wundervollen Ort nicht schon früher einmal besucht hat. Als die Sonne hoch über dem Park steht, sitzt sie noch immer auf der Bank. Wenn sie sich doch nur erinnern könnte, wo sie zuhause ist.

 

Jutta Schüttelhöfer

 

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5 | Claudia Dvoracek-Iby

True Colors

Abstimmung. Zuerst zählt die Prof die erhobenen Ja-Hände. Dann die Nein-Hände. Die Ja-Hände sind in der Mehrheit.
Leon (empört): Lächerlich! Wieder dieses Kinderspiel. Und das in der Maturaklasse!
Iris ((gespielt) empört): Richtig. Wir sind inzwischen achtzehn und nicht acht!
Die Prof (lachend): Engerl-Bengerl ist Tradition. Ihr werdet es auch dieses letzte Jahr überstehen.
Meine Nein-Hand schreibt widerwillig meinen Vornamen auf ein Blatt Papier. Faltet es zusammen. Wirft es in die Box, welche die Runde durch die Klasse macht. Zieht dann wenig später einen der Namenszettel. Steckt ihn schnell in die Hosentasche.
Ich hoffe so sehr, dass ich nicht seinen Namen gezogen habe. Dark.
Ich hoffe so sehr, dass ich seinen Namen gezogen habe. Dark.
Dass er meinen gezogen hat, ist nicht möglich. Er ist nicht da. Krankgemeldet. Doch die Prof hat seinen Namen aufgeschrieben. Und ihn in die Box zu den anderen gelegt.
Dark heißt eigentlich Jonas. Ist aber Dark. Zweitens, weil er immer dunkel gekleidet ist. Und erstens wegen seinem schwarzen Labrador. Darky. Mit dem er jede freie Minute verbringt. Jeden Abend, wenn ich im Stadtpark unter der Trauerweide oberhalb des Teiches sitze, sehe ich die zwei. (Ob Dark mich wahrnimmt? Ich weiß es nicht.)
Sie laufen immer den Teich entlang. Seite an Seite. Ihre tiefe Verbundenheit ist spürbar. Schön ist das zu sehen. Die beiden Dunklen sind mir schon früher aufgefallen. Angenehm aufgefallen. Als ich noch nicht in diese Klasse ging. Vor eineinhalb Jahren habe ich die Schule gewechselt. Hatte meine Gründe.
Zuhause in meinem Zimmer. Ziehe ich vorsichtig den Namenszettel aus meiner Hosentasche. Schließe die Augen, während meine Nein-Hände ihn auseinanderfalten.
Ich hoffe so sehr, dass ich nicht seinen Namen gezogen habe. Dark.
Ich hoffe so sehr, dass ich seinen Namen gezogen habe. Dark.
Ich öffne meine Augen. Und betrachte fassungslos die vier Buchstaben auf dem zerknitterten Papier: DARK.
Ich lege mich auf mein Bett, Ohrenstöpsel rein, höre meine Musik. Die aus den 80er, 90er Jahren. Derzeit True Colors von Cyndi Lauper. In Dauerschleife. Denke an ihn. Niemand würde das vermuten. Dass ich sehr oft an ihn denke. Dark und ich reden nämlich nur miteinander, wenn es sein muss. Bei Gruppenarbeiten und so. Ich, weil ich mit niemandem mehr rede, als notwendig ist. Habe meine Gründe. Und Dark, weil er ebenfalls mauert. Auf niemanden zugeht. Wird auch seine Gründe haben.
Vor einigen Monaten war er mit einer aus der Klasse zusammen. Mit Iris. Nicht lange. Nur ein paar Tage. Habe sie zusammen gesehen. Abends im Park. Ich wie immer unter der Trauerweide. Und die zwei mit Darky den Teich entlang spazierend. Habe ich ungerne gesehen. Hat aber auch null harmoniert. Die beiden Dunklen. Mit der hellblonden Iris in ihrer knallroten Jacke.
Und in letzter Zeit macht sich Lea an Dark ran. Ganz offensichtlich. Zum Fremdschämen ist das.
Mir fällt ein Gesprächsfetzen ein. Den ich zufällig mitgehört habe.
Iris (warnend) ~ Lea: Vergiss diesen Typ. Der interessiert sich nur für seinen Scheißköter. Hat mich damals glatt abserviert, weil sein Hund mich nicht mochte.
I see your true colors, höre ich. Und sehe Dark mit Darky vor mir. Seite an Seite. Wie sie den Teich entlanglaufen.
Und plötzlich weiß ich es. Weiß genau, was ich Dark schenken werde. Als sein Engerl. Sitze jetzt aufrecht auf meinem Bett. Vor Aufregung und Vorfreude. Das Projekt, das mir vorschwebt, ist zeitaufwendig. Knapp drei Wochen habe ich Zeit. Ist zu schaffen.
Dark fehlt die ganze Woche. Auch die Woche darauf. Ich sehe ihn auch nicht abends mit Darky im Stadtpark. Angeblich hat er sich wegen Grippe krankgemeldet.
Ich höre Lea (verärgert) ~ Iris: Der antwortet mir auf keine WhatsApp.
Iris (genervt) ~ Lea: Bitte vergiss endlich diesen Typ!
Ich mache mir ständig Gedanken. Dass er vielleicht vor den Weihnachtsferien nicht mehr zur Schule kommt. Und dass ich ihm mein Geschenk nie geben kann.
Doch zwei Tage vor den Ferien ist er wieder da.
Lea (laut, freudig): Hey, Dark! Was war denn mit dir los?!
Dark (leise): Ich möchte nicht reden, okay?
Verstohlen sehe ich ihn an. Immer wieder. Er wirkt verschlossen, geheimnisvoll wie immer. Aber anders als immer. Dark wirkt traurig. Herzzerreißend traurig.
Am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien: Der Geschenkeaustausch. Die Offenbarung.
Die Nacht zuvor konnte ich kaum schlafen. Immer wieder habe ich mir mein Werk angesehen. Und ja, ich bin zufrieden damit. Es ist so geworden, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich finde es gelungen. Aber wie wird Dark reagieren? Wird er meine Botschaft finden? Sie verstehen?
Es wird laut in der Klasse. Sämtliche Engerl wollen ihre Geschenke loswerden. Iris drückt mir rasch etwas (einen Mini-Notizblock) in die Hand. Nickt mir kurz zu. Und ist auch schon wieder weg.
Ich sehe zu Dark. Der auf seinem Platz sitzt und in sein Handy schaut. Ich traue mich nicht, zu ihm zu gehen. Überwinde mich schließlich. Lege mein in Packpapier gewickeltes Geschenk vor ihn hin. Er sieht auf. Sieht mich an. Er hat blaugrüne Augen.
Ich (leise, mich räuspernd): Ich habe deinen Namen gezogen.
Dark (leise, mein Geschenk in seine Hände nehmend): Es ist ziemlich schwer.
Er löst das Papier. Schaut auf mein Geschenk. Schaut lange darauf. Schaut wie erstarrt. Auf Darky in klein. Ich habe ihn aus Ton modelliert. So gut ich es konnte. (Und ja, ich kann modellieren. Ist meine Leidenschaft. Das Modellieren und Töpfern.) Habe ihn dann brennen lassen. Danach mit Acrylfarben bemalt. In jenen Farben, in denen ich Dark und Darky sehe. Wenn sie Seite an Seite den Teich entlanglaufen. In schönen, kräftigen Blau-Grüntönen. Um den Hals habe ich der Darky-Skulptur ein dunkelblaues Halsband gebunden. Mit einer versteckten Botschaft.
Dark steht abrupt auf. Sieht mich an. Tieftraurig. Verlässt schnell und wortlos, mein Geschenk in seinen Händen, das Klassenzimmer.
Lea hinter mir (laut): Was ist denn mit dem los? Spinnt der jetzt total?
Ich (leise, betroffen): Ich – ich weiß nicht …
Zuhause. In meinem Zimmer. Um 22:13 Uhr. Läutet. Plötzlich. Mein. Handy.
Dark: Kaya?
Ich (sprachlos): –
Noch nie hat Dark mich angerufen. Noch nie hat Dark meinen Namen gesagt.
Dark (leise, stockend): Kaya, es tut mir leid. Dass ich – dass ich einfach abgehauen bin heute. Diese schöne Skulptur von Darky. Die war mir – momentan zu heftig. Weißt du, er – ist vor zwei Wochen gestorben.
Ich (stotternd, betroffen): Oh nein. Das tut mir so leid! – Ich hätte ihn nicht modelliert, wenn ich das gewusst hätte …
Dark (verwundert): Wie – du hast ihn selbst modelliert? Wahnsinn. Du hast echt Talent.
Ich (wieder sprachlos): –
Und dann. Dann reden wir miteinander. Wir reden und reden. Ohne peinliche Pausen. Bis weit nach Mitternacht. Kann danach lange nicht einschlafen. Fühle mich so leicht. Fühle mich wie ein neuer Mensch. Denke an Dark. An all das, was wir einander erzählt haben. Einander anvertraut haben.
Dark ~ mir: Dass Darky in seinen Armen gestorben ist. In der Tierklinik. Altersschwäche. Organversagen. Dass Darky für ihn so viel mehr als nur ein Hund gewesen ist. Dass er ihn als Welpe vor 14 Jahren geschenkt bekommen hat. Von seinem Vater. Am Tag, bevor der Vater ins Krankenhaus musste. Und dann nie wieder nach Hause gekommen ist. Lungenkrebs. – Dass ich die erste bin, der er das erzählt. Dass ich die erste bin, der er es erzählen will.
Ich ~ Dark: Dass ich mit ihm fühle. Alles nachempfinden kann. Weil auch ich jemanden verloren habe. Anna. Meine (einzige/beste) Freundin. Seit der ersten Volksschulklasse. Anna. Der ich nicht helfen konnte. Die vor eineinhalb Jahren gestorben ist. An einer Überdosis. Abends. Allein im Stadtpark unter der Trauerweide. Dass ich darum die Schule gewechselt habe. Weil Anna mir dort so furchtbar gefehlt hat. – Dass er der erste ist, dem ich davon erzähle. Dass er der erste ist, dem ich es erzählen will.
Dark ~ mir: Dass er mit mir fühle. Alles nachempfinden kann. Dass er mich gesehen hat. Jeden Abend. Im Stadtpark unter der Trauerweide. Wenn er mit Darky unterwegs gewesen ist. Dass er sich oft Gedanken gemacht hat. Warum ich immer dort bin. Allein. Dass er aber nicht aufdringlich sein wollte. Und sich auch nicht getraut hat. Mich anzusprechen.
Dark ~ mir: Dass er abends das dunkelblaue Halsband von meiner Darky-Skulptur runtergenommen hat. Dass er auf der Rückseite des Halsbandes gelesen hat, was ich eingraviert habe. True Colors. Dass er daraufhin den Cyndi Lauper-Song gehört hat. Mehrmals. Dass er verstanden hat. Dass er seinen ganzen Mut zusammengenommen hat. Und mich angerufen. – Dass er mich sehen möchte. – Ob ich ihn am Abend bei der Trauerweide treffen will?
Ich ~ Dark: Ja.

 

Claudia Dvoracek-Iby

 

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3 | Anne Büttner

Tapetenwechsel

Springsteen hat ihr den Urlaub in die Wohnung geholt. Acht Bahnen Bali-Traumurlaub aus Vlies: Traumstrand, Traumpalmen, Traummeer, ein Traum von Abendsonne.

Dass sie ja jetzt nicht mehr so verreisen können, wie sie gern würden, weil das ja immer mehr werden wird, dass Elke sich immer weniger bewegen kann. Deswegen ja auch der da, hat er gesagt und zum schmucklosen Rollator neben dem Puky mit Pokémonwimpel und Hamburgerklingel genickt, den ich bis dahin nicht zuordnen konnte. Müssten sie dann mal sehen mit den Treppen und allem, wie sie das dann machen. Weiß man ja nicht, wie lang das noch geht. Sie war jetzt schon froh über jedes Mal, die sie ihr erspart blieben.

Stimmt, dachte ich. Sie hatte ich schon länger nicht gesehen, sah eigentlich nur noch ihn. Sah ihn mit der Post, den Einkäufen, dem Müll, dem Pfand, den Apothekentütchen.

Deswegen, weil ihnen da niemand was Genaues sagen und man da nur schätzen konnte, hat er ihr den Urlaub in die Wohnung geholt. Jetzt schon, bevor es wieder kalt wird draußen. Wenn dann auf dem Balkon ja auch kein schönes Sitzen mehr ist, so schön sie es da auch haben. Und das haben sie ja, betonte er. Auf jeden Fall haben sie es sehr ordentlich, dachte ich und nickte. Regelmäßig werden Stuhlpolster und Auslegware gesaugt, wird drübergewischt über Wachstischdecke, Armlehnen und Geländer, werden Lichterkette, Zierkrähe, Wetterhahn und Korbregal abgestaubt, wird der Efeu gestutzt, werden die zwischen Petunien, Pelargonien und Geranien steckenden bunten Solarschmetterlinge von Blütenstaub befreit. Einen neuen Sonnenschirm gibt es auch, einen weniger bunten, dafür deutlich größeren. Damit seine Elke sich nicht immer in den Schatten bewegen muss, wenn die Sonne zu viel wird. Und das wird sie ja schnell, wenn man sich nicht immer in den Schatten bewegt.

Ob ich einen Hometrainer gebrauchen könne, fragte er, mich dabei ganz selbstverständlich duzend. So einen, sagte er, umschloss mit den Händen zwei unsichtbare Griffe, während er die Arme abwechselnd vor und zurück bewegte und die Fußballen zeitgleich auf und ab. Ich verneinte. Geschenkt, er wolle da nichts für haben. Das sei ja jetzt kein Profigerät oder so, aber noch mit Garantie und zum Rumstehen einfach zu schade. Trotzdem nicht, trotzdem danke. Oder ob ich jemanden kenne, der einen braucht, überlegte er weiter. Dass ich mal rumfrage, sagte ich und wusste, dass nicht.

Ich kann nicht mehr sagen, was dem Gespräch vorausging. Was den Auftakt dazu bildete, dass er mir davon erzählte, neulich, an den Briefkästen. Ich den Müll in der Hand, er ein Schlüsselmäppchen und die Tür. Bislang hatten wir kaum mehr als Behelfsmimik, ein paar Höflichkeiten und Benachrichtigungskärtchen gegen gescheiterte Zustellversuche ausgetauscht.

Ich wohne eine Etage höher, genau über Springsteen und Elke. Wir haben also die Adresse, den Grundriss und Wände gemeinsam, die Räume teilen und nicht selten darin Geschehendes. Wenn Springsteen angestrengt hustet oder engagiert schnäuzt, dann ist das zu hören. Erst recht, wenn er niest. Jeder seiner Nieser, wirklich jeder, klingt nach Tobsuchtsanfall und so, als wäre unterdrücken gesünder. Wenn der Fernseher zu laut ist, hört man das und auch, wenn Elke das ebenfalls findet. Das Klingeln des Telefons und ihr gegenseitiges Inkenntnissetzen darüber? Das Zischen fettheißer Pfannen? Das Rauschen des Badewannenhahnes? Staubsauger? Einschätzungen zu Spielgeschehen und Personalpolitik seiner Borussia? Ebenso.

Und hin und wieder hört man Springsteen, also den echten. Ich weiß gar nicht mehr, wann es anfing. Wann ich das erste Mal mein Handy an die Tapete hielt und Shazam die Töne abnehmen ließ, die sich darin verfingen.

Vermutlich war es ein Mittwoch. Ziemlich sicher sogar. Denn immer mittwochs ist Jutta von nebenan zu Besuch. Ich kenne Jutta nur vom Grüßen, die drei kennen sich noch aus Konsumzeiten: Jutta und Elke Kasse, Springsteen Fahrer. Natürlich war er Fahrer. Straßen sind Straßen geworden, damit Typen wie Springsteen sie fuhren und Lederwesten Lederwesten, damit Typen wie er sie trugen. Dazu meist Schalke-Trikot oder T-Shirt mit Flockprint, Jeans, Allzweckschlappen und etwas, von dem ich annehme, dass es eine Mischung aus Old-Spice-Rasierwasser und, wenn es das gibt, Axe-Raststätte ist.

Sobald Jutta ihr stakkatoartiges Juttaklingeln klingelt, bleibt noch ungefähr eine Stunde, die Buchhaltung, oder was eben ansteht, fertigzubekommen. Danach ist es vorbei mit der Konzentration. Dann ist die Musik zu laut und Juttas Lachen, das an Old MacDonalds Farm erinnert. Je später der Mittwoch, desto mehr Tiere lacht sie.

Wenn die drei auf dem Balkon sitzen, setze ich mich zum Feierabend manchmal leise auf meinen, höre ihnen zu und der Musik. Wie heute. Im Moment läuft Scott McKenzie. Davor kam Supertramp und danach müsste Born to run kommen. Es ist immer dieselbe Reihenfolge. Inzwischen habe ich die komplette Mittwochsplaylist zusammen. Und auch die meisten Mittwochsgeschichten.

In letzter Zeit geht es oft um die Scheidung von Juttas Tochter und darum, dass Jutta ihre nie bereut hat, und zwar keine davon, es geht um „uns hier unten“ und „die da oben“, womit sie zu meiner Erleichterung nicht mich meinen, sondern die Regierung, die man komplett in den Skat drücken könne. Es geht um mir größtenteils unbekannte Nachbarschaft, um Parkraumbewirtschaftung, Balkongestaltung und Schädlingsbekämpfung, um Wetter, gestiegene Preise trotz gesunkener Qualität, fast immer auch um den Flaschenautomat beim Netto, der mal wieder oder immer noch kaputt ist.
Und es geht um früher, als vieles leichter war, aber bei Weitem nicht alles gut. Das mit dem Reisen, dass man das nicht konnte, nicht so jedenfalls, wie man wollte, das war, vor allem für Hungry-Heart-Springsteen, das Schlimmste.
Das macht schon einen Unterschied, ob man in Binz am Strand liegt oder auf Bali, ob man durch die hohe Tatra wandert oder durch den Grand Canyon, wo sie zwar nie waren, aber geht ja ums Prinzip. Elke war immer fürs Warme, Bali oder Thailand, aber am liebsten Bali, Springsteen fürs Kernige, die Rockies oder den Grand Canyon. Geeinigt haben sie sich dann meistens auf Kroatien oder Gran Canaria.

Heute kein Wort vom Reisen. Den ganzen Abend nicht. Und auch kein Born to run. Wenn Jutta heimgegangen ist und Elke schon rein, läuft der Song immer nochmal. Nur für Springsteen allein, der noch austrinkt, was auszutrinken ist, raucht, hickst, mitbrummt, dabei, so zumindest stelle ich es mir vor, vornübergebeugt sitzt, Ellbogen auf den Knien, der Kopf nickend, die Füße wippend, beides knapp am Takt vorbei, während er von der Freiheit träumt. Von den Rockies und dem Grand Canyon, von Kroatien und Gran Canaria. Inzwischen vielleicht auch von Binz. Weil es nun mal einen Unterschied macht, ob man Bali an der Wand hat oder in Binz am Strand liegt.

 

Anne Büttner

 

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