Eierpunsch
Obwohl wir in derselben Kleinstadt wohnten, sah ich meinen Großvater nur bei bestimmten Familienfesten. Traf trifft es besser, denn ich sah ihn oft. Ich erinnere mich an einen Herbstabend, als ich mit meinen Eltern auf dem Heimweg von einer Gaststätte war, als in einer Seitenstraße eine Kneipentür vor uns aufging und sein scharfes Lachen zu hören zu war. Durch eines der beschlagenen Sprossenfenster sah ich meinen Großvater mit hochrotem Gesicht in einer Gruppe von Männern stehen. Er packte einen jungen Kerl, aus seinem Schützenverein, denke ich, am Kragen, nahm ihn grob in den Schwitzkasten und verpasste dem verlegenen Burschen mehrere Backpfeifen mit der freien Hand. Die anderen schienen sich zu amüsieren, klatschten, johlten meinem Großvater zu. Ich sah hinauf zu Mama. Sie sagte nichts. Dann stupste sie mich an und wir gingen weiter. Ich weiß nicht, ob meine Mutter wollte, dass ich das sehe.
So munter er in der Gesellschaft seiner Freunde war, setzte mein Opa auf Familienfesten sein Schweigen durch. Dafür musste er nichts unternehmen, oder zumindest nicht aktiv, da er mit seinem Naturell für Ruhe sorgte. Für gewöhnlich apathisch, haftete seinem Ausdruck, vor allem zu Tisch, eine gewisse Verärgerung an, ja fast ein unterdrückter Zorn. Die zuckenden Augenbrauen, die zusammengepressten Lippen, das leicht abgewandte Gesicht, der fliehende Blick, der, wenn man ihn erwischte, nur mit einer Art automatischem Misstrauen entgegnet wurde; das alles vermittelte uns anderen Familienmitgliedern die stille Botschaft, im Grunde unerwünscht zu sein, dass er den Abend lieber allein verbringen wollte.
Auch wenn die Stimmung auf solchen Familienfeiern lebhafter wurde, geschah das nur zu seinen Bedingungen. Zu Weihnachten etwa löste sich das Gemüt meines Großvaters nur, wenn es Eierpunsch gab. Obwohl ich ein kleines Mädchen war, konnte ich ausrechnen, wie sich seine Stimmung veränderte, wenn er trank. Zwei Gläschen waren das goldene Maß, dann überkam Opa eine seltsame Rührseligkeit. Das war uns Kindern unangenehm, denn in der Phase des Abends wurde er auf seine Weise zutraulich: Mein Cousin Tommy bekam zum Spaß einen Tritt in den Hintern, mir fuhr er erst mit sanfter Hand durchs Haar, um mir zur Pointe mit einem Jauchzer an den Zöpfen zu ziehen, und Max, der Sohn meiner Tante Sabine, der laut Mama aus einer flüchtigen Liebesnacht entstanden war, nannte Opa „mein kleiner Bastard“.
Beim sechsten Gläschen wurde er allmählich gemein. Er frotzelte über jede unserer Ideen, fast mit einem Krächzen, begleitet von einem Schwung seines gedrungenen Leibes. Schon damals kam mir seine Ausgelassenheit gezwungen vor, als erlaube ihm der Suff, seine höhnischen Zwischenrufe in die Form eines Lachens zu kleiden. Die Erwachsenen stellten sich für gewöhnlich dumm, vor allem nach dem Essen: Die Frauen wandten sich ab, plauderten am Erwachsenentisch, die Männer gingen zum Kindertisch, um Skat zu spielen und zu rauchen, während wir Kinder Zuflucht vor Opa suchten. Wenn er mir viel Angst machte, suchte ich Mama mit den Augen. Stumm erwiderte sie meinen Blick und schaute dann verlegen auf die Tischdecke. Für Oma war es am schlimmsten. Abends, oft waren wir Kinder noch wach, kam unweigerlich die Zeit, in der sie meinen Großvater ins Bett bringen musste. Später, wenn wir Kinder im Flur spielten, hallte sein Schnarchen als Echo seiner Hänseleien aus dem Schlafzimmer.
Nur durch Zufall erfuhr ich, dass Opa den Eierlikör zubereitete, aus dem Oma dann zu Weihnachten den Eierpunsch machte. (In der Verwandtschaft ging man davon aus, dass nur Oma etwas damit zu tun hatte, und jedes Jahr aufs Neue erntete sie aufrichtiges Lob für den guten Punsch. Wenn ich Eier nur rieche, wird mir übel; trotzdem habe ich diesen Eierpunsch oft und gern getrunken.) Einmal, ich war etwa fünfzehn, fuhren wir unangemeldet zu meinen Großeltern. Heiligabend war noch eine Woche hin. Die Englischlehrerin hatte darauf bestanden, den zweiten Teil von Henry IV aufzuführen, und mein Bruder sollte John Falstaff spielen. Mama hatte schleunigst sein Kostüm zusammenzunähen, für das sie Omas Stoffsammlung durchstöbern wollte. Oma stand zunächst ganz verdutzt in der Tür und ich war mir kurz sicher, dass sie uns nicht reinlassen würde. Aber Mama schob sich murmelnd an ihr vorbei und ging auf den Dachboden. Oma bat mich ins Haus, und deutete verstreut mit dem Kopf zur Küche. Bevor ich eintrat, schien sie zu zögern, aber sie tat nichts. Opa stand hemdsärmlig in der Küche. Auf der Arbeitsfläche vor ihm lagen die Zutaten ausgebreitet: Eier, Rum, Puderzucker, ein Glas Wasser, eine Vanilleschote. Fast eindringlich lud er mich ein, einzutreten. Sorgfältig verrührte er Schritt für Schritt alle Zutaten. Aus der Vanilleschote schnitt er mit geübter Hand das Mark heraus.
Er sprach kaum, murmelte gelegentlich vor sich hin, dass man den Fusel aus dem Supermarkt nicht nehmen dürfe, weil man sonst die heilige Jungfrau beschmutze. Oder auch, dass die ganze Welt im Ei stecke. Aber das wirklich Erstaunliche war, ihn so in etwas vertieft zu sehen, so in sich ruhend. Oft habe ich darüber nachgedacht, ob er an jenem Nachmittag sein wahres Wesen offenbarte. Aber auf der Weihnachtsfeier zeigte er sein übliches Gesicht. Diesmal fiel ihm mein Bruder zum Opfer. Mein Opa, der schon beim siebten Gläschen war, grölte ihm zu, er solle doch Shakespeare rezitieren. Mein Bruder antwortete nur: „Fuck you.“ Großvater brüllte vor Lachen. Als mein Bruder später an ihm vorbeiging, schlug ihm Opa so heftig in den Nacken, dass mein Bruder vornüberfiel und erst einmal liegen blieb. Mama sagte nichts, sie sah Opa nicht einmal an. Wir halfen meinem Bruder auf die Beine und gingen sofort heim. Nach dem Vorfall haben wir nur noch im kleinen Kreis gefeiert.
Opa starb ein paar Jahre nach Oma. Mama, die ihn hin und wieder im Pflegeheim besuchte, sagte uns eines Tages am Esstisch, dass es ihm schlecht gehe. Ich sah sie an und hatte das Gefühl, dass sie sich seinen Tod wünschte, aber ich sagte nichts. Einige Wochen später teilte sie uns mit, dass er gestorben sei. Ich glaubte, Erleichterung in ihrem Gesicht zu sehen, und schwieg. Neulich habe ich zum ersten Mal versucht, mit ihr über Opa zu sprechen. Sie sagte, sie wisse genauso viel über ihn wie ich.
Das Advent-mosaik begleitet dich mit ausgewählt schönen Texten durch die Vorweihnachtszeit.
Jeden Tag kannst du ein neues Türchen öffnen: