Der Mensch verabschiedet sich aus dem Holozän
Ich forsche an einem Institut für Abschiede von einem alten Planeten. Um einen Eindruck von meiner Arbeit zu geben, erzähle ich am besten eine der Geschichten, die ich sammle: Am Dienstag, dem fünften September 2023, wird ein Sarg aus Eis von Trägern in schwarzer Kleidung, mit Bergschuhen und verspiegelten Brillen gegen die Höhensonne im schönen Sommerhimmel, am österreichischen Großglockner beigesetzt. Symbol für die Pasterze, Österreichs größten Gletscher, der hier zu Grabe getragen wird. Ein katholischer Bischofsvikar und eine evangelische Pfarrerin halten gemeinsam die Zeremonie auf der Franz-Josefs-Höhe ab. Begleitet werden sie von vier Blasmusikern. Die traurige Melodie legt sich wie traumhafte Blumengebilde um das Eis. Im Hintergrund steht schweigend eine Bergkette, schmutziges weißes Haar auf den alten Häuptern. Fast könnte man meinen, sie halten Hüte in den gefalteten Händen.
Da es sich hier um einen Bericht und kein Märchen handelt, liegt in dem fast gläsernen Sarg nicht Schneewittchen. Niemand schlummert darin und wird durch ein Stolpern wieder zum Leben erweckt. Dabei ist hier gutes Stolpergelände. Die Auferstehungschancen, im Märchen stünden sie gut. Doch der Sarg ist leer. Und leer heißt, dass dort im Eis, anders als im Gletscher, überhaupt kein Raum ist, in dem jemand liegen und die Zeit überdauern könnte. Folgerichtig gibt es auch kein Scharnier, keinen Deckel, nur die maschinell geformte Eismasse.
Tatsächlich ist noch niemand gestorben, zumindest nicht hier. Diese Beerdigung besiegelt den Todesfall nicht, eher kündigt sie ihn an. Die stolze Pasterze – man sieht sie hier von der Franz-Josefs-Höhe aus – ist geschrumpft, viele Meter jedes Jahr. Und Gletscher sind nicht für immer Gletscher. Wenn sie eine bestimmte Größe unterschreiten, wenn sie sich nicht mehr bewegen, wenn ihr Eis nicht mehr mit dem Rhythmus der Jahre pulsiert, sich ausdehnt und zusammenzieht, dann sind sie keine Gletscher mehr. So die wissenschaftliche Definition. Sie bestimmt, ob Eis lebt. Die Pasterze ist noch ein Gletscher. Die Beerdigung ist eine vorgezogene. Das Ritual soll aufrütteln, warnen, prophezeien.
Die Vorwegnahme des Abschieds begegnet mir überall. Oft auch unter anderen Vorzeichen. Für meine Mutter ist es das erste Jahr, in dem sie nicht mehr um die alte Erde trauert. Nach einer nicht enden wollenden Periode des Unglaubens, des Aufbegehrens, der Wut und Verzweiflung über die Wandlungen und Verluste in der Natur ist sie jetzt ruhiger. Sie sagt, sie hat getrauert und ihren Abschied genommen. Sie gesteht ein, dass ihr die Idee des Abschieds in diesem regenreichen Jahr leichter fällt. Seine Vorwegnahme ist keine Mahnung, sondern ein Abschließen. Möglicherweise eine Vorbereitung auf die kommende Erde.
Bis vor kurzem lagen die Folgen des menschengemachten Klimawandels scheinbar noch in einer fernen, fantastischen Zukunft. Jetzt liegen manche ihrer Verhängnisse schon in der Vergangenheit. Denken wir, es wäre möglich, mit den fortwährenden Verlusten fertigzuwerden, wenn wir sie in aller Form betrauern? Aber sind wir nicht in einen andauernden Abschied verwickelt und schwanken entsprechend zwischen überwältigenden Gefühlen, unangenehmer Berührung, Überdruss und dem Wunsch, mit dieser Peinlichkeit endlich abzuschließen?
Meine Forschung besteht in der konstanten Beobachtung des Abschiedszustands. Dafür muss ich ihm meine ganze Aufmerksamkeit schenken und gleichzeitig die ihn begleitenden Gefühle auf Abstand halten. Ich bin ein Archivar der Trauer, angestellt, um die Verluste zu dokumentieren und Berichte über den menschlichen Umgang mit diesen Verlusten zu verfassen. Diese Aufgabe verlangt Ausdauer und verbietet die Verausgabung in einem ekstatischen Moment. Katharsis wäre kontraproduktiv.
Betrachtet man über einen längeren Zeitraum die neuartigen Formeln und Rituale kollektiven Trauerns, stellt man fest: In unserer Kultur gibt es einen überaus ansehnlichen Abschiedskarneval. Kein Zweifel, dass wir uns von den Gletschern und dem polaren Eis verabschieden. Wir halten ihre letzten Reste auf Fotos fest, in Erzählungen, in Archiven. Seit mehr als zehn Jahren wird am 30. November ein internationaler Gedenktag für ausgestorbene Arten und Lebensräume begangen. Im Überfluss Denkmäler, Rituale, Trauergedichte, Verlustverzeichnisse, eine Erinnerungskultur mit dem dazugehörigen Ernst, Pathos und Theater. Während wir mit fast schon obszöner Gefühlsseligkeit der alten Erdordnung Lebewohl winken, wartet die alte und neue Gesellschaftsordnung, ewiger als das Eis, in der guten Stube, wo sie uns zum Leichenschmaus empfängt. Es ist das Wechselspiel, die spezifische Komposition und Mixtur von vollzogenen und nicht vollzogenen Abschieden, das bestimmt, wer wir sind.
Das symbolische Ritual am Großglockner war nicht das erste für einen Gletscher abgehaltene Trauerzeremoniell. Bereits 2019 trauerte Island um den Verlust des mächtigen Okjokull-Gletscher. Hier war es ein tatsächlicher Abschied und kein vorweggenommener. Der Ok-Gletscher hatte seinen Status als Gletscher verloren, hatte im Sterben große Flächen lange bedeckten Steins freigelegt und war zu einer unzusammenhängenden, fleckigen Eisschicht geworden, die manche als den Leichnam des Ok betrachteten – geschrumpfte, leblose Überreste, vom Zerfall entstellt. Aber sie erinnern noch an den Lebenden.
Als Mahnung wurde auf einem ehemals von ewigem Eis bedeckten Felsen eine Bronze-Tafel angebracht, die auf Isländisch und Englisch die folgenden warnenden Worte trägt:
Ein Brief an die Zukunft
Ok ist der erste Gletscher Islands, der seinen Status als Gletscher verliert. In den nächsten 200 Jahren werden ihm all unsere Gletscher folgen. Dieses Mahnmal bezeugt, dass wir wissen, was passiert und was getan werden muss. Nur Du, zukünftiger Leser, weißt, ob wir es auch getan haben.
August 2019
415 ppm
Dem Trauerzug und der Enthüllung der Tafel wohnten über hundert Menschen bei, darunter die damalige isländische Premierministerin Katrín Jakobsdóttir und die ehemalige UN-Menschenrechtskommissarin Mary Robinson. Das ganze hatte den Anschein eines Staatsbegräbnisses. Trotzdem entstanden in der Berichterstattung immer wieder Unsicherheiten, um was für ein Zusammenkommen es sich hier handelte. War das eine künstlerische Performance? Eine symbolpolitische Handlung? Eine neue Form von zugleich wissenschaftlichem und animistischem Totenkult? Eine Erinnerung an zukünftige Tote?
In einem Buch mit dem Titel In den Gletschern der Erinnerung aus dem Jahr 2020 sammeln zwei Autoren literarische Zeugnisse von Gletschern aus den letzten drei Jahrhunderten, darunter Aufzeichnungen von so illustren Persönlichkeiten wie Lord Byron, Mary Shelley, Hans Christian Andersen, Mark Twain, Friedrich Nietzsche, Walter Benjamin, Max Frisch und Paul Celan. Sie alle waren Gletschern begegnet und hatten über sie geschrieben. Das Buch ist ein poetisches Gletscheralbum und eine merkwürdige Schwelle: Außerhalb des Buchs existiert die eisige Welt noch. Aber nur gerade so. Zukünftige Leser*innen werden In den Gletschern der Erinnerung den Moment markiert finden, da im Verschwinden begriffen war, was sie nicht mehr kennen.
Ich mache meine Arbeit, wie ich jede andere Tätigkeit ausüben würde: akribisch, gewissenhaft und mit Freude an der Entdeckung von kuriosen Begebenheiten. Die Verluste und meine Aufzeichnungen von ihnen sind gefragt. Aber in einem regelmäßigen Rhythmus, alle anderthalb Wochen etwa, werde ich traurig. Dann kann ich mich nur noch langsam bewegen und nicht mehr denken. Ich gehe spazieren und in diesem Jahr lasse ich mich vom Regen trösten. Obwohl das Wetter verrücktspielt. Manchmal schlägt es drei Mal am Tag um. Von Wetterumschwüngen kann nicht die Rede sein, eher von einem Luftdruck-Karussell, einer unberechenbaren atmosphärischen Launenhaftigkeit. Trotzdem: Es beruhigt mich, im Wetter zu sein, seine Bewegungen genau zu verfolgen. Ich kann es kaum aus den Augen lassen.
Wenn ich mich schließlich erschöpft in meine Wohnung zurückziehe, verkrieche ich mich ins Bett und höre Holocene von Bon Iver. Der Song ist nach einer Bar in Portland benannt. Und nach der geologischen Epoche, die wir beenden. Das Lied entstand in einer Winternacht, an Heiligabend, um genau zu sein, auf einem späten Spaziergang. Menschenleere Straßen, meilenweit keine Autos, das Kommen eines Schneesturms in der Luft, Inseln aus Eis auf den Straßen. Plötzlich passt alles zusammen, der Ort, die Zeit des Jahres, existentielle Erleichterung, Demut, das Gefühl, dass die Landschaft, die Stadt, die Luft den Song geschrieben hat. In meinem müden Kopf wiederholt sich immer die eine Stelle: You fucked it friend, it’s on its head, it struck the street. Das bringt es auf den Punkt, fühle ich, obwohl ich gar nicht weiß, was ‚it‘ ist. Bleibt noch etwas zu sagen? Lebewohl Holozän. Es waren gute 11.700 Jahre. Verzeih.
Mit zwei Freunden tausche ich mich in einer Chat-Gruppe über den Tod aus. Sie heißt Don’t bury the Dead. Darin Bücher zum Tod, Ausstellungen zum Tod, Podcasts zum Tod. Einer der Freunde ist überzeugt, dass es falsch ist, seinen Frieden mit dem Tod zu machen. Ich schicke ihm zwei Verse von Dylan Thomas: Do not go gentle into that good night. / Rage, rage against the dying of the light. Der Freund reagiert mit einem brennenden Herz. Auf Wanderungen schreiben wir die Verse in Gipfelbücher.
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