freiTEXT | Sven Beck

Frau Fröhlich

Von außen betrachtet waren Fröhlichs ein nettes, unauffälliges Ehepaar und wer nicht über anständigen Geruchs- und Hörsinn verfügte, konnte das glauben. Glücklicherweise lebten sie in der ausgestorbensten Straße des Dorfes – nur in der anderen Reihenhaushälfte wohnte eine Familie. Meine Familie. Bis ich sechs war, teilte ich ein Zimmer mit meiner Schwester. Mit acht hatte ich ein eigenes. Da musste es angefangen haben mit den Geräuschen. Sie schwappten durch die Wand aus dem Nachbarhaus. Ich hörte sie, wenn ich im Bett lag.

Gekocht habe ich, für alle, rief Herr Fröhlich, für die ganze Gesellschaft.
Einmal, kreischt die Frau: Und immer noch willst du Dank.
Ich kann mich nicht erinnern, dass der kam.
Weil ich die restlichen dreihundertwasweißichwieviele Tage dein verdammtes Essen mache, Rudi!
Ich zwing dich nicht, bei mir zu sein, Magdalena. Ich zwinge dich nicht, bei Gott!
Seine Stimme dröhnte. Ich dachte nicht viel. Nur: Wie kann man so leben. So laut.
Geh! Wenn du gehen willst, geh!
Vielleicht sollte ich das.
Dann mach, verdammte Scheiße!

Klatschen. Drei, vier Mal. Dann war Ruhe. So ging das öfter, auch meine Schwester hörte es. Wir erzählten es Mutter. Es hielt vom Schlafen ab.
Mutter legte sich die Hand auf den Mund und tuschelte Vater zu. Sie riefen im Ordnungsamt an, Vaters Arbeitsstelle. Sie erklärten die Situation und erbaten sich einen spontanen Urlaubstag. Mutter zitierte drei Freundinnen zur Hilfe. Dieses Vorhaben ging nur gemeinsam. Am nächsten Morgen klingelte die Haustür und Vater verteilte Handschuhe und Maler-Anzüge. Zuerst schraubten sie die Betten auseinander. Dann schoben sie die Möbel um. Sie hievten und zogen, drückten und pressten, bis die Zimmer leer waren: meins und auch Klaras. Zum Schluss tauschten sie alle Möbel mit ihren eigenen aus und strichen unsere neuen vier Wände weiß. Es war lange dunkel, als Mutter ein Tablett heißen Tee brachte und sich bei allen bedankte.
Den Rest, sagte sie, schaffen wir allein.
Und als sie die Tür hinter den Helferinnen schloss: Was bin ich froh, dass die Kleinen jetzt woanders schlafen.

Umso schwerer für sie: Mit ihrem leichten Schlaf schreckte sie auf bei jeder Kleinigkeit. Dann lag sie da und machte sich einen Kopf: Übers Schreien. Übers Klatschen. Über den morgigen Tag – wie viele Stunden ihr blieben. Sie war überwacht, dachte an den Notruf, Frau Fröhlich, Gerechtigkeit. Sie zögerte, haderte und gewöhnte sich doch letztlich an alles.
Eines Nachts aber wurde es so laut, dass wir Kinder sie wieder hörten. Sogar bei der Hundertjährigen gegenüber ging das Wohnzimmerlicht an. Eine halbe Stunde später blinkte blaues Licht in hellen Streifen an meine Decke. Daraufhin hörten wir lange nichts.
Ein paar Monate später war Herr Fröhlich gestorben.
Damit hatte niemand gerechnet. Weder ich noch Klara noch Mutter noch Vater, nicht einmal Frau Fröhlich. Zumindest beteuert sie das, sagte Mutter.
Sie wäre selbst schockiert gewesen, sagte Frau Fröhlich. Wie sie vom Friseursalon nach Hause gekommen wäre und ihren Rudi auf dem Sessel liegen sehen hätte. Wie er dann nichts gesagt hätte. Einfach tot gewesen wäre. Wohl was am Herzen.

Das glaube ich nicht, sagte Mutter.
Warum, fragte ich.
Mutter seufzte, überlegte und sagte: Sven, ich denke, er hat sich totgetrunken.
Warum, sagte ich wieder, aber darauf wusste sie keine Antwort. Auch Frau Fröhlich wusste sie nicht.
Klara saß auf der Bettkante und starrte an die Tapete. Ich setzte mich zu ihr. Wir saßen eine Weile. Dann umarmte ich sie. Wir weinten nicht.
Früher, als Klara und ich im Gartenstreifen einen Ball kickten, stand er am Zaun. Er rauchte.
Wisst ihr, begann er, ich war auch mal Spieler, ein ganz großer war ich, das war… lass mich überlegen… 98 muss das gewesen sein! 1998, Mensch, bin ich alt. Im Waldstadion war das, 40.000 Menschen, kannst du dir das vorstellen?
Klara staunte und flüsterte mir etwas zu.
Wäre da nicht diese Knieverletzung gewesen, sagte er und trank einen Schluck Bier. Dann ging er die Verandatreppe hoch ins Wohnzimmer und widmete sich dem Fernseher: Richterin Barbara Salesch, Hör mal, wer da hämmert und wie sie alle hießen.
Gerade zeigten sie Auf Streife. Er dachte: Es muss wohl schon Nachmittag sein.
Wie viele Stunden hatte er? Zwei? Vier? Eine Weile würde sie außer Haus sein, das gab ihm Zeit. Zeit, Geheimbierkästen zu sortieren, Geheimschnäpse zu leeren, Geheimschubladen nachzufüllen. Alles musste man geheim halten bei dieser Frau. Und er müsste etwas essen, das auch. Nicht viel, ein Stück Kalbsfleisch, Zwiebeln, aber er müsste es selbst machen und etwas übrig lassen, das würde sie erwarten. Oder aber, er beseitigte nach dem Kochen alle Spuren, putzte blitzeblank, aber wie würde er sich dabei vorkommen, dachte er und verschob die gesamte Frage, indem er sich eine Zigarette aus der Schachtel nahm und sie sich im Türrahmen anzündete. Die Position war ausgeklügelt, hier konnte er einerseits verfolgen, was der Bildschirm ihm anbot, andererseits den Rauch an die freie Luft blasen, sodass sie es später nicht riechen würde. Waren die eigentlich echt, diese Fälle? Wahrscheinlich nicht. Aber sie spiegelten die Wahrheit wider, darum ging es, dachte Herr Fröhlich, echt kam auch er sich schon lange nicht vor.

Frau Fröhlich sah man selten. Um acht Uhr stieg sie ins Auto und um acht Uhr parkte sie ein. Obwohl sie im Salon Sechs-Stunden-Schichten hatte, blieb sie länger weg und machte Überstunden. Unbezahlt. Zu sich selbst sagte sie:
Das glaubt mir kein Mensch, kein Mensch glaubt mir das. Und: Die würden mich für verrückt halten. Oh, Gott, oh, Gott.
Wenn sie die Treppenstufen zur Haustür nahm, war ihr Blick angespannt und bevor sie den Schlüssel drehte, atmete sie tief durch. Einmal beobachtete Mutter sie durchs Badezimmerfenster, sah, wie sie volle Einkaufstüten aus dem Kofferraum lud und rief:
Guten Abend, Frau Fröhlich! Kann ich helfen?
Das ist lieb. Sie sind ja selbst beschäftigt mit den Kleinen.
Sind Sie sicher? Ich kann wirklich schnell raus!
Ach das bisschen hier, das kriege ich schon –
Hin, wollte Frau Fröhlich sagen, aber eine Gurke fiel vornüber. Und was machte Frau Fröhlich? Sie beugte sich zur Gurke hin, vergaß kurzerhand das Dutzend andere Lebensmittel in ihren Armen, und munter kullerte und purzelte es heraus: Lauchzwiebeln, Kochkartoffeln, Blattspinat und so weiter. Die Sauerei war angerichtet.
Ich komme!, eilte Mutter, ohne eine Antwort abzuwarten. Frau Fröhlich weinte. Einige Minuten lang schluchzte sie in allen möglichen Tonlagen und die überforderte Mutter stand da. Holte Toilettenpapier. Umarmte. Wartete:
Ist ja gut, sagte sie: Ist ja gut.
Und sie erfuhr es: Nämlich, dass Herr Fröhlich ein Trinker war der ganz üblen Sorte, und ja, dass er sie wohl auch, so deutete Frau Fröhlich es an, geschlagen hatte. Und sie – weiß Gott warum, war eine nette, talentierte, und, das sah Mutter in den Tränensäcken, dem feuchten Lächeln darunter, den zaghaften Versuchen, zurückzustreichen, liebenswürdige Frau, die sich das eben einfach antat.
Wenn Frau Fröhlich Haare schnitt, gab sie sich alle Mühe, nicht daran zu denken, was ihr Gatte tat. Sie wollte unbedingt, sie klammerte sich an den Wunsch, dass es ihr von Herzen egal wäre, wenigstens einige Stunden lang, wenigstens jetzt. Denn im Grunde war es das. Sie käme zurück, wenn sie zurückkäme und dann würde sie sehen: Wenn nichts passiert war, wozu all der Stress. Und wenn doch? Wenn doch? Dann würde sie sich früh genug damit beschäftigen, dachte Frau Fröhlich. Obwohl, so richtig dachte sie es nicht, denn diese Gedanken kamen und gingen seit Jahren, sie kannte sie auswendig und hatte schon lange keine Kontrolle mehr darüber. Sie lächelte einem jungen Mädel durch den Spiegel zu und tastete nach der gezackten Schere.
Und die Schule? Gehst du noch zur Schule? Meine Güte, ich kann das gar nicht mehr einschätzen…
Noch ein Jahr. Das Mädchen lächelte: Dann bin ich fertig.
Frau Fröhlich rückte ihren Kopf mit den Zeigefingern um einige Zentimeter aufwärts. Das war ein gutes Alter. Das Buffet, aus dem sie Konversationshäppchen wählen konnte, war unermesslich. Man musste nur ein paar Fetzen wie „Erfahrungen machen“ reinwerfen und freudig plätscherten die Träume.
Du hast ja alle Zeit der Welt, sagte sie und dachte, dass sie das auch gedacht hatte, damals. Jetzt war sie weg, die Zeit. Vor fünf oder zehn Jahren, war sich Frau Fröhlich sicher, hatte der liebe Gott sie verlassen. Seitdem ist er nicht zurückgekehrt. ‚Die ganze Sache‘, wie sie ihre Ehe vor Freundinnen (den wenigen, die sie noch hatte) betitelte, ließ es nicht anders zu. Wenn man mit einem Alkoholiker zusammenlebt, passiert etwas Seltsames: Alles andere beginnt zu verschwinden. Die Trinkerei wird von seinem Problem zum gemeinsamen Problem zum einzigen Problem, ohne dessen Lösung nichts geht. Gehen darf.

Es war schon oft so, dass er gelobt hatte, trocken zu werden. Er würde sich schließlich auch wünschen, dass es anders wäre. Er verfluchte sich und hasste sich. Er hatte Angst, dass sie ihn verlassen würde. Sie habe auch ein Recht auf Leben, sagte sie und er wusste, dass es stimmte.
Magdalena.
Er liebte Magdalena.
In der schweißgemoderten Stickluft einer örtlichen Turnhalle waren sie sich begegnet. Zusammen hatten sie Stangen für Volleyballnetze abgesteckt, beim offenen Training der Ü25. Er hatte eine hellbraune Lederjacke und kurzes, schwarzes Haar. Sportstudent im sechsten Semester. Im ersten Blickaustausch hatte keiner der beiden etwas Besonderes gesehen.
Nach der Stunde, mit der Gruppe im Gasthaus, waren beide bis zum Ende geblieben. Die Woche darauf und darauf auch wieder. Etwas an ihm sagte: Ich bin auf deiner Seite. Das gefiel ihr. Als die Lokaltüren schlossen, begleitete er sie den ganzen Weg. Irgendwann lud sie ihn hinauf. Ein Jahr darauf hatten sie geheiratet.
Magdalena.
Manchmal war er noch da, der Funken. Natürlich war er alt geworden, körperlich alt: Unter der Brust zählte sie dreizehn senkrechtgezogene Dehnungsstreifen. Am linken Oberschenkel drei, am rechten vier. Aus den Fusseln, die sie in ihrem Bauchnabel fand, hätte sie pro Monat zwei Socken stricken können. Trotzdem: Wenn er sein Shirt auszog, Jeans und Unterhose abstreifte, sich zu ihr legte, sie bedeckte, umarmte, ihren Hinterkopf küsste und sagte: Es tut mir leid; wenn er dann weinte, war alles vergessen. Frau Fröhlich liebte ihn. Sie müsste es einfach schaffen irgendwie… koste es auch ein ganzes Leben. So war die Liebe, dachte Frau Fröhlich und sagte:
Schon okay. Pscht, pscht… Schon, okay.
Er hatte es versucht.
Er ging von sich aus hinaus zum Einkaufscenter, spazierte, genoss die frische Luft. Der Wind. Sogar die Menschen, die ganzen Menschen. Kinder waren auf die Welt gekommen, Familien hergezogen. Alte Freunde saßen vor der Schänke, lachten über ihn oder zogen Fratzen. Herrn Fröhlich war das egal, es gab nur eins, das zählte: Veränderung.
Ich kann das, dachte Herr Fröhlich, ich kann das und ich werde es beweisen. Der Spargelverkäufer auf dem Center-Parkplatz sagte:
Du hast Glück, der Chef ist gerade gekommen. Warte ein bisschen, ich hole ihn her.
Und Herr Fröhlich wusste, dass es Schicksal war, aber er sagte:
Ein glücklicher Zufall.
In aller Knappheit schilderte er seine Notlage: nur vorübergehend und Erfahrung im Einzelhandel und voll motiviert und Verstärkung für ein tatkräftiges Team und so weiter. Der Vertrag war unterschrieben, an Ort und Stelle. Zuhause genehmigte er sich ein Glas. Eins. Nicht zwei, nicht drei, ein einziges. Augustiner-Hell. Ich habe es mir verdient, dachte er, ich habe den ersten Schritt gemacht, das war richtig. Bald werde ich zu den Anonymen Alkoholikern gehen, alles zu seiner Zeit, ich werde Hilfe suchen bei Gott, ich werde mich entschuldigen. Ich schulde es dem Leben. Ich habe mir so oft den Tod gewünscht, nicht nur aus Spaß, nicht nur einmal, ich habe es ernsthaft versucht, ich ging wie ein lebender Toter, das alles hat jetzt ein Ende, dachte Herr Fröhlich und nahm einen kalten Schluck und spürte, wie die kleinen Bläschen seinen Gaumen kitzelten und die herbe Note auf der Zunge und stieß leicht auf und musste fast darüber lachen, wie wenig Aufmerksamkeit er in all der Zeit dem Geschmack dieses Zeugs geschenkt hatte. Helles war viel zu wässrig! Hatte er anderes im Haus? Nein. Überhaupt, Bier war ja was! Der Gourmet in ihm war verloren. Er ging in den Keller, kam mit einer Flasche Rotwein wieder hoch und Frau Fröhlich stand fassungslos im Türrahmen. Was er sich denke. Ob er den Job habe. Immerhin. Gekocht? Ob er überhaupt verstehe, was er ihr damit antue, mit dieser Flasche. Ob er auch nur die geringste Ahnung davon habe. Ob sie ihm vollkommen egal sei.
Was diese Frau wieder für einen Aufstand machte.
Das war das erste Abend, an dem er sie schlug.
Es war noch hell draußen, als Frau Fröhlich, drei Tage nach dem Tod ihres Mannes, in der Einfahrt im Hof parkte. Sie schloss die Tür des stillen Hauses auf, zog Schuhe und Mantel aus, kochte Bohnen, briet Speck, aß auf, spülte ab und dann saß sie da. Immer noch hell. Fünf Uhr am Nachmittag. Vom Wohnzimmer her roch es nach Bier.
Zwei Tage war sie nicht zur Arbeit erschienen, zwei Nächte hatte sie geweint. Heute hatte sie wieder Haare geschnitten. Als sie sich, nach ihren vollbrachten sechs Stunden, die Tasche über die Schulter geschwungen hatte und sich verabschieden wollte, war ihre Chefin verdutzt: Willst du schon gehen?
Ist ja vorbei.
Keine Überstunden?
Kriege ich die bezahlt?
Bezahlt?
Bezahlt.
Aber das haben wir doch immer so gemacht. Na, dass die… freiwillig waren.
Frau Fröhlich nickte langsam: Gut, sagte sie: Dann ist immer jetzt vorbei.

Wenn Klara und ich abends im Garten waren, sahen wir Frau Fröhlich nun allein auf der Terrasse. Wir kickten uns den Ball seltener zu. Wenn wir es taten, schüttelte sie den Kopf über uns, als würde sie von einem Elf- und einer Neunjährigen erwarten, erwachsen zu werden. Wir sprachen nie mit ihr, einmal beschwerte sie sich bei Mutter über die Lautstärke. Die wiederum war überrascht, wie ausgewechselt sie wirkte; ein bisschen Trauer hing ihr aus den Augen, aber die Haut war röter und ihre Gangart befreiter. Plötzlich waren Gartenzaungespräche möglich. Zuerst über das Wetter, Kommunalpolitik, Sportvereine. Irgendwann erzählte Frau Fröhlich, dass auch sie sich mal eine Familie gewünscht hatte. Zwei Kinder wollte sie haben, einen Jungen und ein Mädchen. Sie lächelte verlegen und wischte sich die blondierten Strähnen aus der Stirn: Aber das Schicksal hat es nicht gut mit ihr gemeint.
Mutter lud sie zum Mittagessen ein, während wir in der Schule waren. Da sprudelte es aus Frau Fröhlich heraus.
Die erste Einladung in ein neues Wohnzimmer seit acht Jahren. Die Gewalt, die sie erlitten hatte, die Liebe, die sie verschenkte, die Angst, die sie hatte, ihren Mann zu verlassen. Die tiefe Erschütterung, als dieses Ereignis, Tod durch Alkohol, wirklich eingetreten war. Die Verwunderung, dass die Welt weiterging.
Auf seiner Bestattung, sagte sie, während sie in ihrer Kaffeetasse rührte, waren fünf Menschen. Ich. Meine Freundin. Drei Saufkollegen.
Und die Trauerarbeit?
Fangen wir nicht davon an.
Als Mutter in der Küche eine neue Kanne aufgoss, stach sie plötzlich ungeduldiges Mitleid. Sie sah in dieser fünfzigjährigen Frau, auf dessen Oberarm ein Herz-Tattoo sich in Schreibschrift faltete, auf einmal ein hilfloses Kind. Wie konzentriert sie aussah, wenn sie zuhörte, wie sorgfältig sie ihre Sätze sagte. Wie nervös sie war.
Sagen Sie mal, wie geht es denn jetzt weiter?
Weiter?
Na, da fällt doch was weg, nach so einem… Ereignis. Sie müssen es nicht wissen, aber… Irgendwie will diese Lücke schließlich gefüllt werden.
Frau Fröhlich sah aus dem Fenster: Nein. Nein, das weiß ich wirklich nicht.
Wir sahen sie Rasen mähen. Pflanzen gießen. Möbel putzen. In ihrer Einfahrt stapelten sich Wanduhren, Fotokalender und Deutschland-Flaggen, Mini-Kühlschränke, Zeitschriftenhalter und Zigarettenstopfmaschinen. Wir durften alles nach „Brauchbarem“ durchstöbern, bevor die Müllabfuhr es verlud. Wir hatten nichts gefunden.

Der Hausputz beschäftigte sie lange. Zähe Flecken tauchten auf, braune und gelbe. Trockene, klebrige weiße. Als sie die kleine Kachel abnahm, die zum Abflussrohr der Dusche führte, entdeckte sie einen halbvollen Flachmann. Es wurde warm. Der Sommer kam und sie war fertig.
Sie ging ins Café unseres Dorfes. Saß unter den Schirmen, nach Feierabend und bestellte Kaffee. Die Gespräche der anderen kreisten um Politik. Da waren die Einwanderer, da war die Globalisierung, da war die Hauptstraße oben, wo sie jetzt Fahrradwege hinpflanzen wollten. Die halbe Spur beschlagnahmten sie dafür. Dabei fuhr doch eh kaum jemand Fahrrad. Je später der Abend, desto lustiger wurden sie. Erzählten Geschichten aus ihrer Vergangenheit, lästerten über Arbeitskollegen, verfluchten die Städter. Tranken Apfelwein.
Sie setzte sich zu ihnen. Nicht von sich aus. Ein Mann in ihrem Alter, mit Sportjacke und Jeans, hatte sie gefragt.
Auch ein Glas?
Ach, ne.
Ach, komm.
Danke, wirklich.
Ich lad dich ein.
Ist gut.
Also, Prost.
Prost.
Im nächsten Monat erlebte Mutter Frau Fröhlich glücklich und seltener. Wieder kam sie erst nachts nach Hause: Gut für sie, dachte Mutter und widmete ihr keine weiteren Gedanken. Sie fühlte sich erleichtert. Sollte sie leben lernen.
Es war Herbst, als sie ihr mitteilte, dass sie ausziehen würde.
Wohin?
Zu Björn.
Björn Ralfschmitz.
Sie kennen sich?
Mutter zögerte. Sie dachte daran, wie Vater von Ralfschmitz‘ Eskapaden erzählte, der Unruhe, die er in seinen Stammtisch brachte, dem Rausschmiss, der irgendwann folgte: Lose, sagte sie.
Also dann, sagte Frau Fröhlich lächelnd.
Viel Glück.

 

Sven Beck

 

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freiTEXT | Mario Schemmerl

Wo ich hin muss, damit du nicht verschwindest

Im Bett, vor dem Einschlafen meine Hand in ihre zu legen ist beruhigend. M. fühlt sich warm an und meine Einsamkeit verschwindet ein wenig. Vor ihr gab es keine Person, mit der ich das konnte. Jede Nacht verbrachte ich alleine in meinem Bett. Bücher waren meine Gesellschaft. Am Nachtkästchen lagen ein paar und manchmal auch neben mir im Bett. Ich habe Romane über Liebe und Krieg gelesen. Wenn ich nicht imstande war das Brennen in meiner Brust mit Literatur zu besänftigten, oder die Glut zwischen den Seiten beheimaten konnte, hielt ich es nicht mehr in meiner Wohnung aus und stieg zu späten Uhrzeiten in das Auto. Fuhr ohne ein Ziel über Landstraßen in die Dunkelheit der Nacht. Es war mir egal wohin, ich fuhr Schleifen über die Dörfer, bis ich einen Knoten zog und wieder zuhause ankam. In derlei Stimmung verfallen mied ich die Stadt. Dort zogen mich die Lichter zu sehr an. Damals hatte ich schon genug Nächte an Bars oder in Diskotheken hinter mich gebracht, um zu wissen, wie es am nächsten Morgen mit mir aussah und vor allem, wozu ich im Stande war. Am Land gab es nur ab und an einen Baum, einen schönen großen alten Stamm, von dem ich mir ausmalte, wie es wäre in ihn zu krachen. Diese Ausfahrten liegen eine Zeit zurück und M. jede Nacht neben mir.

Zwillinge kennen keine Grenzen, der Tod ist nur ein weiterer Verbindungsstrang. Und alles hängt an deinem Verlust, und die Angst, immer weniger damit zu tun zu haben, gefühlt nicht mehr an dich gekettet zu sein. Versuche ich gerade dir ein Denkmal zu erschreiben? Ein normales Leben wäre schön, aber das existiert nur mit dir, und jetzt, Jahre nach deinem Ableben, ohne dich, fühlt sich nach wie vor wenig normal an. Wir waren 15. Der Aufbruch des Lebens startete und plötzlich stirbst du einfach. In diesem Augenblick ließ ich von der Jugend ab und rutschte wie ein fetter Erwachsener, die Badehose in die Arschritze geklemmt, an der Kindheit vorbei.

Ich habe wieder neue Kollegen. Ein paar von ihnen habe ich von dir erzählt. Du liegst mir eben auf der Zunge und dein Name auf meinem linken Unterarm ist auch noch da. Meistens geht es um die Zeit ohne dich und nicht um das, was du erlebt hast. Meist schauen mich die Menschen, denen ich von meinem toten Zwillingsbruder erzähle, betroffen an, werden still oder sagen sowas wie: jeder hat sein Packerl zu tragen. Ja das stimmt, jeder hat seine Geschichte, sag ich dann. Ich werde schweigsamer, was dich betrifft. Gebe weniger von dir preis, dadurch weniger von mir. In der alten Firma war ich irgendwann sehr offen zu einigen Menschen. Hatte aber bald das Gefühl, dass sie nichts verstanden von dem, was ich sagte. Ich setze mich lieber hin und schreibe ein verdammtes Buch, auf das jeder Zugriff hat. Über alles zu schreiben ist mir während des Schreibens nicht peinlich. Aber danach, wenn ich es lese, frage ich mich, ob ich dir gerecht geworden bin. Meine Gedanken sind schwer, bis jemand wie H., mein Sitznachbar in der Literatur-Akademie sagt: „Wie geil ist es jung zu sein.“ Er gehört zu den ältesten in der Runde, ist introvertiert und überraschte mich mit einem Instagram-Video, in dem Jugendliche wie aufgedreht zu Techno-Musik tanzen. H. wiederholt den Satz und ich sage, ja, du hast recht. Ich denke an all die jungen Menschen, die so missverstanden werden von Leuten wie mir, die vergessen haben, wie es ist, einfach nur jung zu sein, geil zu sein auf Spaß und das Leben.

Fortgehen ist für mich ein Graus geworden. Nach der ersten Weihnachtsfeier mit meinen neuen Kollegen war wieder so ein Abend. Anscheinend bin ich einer von den Typen, die man nach dem Essen fix mit einrechnet. Ab dem zweiten Bier geht’s, obwohl ich kaum noch Bier trinke, weil es mich aufbläht und mir am nächsten Tag davon übel wird. Die Zeiten, in denen ich stolz mit den besten Trinkern mitgehalten habe, sind vorüber. Ich muss mich zwingen nicht um 20 Uhr einen lautlosen Abgang anzutreten und rutsche mit den Leuten mit. Zugegeben, es war ganz lustig, bis dann wieder dieses Lied einsetzt. Mit dieser Melodie endet etwas von dem, was ich gerade bin. Sofort bin ich in der Jugend. In der Zeit, die ich großteils ohne dich verbracht habe. Mit 15 wuchs in uns eine Hoffnung, die uns verhieß, dass es nun endlich losgehen wird, dass sich endlich etwas anbahnt. Und dann bist du weg, einfach so. Verdammt nochmal, wo befindet sich meine Seele, während mein Körper übertrieben und tollpatschig auf der Tanzfläche dazu tanzt. Bei deinem Begräbnis hat G. den CD-Player bedient, die Techno-Musik abgespielt, und genau dieses Lied war eines davon. Bei Gigi D’Agostino hat er so viel geweint, und alle meinten später, dass er das großartig gemacht hat. Ich habe keine Träne vergossen bis wir, die Familie, dein Begräbnis als erster verlassen haben. Dieses Lied wird heute noch todsicher immer gespielt, wenn ich in einer Disko wie dieser lande.

Unsere Erwartungshaltung an die bescheuerten Tage waren niedrig, aber mit dem Einbruch der Nacht und den Techno-Sounds, die wir in unserem Zimmer abspielten, wummerte die Fassade der Ödnis von uns ab. Obwohl du wegen deiner Erkrankung keinen Alkohol trinken sollst, hast du das Fortgehen geliebt. Unsere Eltern meinten, ich muss auf dich aufpassen, das hat unsere Mutter auch zu G. gesagt, weil ihr beiden bald nur noch zu zweit unterwegs wart. Ich bin mir sicher, dass er das gut gemacht hat, weil er dasselbe wollte wie du, jung sein. Tanzen und trinken ohne Rücksicht auf Verluste. Unsere ersten Erfahrungen haben wir im Wohnzimmer gemacht. Gerade einmal 14 Jahre waren wir, als wir gemeinsam mit Leuten von unserer Klasse herausfinden wollten, ob das auch stimmt, was man sich erzählt. Der Kellner hat wirklich nicht nach unseren Ausweisen gefragt und uns unsere ersten Getränke in einem Lokal serviert. Wir tranken Flügerl, die einfach nur süß waren und dachten, das ist es also. Immer öfter schafften wir es an Alkopops wie Eristoff Ice zu kommen. Bald auch zu den stärkeren Eristoff Black oder Red. Wir haben uns gestylt um gemeinsam im Hof oder im Park mit unseren Schulkollegen zu trinken. Gel in die Haare geschmiert, die Spitzen aufgestellt. Du hast sogar deine Vordersträhnen blondiert und G. hat einen draufgesetzt, indem er sich einen Kranz machte und spitz aufstellte. Wenn er sie nicht hochgelte, sah er wie ein Streifenhörnchen aus. Bald erfuhren wir vom Eastside in der Stadt. Du hast zu mir gesagt, sag einfach, dass du 1985 geboren bist, dann geht das schon. Ich hatte irrsinnige Angst, dass ich der einzige bin, der nicht reinkommt, weil ich so jung aussah und keine Strähnen hatte. Aber alles war, wie du prophezeit hast. Eigentlich waren wir ziemliche Proleten, eben Jugendliche unserer Gegend, wir trugen, was angesagt war. Smog- und Fishbone-Kleidung, eine Eastpak-Gürteltasche. Ziemlich heftig aus heutiger Sicht, aber wir hatten Spaß. Man wird dem, was man gut findet, ähnlich, es ist eine aufregende Zeit, man strebt nach vorne, aber nicht zu sehr, weil man im Augenblick leben möchte. Ich habe mich unwohl gefühlt, und du hast dein Element gefunden. Ein paar Mal hattest du noch die Gelegenheit, Party zu machen, meist mit G., weniger mit mir. Ich war dir irgendwie hinterher, obwohl ich vier Minuten älter bin als du. Im Bett, in unserem Zimmer, hast du mir erzählt, wie es ist ein Mädchen zu küssen, es zwischen den Beinen zu berühren und ich konnte nicht fassen, dass du das alles weißt. Ich war so weit weg davon und du schon so mittendrin.

Jetzt kann ich von meinem ersten Zungenkuss erzählen. Er war mit Alice. Sie zog mich aus einer Dorfdiskothek raus. Ich glaube, G. und J. waren dabei und sie hatte noch eine Freundin bei sich. Alice war die Schüchterne und die andere, ich habe ihren Namen vergessen, die Wilde, auf die es J. abgesehen hatte und nichts daraus wurde. Alice hatte ein Piercing zwischen Unterlippe und Kinn, obwohl sie erst 16 war, genauso alt wie ich. Ich weiß noch, wie süß ich sie fand. Sie hatte blonde Haare und lebte in Neuseeland. Sie verbrachte ihre Ferien in Österreich bei ihrer Oma, die sie an diesem Abend auch bald abholen würde, was wohl auch der Grund war, warum sie reagierte und mich aus der Disko zog. Sie reagierte, weil sie spürte, dass ich die Chance nicht erkannte, absolut nicht mit der Gunst des Augenblicks umgehen konnte. Wiedermal spielten sie diesen Gigi D’Agostino und da bin ich einfach nur traurig und böse auf die Welt. Im Freien, in einem dunklen Winkel, waren meine Hände in ihrer Hose, auf ihren Pobacken gelandet und dort vereist. Ihre Haut zu spüren, ihre Zunge in meinem Mund und meine in ihrem, zu fühlen, wie sehr sie es wollte, hat Gigi gekillt. Wir verabredeten uns ein paar Mal zum Kinogehen. Wir waren immer schüchtern, und immer war ich nervös, ob sie auch so schön aussehe, wie ich sie in Erinnerung habe, und ich fragte mich immer, ob wir uns wieder küssen und ob ich sie wieder halten darf. Wenn uns keine Zeit mehr blieb, ihre Oma sie bald abholte, dann fanden wir einen Platz, an dem wir uns küssen und streicheln konnten. Einmal hatte sie eine Freundin mit und ich G. Sie hat überhaupt nicht zu ihm gepasst, wenigstens konnte ich ihm Alice noch einmal zeigen – dass es jemanden gibt, den ich küssen kann. Bald musste sie nach Hause fliegen. Ich habe mich nicht mal ordentlich von ihr verabschiedet. Wir haben uns E-Mails geschrieben, sie hat mir Fotos gesendet. Einmal hat mich sogar ihre große Schwester angerufen, mit der ich mich auf Englisch unterhalten musste. Ich malte mir aus, wie es mit Alice sein kann, dort in Neuseeland, das ist ein gutes Land, das sagen alle. Ein paar Mails später erschien immer öfter ein Junge neben ihr. Er war sportlicher und reifer als ich. Bald ein schwarzweißes Bild mit einem Böhnchen, schlafend in einer Wolke. Ich sagte, ich freue mich für sie, und unser Kontakt endete damit. Wohin hätte es mich im Leben getragen, wäre ich nicht so kaputt gewesen und du da um mir Ratschläge zu geben.

Es gab keine Mädchen mehr, die mich rauszogen, mich auswählten. Die Leichtigkeit wich wie die Aufbruchstimmung. Mein erstes Mal war eine Peinlichkeit, nicht weil ich versagte, sondern weil es sich wie Selbstmissbrauch anfühlte und ich ein paar Scheine auf ein Nachtkästchen legte. Ich sehe sie vor mir, und möchte kein weiteres Wort darüber verlieren. Ich habe an dieser Tür geläutet. Und alles war anders, als ich mir es vorstellte. Ich war 17, und zu jung dafür, hatte aber das Geld parat. Ich wusste nicht, was geschieht, ich zog mit und war schlussendlich froh erfahren zu haben, wie das läuft. Ich hatte keinerlei Anziehung verspürt, es war völlig automatisiert und ich konnte jahrelang nicht den Weg zu einem gesunden körperlichen Austausch finden. Meine Einsamkeit war ab einem gewissen Zeitpunkt von mir gewählt. Ich wollte nichts Schönes erleben, nichts was du nicht auch konntest. Niemand kann verstehen, was Gigi D’Agostino mit mir anrichtet. Wenn man das Lied hört, alle tanzen, alle sind jung, und ich denke an dein Begräbnis und G. Vater hat uns eine schwarze CD gebrannt. Am Cover ist dein Gesicht in blauen Farben. Ich weiß nicht, was er dabei empfand, aber ich habe von Joan Didion Blaue Stunden gelesen, und erkenne die Symbole der Traurigkeit darin. Vielleicht hat er auf ein Gefühl gehört, das du ihm gegeben hast. Ließ sich davon leiten und damit etwas von Bedeutung entstehen. Ich spüre dich auch, und ich glaube, dass es ok ist von dir zu schreiben und auf diese Weise über unser Leben zu berichten. Es ist gut zu wissen, was einen kaputtmacht, welcher Schicksalsschlag einem das Leben erschwert, denke ich.

An einem Tiefpunkt angekommen, habe ich mir fest vorgenommen kein Tastenwichser zu bleiben. Nicht so eine Person, die nur ein fiktives Sexualleben hat, keine echte leidenschaftliche Beziehung kennt. Als ich so einsam war, mich nicht berühren lassen konnte, chattete ich viel und fand unter anderem eine Frau in meinem Alter, die ähnlich veranlagt war wie ich. Wir unterhielten uns nicht über unsere Seelenzustände, wir hatten Cybersex und Telefonsex. Sie hat damit angefangen und wir hatten an freien Tagen mehrmals am Tag etwas gemacht. Wir schickten uns auch obszöne Bilder und Videos. Sie meinte, sie stehe auf Körperflüssigkeiten und vor allem auf Sperma in ihrem Mund, sie wäre ein Succubus, ein weiblicher lüsterner Dämon, der sich einen Mann sucht um alles aus ihm rauszusaugen, ich werde schon sehen. Auf ihren Fotos war ihre Neigung zum Dunklen gut erkennbar, sie gefiel mir sehr gut. Ihre Worte waren bald meine Gedanken. Sie schockierte mich damit, und ich dachte nur, hurra, jetzt gehöre ich endgültig zu den Perversen. Irgendwann werde ich sie besuchen, habe ich gesagt, sie richtig rannehmen. Wir hatten schon einen Tag ausgemacht, sie meinte nur, endlich, sie rasiere sich gleich überall und hat auch schon ihrem homosexuellen Bruder von mir erzählt, der sich für sie freut endlich einen gescheiten Typen kennengelernt zu haben. Ich fühlte mich geschmeichelt, hatte aber bis zur Abfahrt eindeutig zu viel gewichst, so dass ich absolut keine Lust mehr dazu hatte und die Verbindung abbrach. Außerdem wären es mindestens zwei Stunden Fahrt gewesen. Ich wollte kein Tastenwichser sein, aber am schlimmsten war für mich die Realität der Berührung, der ich mich auf keinen Fall aussetzen wollte. Ich habe ihre Nummer blockiert und gelöscht, damit ich nicht auf blöde Gedanke komme. Ich denke heute an sie und finde es schade, dass wir uns nie im echten Leben begegnet sind.
Gestern habe ich am Abend M. einiges erzählt, was sie nicht von mir wusste, weil ich es ihr nicht zumuten wollte, weil ich es mir nicht zumuten wollte. Sie meinte, wir sollten über unser Sexualleben sprechen, da es zurzeit sehr stockt. Schweigsam hörte sie zu, wie ich ihr erzählte, dass ich oft dafür bezahlt habe mit einer Frau zu schlafen, und wenn nicht, ich es nur im Rausch konnte und dann sehr exzessiv. Dass mir alles, was mit Berührung zu tun hat sehr schwer fällt, ich keinen normalen Werdegang, wenn man es so nennen will, durchlaufen bin. Manchmal hatte ich monatelang keine Berührung, frönte einzig der Selbstbefriedigung, bis der Penis zu sehr schmerzte und ich die Abgründe des Internets satt hatte. Jetzt zögere ich weiter zu denken, den alten Tagen und was darin liegt zu folgen. So schlimm es erscheinen mag – oder vielleicht ist es für manche gar nicht so schlimm – ich muss dorthin, sonst verschwindet etwas von mir, was auch dich beheimatet, denn es wäre nie geschehen. Vielleicht verforme ich sogar mein Leben, würde ich alles dem Vergessen hingeben. Auf eine Weise, die dich ungeboren macht. Wenn ich es nicht tue, nicht darüber schreibe, dann bin ich nichts mehr und selbst nicht auf die Welt gekommen. An manchen Tagen ist das eine verlockende Vorstellung, aber was wäre die Konsequenz einer solchen Auslöschung? Dein Tod und deine Erlebnisse wären sinnlos, wie auch meine Scham und ihre urheberische Kraft der Schande. Ich muss weiter vordringen in die Erinnerungen, sonst gäbe es Alice und M. nicht. Das ist meine Identitätsfrage. Wer bin ich? Ein Zwilling? Noch immer? Darf ich leben? Oder bin ich sogar verpflichtet dazu, es so intensiv wie möglich zu gestalten? Aber, ich fühle mich doch am wohlsten, wenn nichts oder wenig geschieht. Dabei kann ich mich auch am besten hinwenden und schreiben. Habe ich ein Loch gestopft, reißt auch schon das nächste auf. Das ist wie mit den Unterhosen und Socken, die werden alle kaputt, ich weiß nicht, ob es nur mir so geht, aber die haben früher länger gehalten.

M. und ich finden es beide schön auf der Couch einzuschlafen, während die Sonne durch die halbaufgedrehten Jalousien in die Wohnung strahlt. Meist brauchen wir einen zweiten Versuch um richtig zu liegen. Ihr schmerzt entweder eine Schulter oder das Genick, und ich bin ungelenk und mag es nicht, wenn mir was auf der Hüfte liegt, besonders auf dem rechten Hüftknochen. Wir fühlen uns manchmal alt, obwohl wir erst über 30 sind. Ein Singer-Songwriter-Lied baut eine gefühlvolle Stimmung auf, in der wir halb einschlafen, halb wachen, uns mit den Klängen in einen Frieden fallen lassen können. Meine Hand ist auf ihrem Gesäß oder auf ihrem Bauch, oder unter ihrem Leibchen auf einer Brust. Ich kann sie von der Seite ansehen, wenn ich die Augen aufmache, sehen, wie schön sie ist, oder an ihrem Hals riechen, wie ich es am liebsten tue. Oder einfach in ihre dichten schwarzen Haare sehen, die einem die Luft rauben können, wenn sie über einen baumeln. Ich habe eine halbe Erektion, spüre die Begierde, die mich durchdringt. Denke an unsere Zeit, in der wir jeden Tag nackt aneinander geschmiegt waren, es wie wild trieben, andauernd die schweißgetränkte Bettdecke wechseln mussten. Denke an die Waschmaschine, die Dusche, die Küchenzeile, den Esstisch, den Boden, ihren Ellbogen, ihre Achseln, ihr Geschlecht vor meinem Gesicht und ihren Gesichtsausdruck, wenn ich in ihr war. In diesen Augenblicken habe ich kein Verlangen nach Sex, noch bin ich bedürftig, ich fühle mich ihr ganz hingegeben und ich fühle sie mir hingegeben, aus freien Stücken, auf liebevolle und zärtliche Weise.
Das wollte ich dir erzählen.

 

Mario Schemmerl

 

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freiTEXT | Adrian Brauneis

Der Gott der Ameisen

“I come here to discuss a piece of business with you, and whadda you gonna do? You gonna tell me fairy tales?”

Thief  (1981)

Es war einmal vor langer Zeit, und vor langer Zeit war eine vorwitzige Ameise, eine Ameise, die hat nicht glauben wollen, dass es Gott im Himmel gibt.
„Immer soll ich nur arbeiten!“, hat diese vorwitzige Ameise gesagt und hat dann gesagt: „Nie darf ich faul auf meinem Rücken liegen!“ Da hat die vorwitzige Ameise gesagt: „Erklärt mir das!“
„Wir Ameisen, wir arbeiten, tagein, tagaus, den lieben langen Tag, weil Gott im Himmel es so gefällt“, haben alle gläubigen Ameisen der vorwitzigen Ameise da gesagt, die nicht hat glauben wollen.
„Erklärt mir das!“, sagte da diese vorwitzige Ameise. „Nie kriege ich meinen Willen.“ hat die vorwitzige Ameise dann gesagt. „Immer soll ich nur machen, was Gott im Himmel gefällt!“
„Wir Ameisen, wir arbeiten, tagein, tagaus, den lieben langen Tag, weil Gott im Himmel es gefällt, dass es die Natur der Ameise ist, zu arbeiten, tagein, tagaus, den lieben langen Tag“, haben alle gläubigen Ameisen der vorwitzigen Ameise da gesagt, die nicht hat glauben wollen.
„Erklärt mir das!“, sagte da diese vorwitzige Ameise. „Wie soll es denn meine Natur sein?“, hat die vorwitzige Ameise jetzt gesagt, „wenn ich es ja nicht will!“ Und hat dann gesagt: „Ich will nicht mehr arbeiten!“
„Hüte dich!“, haben alle gläubigen Ameisen zu dieser vorwitzigen Ameise da gesagt, die nicht hat glauben wollen. „Hüte dich… vor Gottes Zorn!“
Doch da erwiderte die vorwitzige Ameise: „An euren Gott glaube ich nicht!“ Und sie arbeitete nicht mehr, dass alle sehen sollten, dass sie wirklich einen ganz eigenen Willen hatte.
Als die vorwitzige Ameise nicht mehr arbeitete, da war wohl ein großes Ach und Weh unter allen gläubigen Ameisen in den vier Ecken unserer kleinen Ameisenwelt. „Gott wird die vorwitzige Ameise bestrafen!“, sagten sich alle gläubigen Ameisen. Aber Gott bestrafte sie nicht. Nichts tuend lag die vorwitzige Ameise bloß auf ihrem Rücken in der immer gleichen Luft und unter der immer gleichen Sonne unserer kleinen Ameisenwelt.
Was geschah? Alle Ameisen sagten sich nun: „Auch ich habe einen ganz eigenen Willen und will nicht mehr arbeiten!“ Da lagen bald alle Ameisen faul auf ihrem Rücken in der immer gleichen Luft und unter der immer gleichen Sonne unserer kleinen Ameisenwelt.
Jede Ameise ging jetzt nur noch ganz allein für sich zu dem Platz, wo wir in unserer kleinen Ameisenwelt von jeher immer etwas Süßes finden. Da holte sich jede Ameise jetzt nur noch ganz allein für sich eine süße Leckerei. Und dann lag jede Ameise wieder ganz allein für sich auf ihrem Rücken und jede Ameise freute sich, nun einen ganz eigenen Willen zu haben.
So ging es zu, dass alle Ameisen allmählich alt wurden, solange geschah da nichts mehr in den vier Ecken unserer kleinen Ameisenwelt.
Das wäre wohl das Ende gewesen, was glaubt ihr? Da donnerte es plötzlich, und donnerte ein zweites Mal und donnerte ein drittes Mal. Und dann bebte die Erde und in den vier Ecken unserer kleinen Ameisenwelt geriet alles durcheinander, so wild flog da die Erde durch die immer gleiche Luft unserer kleinen Ameisenwelt. Und unsere immer gleiche Sonne hob sich hinfort, hoch in den Himmel hinweg, und alle Ameisen zitterten, so dunkel und so kalt war es nie gewesen in den vier Ecken unserer kleinen Ameisenwelt.
Da hatten alle Ameisen Angst und sagten: „Das ist Gottes Zorn! Ameisen sollten arbeiten, wie es ihre Natur ist und Gott im Himmel gefällt!“ Und sie zeigten auf die vorwitzige Ameise, die nicht hatte glauben wollen, und sagten: „Die vorwitzige Ameise! Mit einem freien Willen hat sie uns verführt!“
Die Ameisen hatten also ihren Glauben wieder. Und so schnappten sie sich die vorwitzige Ameise, die nicht hatte glauben wollen, und alle zusammen rissen sie sie in viele kleine Stücke.
Da kam die Sonne wieder herab und da bebte die Erde nicht mehr und da donnerte es auch nicht mehr. Und seither herrscht wieder lieber Friede in allen vier Ecken unserer kleinen Ameisenwelt. Denn seither arbeiteten ja alle Ameisen wieder. Fleißig arbeiteten sie alle wieder, so, wie es die Natur der Ameise ist, dass ihr Anblick Gott im Himmel ein Wohlgefallen war.

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Adrian Brauneis

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freiTEXT | Sophie Kremslehner-Czerny

Dominanz eines Beins

Jetzt ist sie schon wieder offen. Nicht umsonst hat sie für eine Schiebetür plädiert. Noch besser wäre so eine Tür, bei der man im Kreis gehen kann. Die wäre nämlich beheizt. Aber ein Vorhang täte es auch schon. Dann würde nicht andauernd kalte Luft hereinziehen. Völlig verrücktes Wetter, sagt sie. Gestern warm. Heute kalt. Was für ein Frühling!

Sie richtet den Aufsteller vor der Tür. Ein sonnenförmiger Brotlaib ist heute verbilligt. Sie nickt zwei Damen mit Nordic-Walking-Stöcken zu, die die Bäckerei bereits zum zweiten Mal umkreisen. Heute gibt es eine Frühlingsaktion, lässt sie sie wissen. Kaffee und Kipferl um drei Euro. Die Damen verneinen. Sie wollen es bis zur Wallfahrtskirche schaffen, die weiter geradeaus liegt. Ein anderes Mal vielleicht, sagt die Verkäuferin und zieht die Tür zu.

Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik fanden heraus, dass Menschen ohne Orientierungshilfe im Kreis gehen würden, selbst wenn sie versuchten, eine bestimmte Richtung einzuhalten. Dahinter stecke nicht wie lange vermutet die Dominanz eines Beins. Die Kreisform ergebe sich automatisch aus den zufälligen Abweichungen von der angepeilten geraden Linie.

Ein Mann tritt so nahe ans Fenster heran, dass seine Nasespitze die Scheibe berührt und sich dadurch plattdrückt. Er stellt den Kragen seines Mantels hoch und dreht der Auslage den Rücken zu. Hinter ihm treibt der Wind Blätter im Kreis. Zeitgleich betritt eine Frau die Bäckerei. Sie hält einen Packen Zettel in Händen. Die Tür kann sie nicht zuziehen. Sie legt auf jedem der runden Stehtische ein Flugblatt ab. Mit Kreistänzen den Frühling erspüren. Als Symbol der Unendlichkeit vermittelt der Kreis weniger Spannung als etwa ein Dreieck, sagt sie. Es gibt keine Ecken, die in eine bestimmte Richtung weisen. Keinen Anfang und auch kein Ende.

Die Huber Mitzi ist gestorben, sagt die Verkäuferin. Das Begräbnis ist am kommenden Sonntag um elf. Da kann ich leider nicht, sagt die Frau. Muss zur Tauffeier meiner Nichte. Ja, ja, der eine kommt, der andere geht, sagt die Verkäuferin und blickt der Frau durch die offene Tür hinterher. Gerade als sie sie zuziehen möchte, biegen die zwei Nordic-Walkerinnen um die Ecke und beschließen ihre Runde in der Bäckerei.

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Sophie Kremslehner-Czerny

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freiTEXT | Jörn Birkholz

Zug um Zug

„Immer derselbe Mist!“, fluchte die stämmige Frau neben Glogowski.
Er lächelte zustimmend, und beide schauten fast gleichzeitig zur Anzeigetafel hinauf. Der ICE nach München hatte jetzt bereits zweiundzwanzig Minuten Verspätung. Ursprünglich sollten es zehn Minuten sein, dann erhöhte man auf zwanzig, und gerade kam die Durchsage, dass sich die Ankunft in Bremen um satte fünfundvierzig Minuten verschieben sollte.
Der Bahnsteig füllte sich immer mehr. Glogowski blickte in unzählige missmutige und ungeduldige Gesichter. Dazu wehte ein eisiger Wind, da sie auf Gleis zehn, also im Außenbereich des Bahnhofs warten mussten.
Zwei ältere Männer zu seiner Rechten unterhielten sich lautstark und lachten dabei des Öfteren – nahmen es anscheinend mit Humor. Erneut eine Durchsage: ICE 1139 NACH MÜNCHEN; ANKUNFT SIEBZEHN UHR EINUNDZWANZIG, VERZÖGERT SICH AUFGRUND EINES PERSONENUNFALLS UM CA. FÜNFZIG MINUTEN, VORAUSSICHTLICHE ANKUNFT IN BREMEN ACHTZEHN UHR ELF, umgehend korrigierte sich die Anzeigetafel.
PERSONENUNFALL – Glogowski wusste, dass dies nur die Umschreibung für Schienensuizid war. Geschah in letzter Zeit immer häufiger. Naja, ist ja wohl auch eine sichere Sache um abzutreten, dachte er.
Lässig behielt Glogowski seine leichte Aktentasche in der Hand. Die meisten übrigen Reisenden hatten ihr Gepäck schon lange auf den Bahnsteig gestellt und standen dämlich daneben, aßen etwas, streichelten ihre Tablets und iPhones und blickten sauertöpfisch – was für ein Wort, dachte er – drein. Glogowski trug wieder einmal seine besten Sachen, einen schwarzen Anzug, seine schwarzen Lederschuhe und seinen Wintermantel. Die Haare hatte er diesmal linksgescheitelt. Die Frau neben ihm sprach jetzt in ihr Handy: „Ja, schon wieder Verspätung, das dritte Mal diesen Monat, aber wir treffen uns trotzdem bei Maja, ich stoß dann zu euch …“ Glogowski wollte nicht länger zuhören und ging den Bahnsteig ein wenig auf und ab. Die Sonne kam heraus, er blieb stehen, hielt sein Gesicht hinein, schloss die Augen und lauschte den Geräuschen des Bahnhofs. Ein Kind kreischte und heulte darauf. Glogowski öffnete die Augen. Die Mutter ermahnte es, doch das Kind schrie noch lauter. Darauf drückte ihm die Mutter etwas in die Hand, einen Keks oder ein iPhone; Glogowski konnte es aus der Entfernung nicht richtig erkennen.
Ein Mann neben ihm schnaubte geräuschvoll in sein Taschentuch.
„Schon das dritte Mal dieses Monat“, bemerkte Glogowski sich ihm zuwendend.
„Bitte?“, fragte dieser.
„Das dritte Mal dieses Monat… vorgestern in Frankfurt musste ich fast zwei Stunden warten wegen einer defekten Oberleitung.“
„Ja, schlimm sowas.“
„Ja, ist man von der Bahn ja nicht anders gewöhnt.“
„Ja, ja“, grummelte der Mann und schwieg darauf. Glogowski verstummte auch, blieb noch eine Weile schweigend neben dem Mann stehen und schlenderte dann wieder den Bahnsteig entlang. Er stellte sich neben eine hübsche Frau um die Dreißig.
„Müssen Sie auch nach München?“, fragte Glogowski.
Die Frau betrachtete ihn skeptisch, nickte aber knapp.
„Hoffentlich wird’s nicht noch später“, sagte Glogowski lächelnd.
Die Frau lächelte falsch zurück, nickte noch knapper und nahm dann dezent Abstand von ihm.
AN GLEIS ZEHN: ICE 1139 NACH MÜNCHEN; VORSICHT BEI DER EINFAHRT.
Der Zug fuhr ein. Ungeduldig warteten die Insassen darauf, die automatisch verriegelten Türen zu öffnen, um herauszukommen, während draußen die Reisenden ungeduldig darauf warteten hineinzukommen. Unzufriedene, zerknautschte Gesichter auf beiden Seiten. Glogowski hielt sich jetzt abseits und beobachtete das Treiben. Die Frau, die ihm eben noch knapp zugenickt hatte, zwängte sich mit ihrem sperrigen Koffer als eine der ersten in den ICE. Glogowski verließ das Gleis und kurz darauf den Bahnhof. Vorm Gebäude nahm er die gerade eintreffende Straßenbahn und fuhr schwarz die fünf Stationen nach Hause.

Seine Einzimmerwohnung war schlecht gelüftet, er hatte vorhin vergessen, das Fenster zu öffnen. Ihm war, als rieche es in der Wohnung nach altem Mann – dabei war Glogowski erst siebenundfünfzig. Er öffnete das Fenster und schaute nach unten. Kinder stritten um etwas. Nach einer Weile schloss er das Fenster wieder, zog sich aus, verstaute seinen Anzug, die Schuhe und die leere Aktentasche sorgsam im Schrank, schlüpfte darauf in seinen Trainingsanzug und legte sich aufs Bett. Er blickte auf das Bild seiner Frau auf dem Nachttisch – ihm wurde schwermütig, wie jedes Mal, wenn er das Bild betrachtete. Er schloss die Augen. Draußen schrien die Kinder in einer Sprache, die er nicht verstand.

Heute war er etwas später dran als sonst. Er war wieder unter Menschen. Hatte er zuhause noch das Fenster geöffnet, bevor er gegangen war? Hoffentlich. Er sah auf die Anzeigetafel in der Bahnhofshalle. Der IC 2032 nach Leipzig auf Gleis vier hatte etwa dreißig Minuten Verspätung. Er begab sich mit der Aktentasche in der Hand auf Gleis vier.

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Jörn Birkholz

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freiTEXT | Mona Gnan

falsch korrigieren

Das Problem hat mich gelöst. Ich starre auf den Tippfehler, der sich so hartnäckig unter meinem Handydisplay festgebissen hat wie eine Zecke. Das Problem hat sich gelöst, will ich korrigieren. Aber je länger ich darauf starre, desto mehr wird mir bewusst, dass es kein Fehler ist. Dass der Schreibfehler mich korrigiert hat. Ätsch, hält er mir vor. Du denkst immer, dass du alles besser weißt. Der Schreibfehler hat Recht. Würde ich ihn jetzt verbessern, würde ich ihn falsch korrigieren. So wie ich in der Schule meine richtigen Antworten in den Klassenarbeiten immer falsch korrigiert habe, wenn ich mich selbst zu sehr hinterfragt habe. Und dann mit mindestens einer halben Note schlechter nach Hause gegangen bin. Orthographisch korrekt muss da stehen Das Problem hat sich gelöst. Aber realitätsgetreu muss da stehen Das Problem hat mich gelöst, denn, ungelogen, I. Lost. My. Shit.

So genau will ich dir das allerdings nicht sagen, denn natürlich bin ich immer ausnahmslos entspannt und gelassen und cool und umgänglich und locker und gechillt und was noch alles synonymisch in diese Wortwolke passt, deren Ursprung Kein Problem lautet. Alles gar kein Ding. So unkompliziert, wie ich denke, dass die Welt mich haben will. Und so unkompliziert, wie ich denke, dass du mich haben willst. Aber wenn ich ehrlich bin, will ich mich so gar nicht haben. Selbstunterdrückung, Selbstentrückung, Selbstkleinmachung und jetzt spucken mir dafür dreiundzwanzig Buchstaben ins Gesicht. Zu Recht. Das ist das Ergebnis von jahrelangem Zu-viel-bitte-und-danke-Sagen. Die Antwort auf tausende unnötige Entschuldigungen. Die Retourkutsche für unverhältnismäßig viel Ich-möchte-keine-Umstände-machen. Die Strafe für den exzessiven Gebrauch des Konjunktivs. Die Karmaschelle für Ich-mache-jetzt-lieber-nicht-den-Mund-auf. Die Auswirkungen von Ich-darf-nicht-zu-viel-Raum-einnehmen. Ich will ja keine bitch sein. Ich will ja niemandem auf den Schlips treten. Warum tragen Frauen eigentlich keinen Schlips? Das muss ein Fehler sein, warum hat den niemand korrigiert? Es kann ja nicht sein, dass man nur Männer nicht vor den Kopf stoßen darf. Ich denke, ich sollte anfangen, einen Schlips zu tragen. Vielleicht werde ich dann auch nicht mehr vor den Kopf gestoßen. Vielleicht wirke ich dann männlicher und härter. Aber hoffentlich wirke ich dann nicht wie eine bitch. Vielleicht finde ich dann aber den Respekt vor mir selbst wieder, denn den habe ich auf meinem Weg aus Versehen verloren und ich denke, das kann man mir auch ansehen, weil ich eben keinen Schlips trage. Und ich will gar nicht erst wissen, wann du den Respekt vor mir verloren hast oder ob du ihn überhaupt jemals hattest. Vielleicht sollte ich auch einfach männlicher und härter sein, aber das fühlt sich dann eigentlich gar nicht nach mir an. Bin ich gerade dabei, mich falsch zu korrigieren? Auf jeden Fall verspotten mich inzwischen sogar meine eigenen Buchstaben.

Weißt du, was mich wütender macht als das eigentliche Problem? Dass ich nicht weiß, ob du dir jemals solche Gedanken machen musstest. Dass du meine Nachricht einen Tag lang unbeantwortet lässt, obwohl ich dir die Dringlichkeit mitgeteilt habe und du jetzt ankommst mit Kann man dir noch helfen? Nicht mal die erste Person Singular hast du benutzt, denn emotional involviert bist du schon lange nicht mehr, wenn du es jemals aufrichtig warst. Und du gehst sowieso davon aus, dass das Problem bereits gelöst ist, weil ich schon lange gelernt habe, meine Probleme ohne deine Hilfe zu lösen. Gestern hätte ich in deiner Antwort vielleicht noch ein freundliches Angebot gelesen, aber heute lese ich ein Ist dir noch zu helfen? zwischen unseren zwei Sprechblasen im Chat und das frage ich mich ganz ehrlich auch. Das letzte Mal, als wir etwas zusammen unternehmen wollten, hast du darauf bestanden, dass ich dir, wie immer, eine Idee pitche, über die du entscheiden kannst. Ich bin fleißig am Überlegen, wollte ich schreiben. Vertippt habe ich mich: Ich bin fleißig am Überleben. Und vielleicht wollte mir dieser Tippfehler schon einen ersten Hinweis geben. Die angestaute Enttäuschung in meinem Bauch wandelt sich langsam von passiv-aggressiv zu aktiv-aggressiv. Gut, dass gerade niemand meine Gefühle sehen kann, denn dann würden mich alle für eine bitch halten. Und das will ich ja nun wirklich nicht. Es soll niemand merken, dass ich wütend bin, dass ich Emotionen habe. Ist das hier gerade emotionales Verkopftsein oder verkopftes Emotionalsein?

Heute Morgen war ich sehr früh wach, weil ich die ganze Nacht über das Problem und über dich und mich und keine Nachricht nachgedacht habe. Ich bin immer sehr früh wach, wenn ich auf wichtige Nachrichten warte, denn ich muss immer sehr früh wach sein, damit ich schneller bin als die Nachrichten. Falls sie schlecht sind, will ich nicht aus der Kalten erwischt werden. Ich muss ja gefasst bleiben. Das will geübt sein. Wenn man vom Schlimmsten ausgeht, kann man nicht enttäuscht werden. Vielleicht hatte ich deshalb so viel Geduld mit dir.

Ich will nicht immer auf meine Gefühle aufpassen müssen, weil sich das so gehört. Ich will nicht, dass mein Bruder in meinem Hinterkopf sagt Sie hat gerade wieder ihre fünf Minuten, wie früher. Ich will nicht, dass meine Mama für immer sagt Das ist aber nicht ladylike, wenn ich fluche. Ich will nicht, dass mein Papa mir als Kind jedes Mal gesagt hat Gerade warst du noch normal, wenn ich wütend war und ihm widersprochen habe. Du bist normal, will ich mir selbst sagen. Denn jetzt sitze ich allein in meinem Zimmer, wenn ich traurig bin, und kann nicht einmal vor mir selbst weinen. Glaube mir selbst nicht, wenn ich wütend bin. Ekle mich vor meinen eigenen Emotionen. Jetzt muss ich neu lernen zu widersprechen und Leuten auf den Schlips zu treten. Oder korrigiere ich mich gerade falsch?

Um dich herum gehe ich schon immer auf Zehenspitzen, damit ich bloß nicht anecke. Bloß keinen Ton machen, bloß nicht stören. Vorsichtig, vorsichtig, vorsichtig. Das ist anstrengend und macht nicht glücklich, aber nur so kann ich immer ausnahmslos entspannt und gelassen und cool und umgänglich und locker und gechillt und was noch alles synonymisch in diese Wortwolke passt, deren Ursprung Kein Problem lautet, sein. Und je länger ich auf den Tippfehler starre, desto mehr frage ich mich, wer Recht hat. Der Tippfehler oder ich. Es ist schon frech, wie er sich da einfach so eingeschlichen hat. Auf Zehenspitzen hat man keinen festen Stand. Ich bin mir gerade nicht mehr sicher, was richtig und was falsch ist. Und dann sitzt er da einfach, der Tippfehler, auf zwei blauen Häkchen. Ob ich richtig oder falsch liege? Vorlaut lacht er mir ins Gesicht, der Tippfehler, wie er da sitzt. Verschlimmbesserung. In der Schule habe ich immer nachträglich Fehler ins Diktat eingebaut, weil mir selbst die schweren, langen Fremdwörter verdächtig einfach vorkamen. Falschkorrektur. Oder sprechen da nur meine Gefühle aus mir? Einmal bin ich deshalb mit zwei ganzen Noten schlechter nach Hause gegangen. Emotionales Verkopftsein oder verkopftes Emotionalsein? Das kannst du doch eigentlich besser, meinte meine Deutschlehrerin kopfschüttelnd bei der Rückgabe. Bin ich dabei mich falsch zu korrigieren?

Das Problem hat sich nicht gelöst, es hat mich gelöst. Und die Lösung ist, dass ich mich von dir löse.

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Mona Gnan

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freiTEXT | Simon Bethge

male fantasy, oder: alles kann, nussmix

                           steigt T. aus dem U-Bahn-Ausgang. In natura wirkt sie kleiner als auf den Fotos, geradezu petite, und wiegt sicher kaum mehr als der Rucksack, unter dem sie sich krümmt. Sie sieht sich um, sucht: mich. Und ich, ich müsste bloß die Sonnenbrille aufbehalten, ein paar Schritte zur und über die Straße machen, mir sagen, dass ich noch nicht bereit sei für jemanden nach IHR, das Match löschen, fertig. Doch T. hat mich entdeckt. Ob ich ihr den Rucksack abnehmen könne? Ja, der sei immer so schwer. Wer Medizin studiere, müsse sich ans Schleppen gewöhnen; Textbücher verschiedenster Auflage, Protokolle, Analysen – das Leben an sich stecke da drin.
„Meine Mutter hat mit unserem Pschyrembel immer Spinnen erschlagen“, sage ich, weil es fast dazu passt, „oder Blätter gepresst oder Möbel gestützt.“
Sie schmunzelt, ich schmunzele zurück, mein Füßling rutscht mit jedem Schritt weiter von der Ferse und knüllt sich vorne im Schuh zusammen. Alles ziept. Ob es noch weit sei, noch weit bis zu ihrem ‚Geheimtipp‘?
„Nicht besonders.“ Sie konsultiert Google Maps, dennoch laufen wir dieselbe Straße zweimal ab.
Im Café Bilodeau sind die Getränke klein und stark. Hunger scheint sie nicht zu haben, und einen Großteil des Dates verbringen wir schweigend, bis T. sich erinnert, dass wir ja beide Filme mögen.
„Welche hast du denn so gesehen?“, fragt sie.
„Alle außer den schlechten.“
Beim Lachen flattert ihr Hängelid. „Und, irgendwelche Empfehlungen?“
„Am besten sind die isländischen mit ungarischen Untertiteln.“
Ab da läuft’s. Auf den Kaffee folgen ein weiterer und ein Sandwich, dann ein Kurkuma Latte, den ich allem Umami zum Trotz drinnen behalte, während T. mir erklärt, warum Erdoğans Immobilienpolitik die medizinische Versorgung in den Innenstädten gefährdet. Zum Abschied umarmen wir einander. Zwei Tage später schreibt sie, dass sie sich zwar sehr wohlgefühlt habe mit mir, ‚uns‘ aber lieber

                                                                                                                                                   nicht nachlassen jetzt! A. hat sich in den letzten zehn Minuten meine beiden Läufer und einen Turm geschnappt, mit dem ich ihren linken Springer hatte schlagen wollen. Auch beim Astra führt sie 5:3. Den ganzen Abend schon trinken wir die Marke, als würden wir nichts Besseres kennen oder auf der Karte finden. Dabei hat A. vorhin noch gescherzt, dass ihr als Tschechin der Sinn für gutes Pils ja quasi mit der Muttermilch eingegeben worden sei, ebenso wie das Talent für Schach, schließlich sei sie die Ur-Urgroßnichte von Vera Menchik, ob ich von der, nein, natürlich nicht, Weltmeisterinnen hätten erfahrungsgemäß immer kleineren Anteil am kollektiven Gedächtnis als Weltmeister, ganz egal, wie lange sie die globalen Listen anführten, tja. Also Cheers – auf die von der Geschichte Verschluckten.
Seitdem läuft das Spiel: Ich ziehe, sie zieht. Ich überlege, sie nicht. Ich wage, sie gewinnt. Noch eine Runde?
Als ich mit zwei eiskalten Knollen von der Bar zurückkehre, hat A. die Figuren neu aufgestellt. Bevor wir beginnen, will sie wissen, worauf ich eigentlich aus sei – so ganz generell, aber vor allem bei ihr, vor allem auf lange Sicht. Und statt A. die Wahrheit zu sagen – dass, wäre nicht der Tod das Ende jedes Bewusstseins, ich ausschließlich den Weihnachtssalat meiner Eltern und IHRE Sillage vermissen würde, die der Fahrtwind einmal zu mir wehte, als ich auf dem Sozius saß –, behaupte ich bloß, dass es die bei mir nicht gebe, die lange Sicht, nicht im Moment.
Das scheint sie zu beruhigen, wenigstens nicht zu überraschen, denn sie fragt bloß: „So, can I use the white chessmen again or are you

                                                                                                                                                                                                                                                                     dann wohl Simon, stimmt’s?“
B. ist wie jeder, damit auch wie ich. Der Tod des Hamsters als einziger bedeutender Verlust zwischen 11 und 20, irgendwann ein gebrochener Arm, ein Fahrradrennen und Capri Sun, die damals noch Sonne hieß, zum Abkühlen; Wildpinkeln, der erste Kuss. Souvenirs ohne DIN, die das Tagebuch hässlich ausdellen, wenn man sie hineinklebt. Trotzdem treffen wir uns.
„Nicht, dass ich was gegen Arthouse hätte – ich guck’s nur viel zu selten, um richtig Fan zu sein.“
Ich denke, dass ich vielleicht einfach nur jemanden suche, der mir die Eier krault, während ich an meiner IQOS sauge, Billie Eilish höre und vergesse, was wann wehtat.
„Magst du mir das Salz reichen?“
Ich denke, dass es da draußen vielleicht Menschen gibt, die sich fragen, warum ich nie zurückgerufen habe. Sie haben Katzen, Geschwister, immer genug Taboulé im Kühlschrank. Und wenn sie abends heimkommen, spucken sie in den Vorgarten, als wollten sie ein Revier markieren, das ihnen niemand streitig macht.
„Komm, ich lade dich ein. Kino ging ja immerhin auf dich.“
Ich denke, dass die Kastanie von gegenüber vielleicht jetzt, wo sie nur noch in meinem Kopf existiert, länger blüht; dass mir die Preise vielleicht mehr bedeuten, wenn ich wieder anfange, sie mit Werken der Liebe zu gewinnen.
„Ich würd' dich ja fragen, ob du mit hochkommen willst, aber mein Mitbewohner ist gerade erst aus Mumbai zurück und hat mega den Jet-lag, deshalb lass uns doch die

                            Nudes haben wir bereits hinter uns, als E. fragt, ob ich mir zutrauen würde, ihn zur Beerdigung seines Onkels zu begleiten; die finde am nächsten Wochenende statt, Sonntag, um genau zu sein, bei Lüchow im Wendischen, und eigentlich sei es ja nur logisch, nach dem Körper auch die Familie kennenzulernen. Ich willige ein, denn das Praktikum, das tags darauf hätte beginnen sollen, wurde mir zugunsten eines besser geeigneten Kandidaten – den ich insgeheim für eine Kandidatin halte – abgesagt.
E. will mich vor Ort abholen. Ich nehme den Regio bis Lüneburg, muss auf den Anschlusszug warten, versuche, währenddessen nicht an IHREN ersten Abschied auf der Ilmenaubrücke zu denken, an den zweiten im Hörsaal, weil wir’s nicht lassen konnten, und an den dritten, nach dem uns endlich nichts mehr einfiel. Dann kaufe ich im DB Store ein Magazin über moderne Männer.
E. hat ein hübsches Auto und gerade Zähne. Ich sehe ihn da, das sei erwähnt, zum ersten Mal richtig. Zum letzten auch, aber das weiß ich in dem Moment noch nicht. Und falls er es bereits weiß, lässt er es mich nicht spüren.
Während der Fahrt erzählt er aus dem Leben seines Onkels. Karriere bei der Post, als die noch staatlich war, Burnout, Frührente. Ein schwieriger Mensch sei er gewesen, nein, geworden, weil seine Eltern ihm nie beigebracht hätten, sich zu wehren. Aber geliebt habe E. ihn schon irgendwie.
Ich frage, warum er da jetzt nicht lieber allein durchwolle.
Ein Alibi, ganz simpel. Denn auf Familienfeiern, gerade jenen, auf denen es um jemand anderen gehen sollte, würden den Leuten naturgemäß irgendwann die Anekdoten ausgehen, und man fange an, sich stattdessen mit der nächsten Generation zu befassen – deren Jobs, Kinderpläne und Partner. Es genüge also, wenn die Verwandten ihn mit einer Begleitung sähen; die Kennenlernstory werde er ad hoc entwerfen, ich solle sie einfach abnicken. Deal?
Dann: Winterlicht in Sonnenbrillengläsern, Händeschütteln, „O Welt, ich muss dich lassen“, Suppe mit Eierstich, Peter Maffay Best Of, und zurück an die Bar, um

                             einzudösen ist mir zwar unheimlich peinlich, aber ich kann nichts dafür, besser: dagegen. Im Saal ist’s warm und dunkel, die 3D-Brille getönt, der Film entsättigt. Das ist das zweite Mal, dass ich ihn sehe, diesen Scheißstreifen mit seiner aufgesetzten Grandezza, aber was kann ich tun, wenn es der Einzige ist, der hier auf Englisch läuft, und A. mit Ausnahme von „Geschwindigkeitsbegrenzung“ kein Deutsch spricht.
Mit jedem Sekundenschlaf rutscht mein Kopf näher zu ihr. Und sie lässt es zu. Ihr Blick haftet an der Leinwand, kein Haar ragt über die Sessellehne, die uns trennt.
Es hatte wohl keiner von uns vor, den anderen wiederzusehen. Dass wir uns doch verabredet und die Verabredung auch durchgezogen haben, wird vor allem daran liegen, dass wir beide die Stadt zum Ende des Monats verlassen, um uns andere Karrieren zuzulegen, andere Makel; um uns tätowieren zu lassen oder Avocados auf dem Balkon zu ziehen. Wir werden Gewesenes neu formulieren, Gewordenes vergleichen, und am Ende

                                                                                                                                                                                                                                                 steigt T. aus dem U-Bahn-Ausgang ...

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Simon Bethge

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freiTEXT | Claudia Eilers

Graugänse

Die Gänse sind zurück. In Scharen stehen sie auf dem Feld, putzen ihr Gefieder und schlagen mit ganzer Kraft ihre Flügel, um sich von Staub und Milben zu reinigen. Ihre orangen Schnäbel durchwühlen den vom Regen aufgeweichten Boden, während ihre platten Füße durch die feuchte Erde stapfen, sodass kaum ein Flecken verschont bleibt. Junges Grün wird hier sicherlich nicht mehr wachsen, ziehen sie doch jeden aufkeimenden Spross kraftvoll aus der Erde. Langsam sickert Wasser in Erdlöcher und kleine Gräben hinein, die durch das Scharren auf dem Ackerboden entstanden sind. Ihre Ankunft verkünden die Gänse eindringlich und laut, weshalb das Kind ihre knarrenden Rufe selbst aus einiger Entfernung hören kann. Es fragt sich, ob ihr Weg wohl lang und die Reise beschwerlich war. Die Vögel werden es ihm nicht erzählen, ebenso wenig wie der Wind, der ihm rote Wangen ins Gesicht treibt und so kräftig in seine Augen bläst, dass sie tränen.

Von einem kleinen Hügel aus kann das Kind die Gruppe erkennen. Sie zanken und streiten sich um Nahrung und den besten Platz, um der Frühjahrskälte zu entgehen. Manchmal ringen sie miteinander. Dann sieht man deutlich ihre langen roten Zungen und hört das garstige Zischen aus ihren Hälsen. Das Kind wagt kaum, sich ihnen zu näheren, denn es fürchtet, dass es die Gänse in seinem gelben Regenmantel für einen Feind halten könnten. Von ihren Schreien eingeschüchtert, zupft es verlegen an seiner roten Mütze. Es will nicht kämpfen, da es im Gegensatz zu den Tieren keinen Sinn darin erkennt. Dann schaut es in den Himmel, der – von Wolken durchzogen – nur wenige Sonnenstrahlen auf die Erde fallen lässt. Es blickt zurück auf das Federvieh, wie es nicht müde wird, einander die Würmer aus den Schnäbeln zu reißen. Sie sehen hungrig, aber nicht ausgemergelt aus, was das Kind in seiner Ansicht bestärkt.

Es erinnert sich, wie einträchtig sie im Herbst in den Süden zogen, wie einige die Formation anführten, dem Gegenwind trotzten und sich für die Gruppe aufopferten. Was ist in den wenigen Monaten nur geschehen, dass dies nun vorbei ist. Es fragt sich, auf welche Weise sie ihre Jungen ausbrüten und großziehen, und stellt sich vor, dass die Küken hinter ihrer Mutter herwatscheln, nur um nicht von den anderen niedergetrampelt zu werden. Wie groß wohl der Schmerz der Kleinen beim Verlust der schützenden Flügel sein muss, wenn sie das erste Mal selbst einem Artgenossen ihre Zunge entgegenstrecken, damit sie nicht im Gedränge untergehen? Nein, das Kind ist sich sicher: Es will ganz bestimmt keine Gans sein.

Noch einmal schaut es sich die schnell vorbeiziehenden Wolken an. Trübe und grau sind sie – wie das Gefieder der Tiere. Das Kind kneift die Augen zusammen. Es versucht einzelne Individuen in der feldgrauen Masse auszumachen und merkt, dass es ihm kaum gelingt. Ihm scheint, als könnten die Tiere gar nicht anders, als sich mit gerade gestrecktem Kopf und stolz gefüllter Brust im Matsch um Kriechtiere und Gräser zu streiten.

Etwas Kaltes trifft das Kind an der Stirn. Erst fallen nur wenige harte Tropfen auf die Erde, bis es schließlich wie aus Kübeln schüttet. Vom Regen überrascht, steht das Kind in seinem gelben Regenmantel da. Verträumt beobachtet es, wie sich das Wasser auf seinem Plastikumhang sammelt und langsam an ihm herunterläuft. Die Gänse haben unterdessen nicht gewartet. Ohne zu zögern sind sie in einem neu gebildeten Schwarm weitergezogen, bevor das Unwetter sie erreichen konnte. Allein bleibt das Kind am Feldrand zurück und starrt in das unheilvolle Grau aufgezogener Gewitterwolken.

 

Claudia Eilers

 

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freiTEXT | Leo Lemke

In den Plakatiefen – Tyoko, 2002

Jedes Mal, wenn ich durch das Fenster meines Hotelzimmers schaue, sehe ich diese riesige Reklametafel. Japanische, weiße Lettern auf karminrotem Hintergrund, darunter eine lächelnde Frau mit einem beschlagenen Glas Bier. Die Plakatbahnen sind ausgebleicht, obwohl die Sonne der Gasse vor dem Hotel nie einen Besuch abstattet. Auch Menschen kommen keine vorbei. Es ist, als hätte jemand dieses Plakat nur für mich dort aufgehängt, vor Jahren schon, und als hätte es hier seitdem auf mich gewartet. Seine untere rechte Ecke hebt sich sachte von der Tafel ab, wie bei einem Abziehbildchen. Jeden Tag ein bisschen mehr.

Auf meinen Reisen in den letzten Jahren habe ich so etwas wie einen Tick entwickelt. Ich kann Städte, sobald ich sie einmal besucht habe, nicht mehr beim Namen nennen. Die Diskrepanz zwischen dem Namen – seinem Klang, seiner Form, seinem Charakter – und der Stadt selbst ist einfach zu groß und wächst mit jedem weiteren Schritt auf ihren Straßen nur mehr. Ein Germanistensohn hat mir mal erzählt, dass er unter der gleichen Störung gelitten habe und darum alle Schriften Saussures aus der Privatbibliothek seines Vaters während eines rituellen Brandopfers vernichtet habe. Seitdem seien Signifikat und Signifikant bei ihm wieder deckungsgleich. Für mich ist das aber leider keine Lösung. Zu einer Bücherverbrennung kann ich mich einfach nicht durchringen, selbst wenn es nur die Grundlagen der germanistischen Linguistik in der dritten Auflage sind. Die Chance auf Veröffentlichung meiner Reiseberichte schmälert dies ungemein.

Während meiner Streifzüge durch Shin-Okubo sehe ich in den Schaufenstern von Lokalen häufig Nachbildungen von Essen. Kunstfertige Skulpturen aus Wachs, zubereitet in einer komischen Küche. Sie erzählen mir Geschichten von dampfender Ramen, deftiger Gyuudon und knusprigem Tempura und ehe ich mich versehe, sitze ich in einer Seitenstraße in einem Tonkatsu-Restaurant. Die Kellnerin bringt mir erst einen warmen, feuchten Lappen, dann fragt sie etwas auf Japanisch. Ihre Stimme klingt wie die einer Nachrichtensprecherin. Klar und aufgesetzt und furchtbar unpersönlich. Ich nenne ihr die Nummer eines Tonkatsu-Gerichts aus dem Schaufenster und bestelle zusätzlich eine Flasche Ramune, weil in den Flaschen dieser Limonade eine Murmel eingelassen ist Die Kellnerin nickt und lächelt, so als meinte sie es. Wenig später stellt sie die Bestellung vor mir ab und ich kann es kaum fassen. Das Gericht hat nichts, aber wirklich gar nichts mit der Wachsskulptur im Schaufenster zu tun. Reiskörner und Panko sind völlig anders angeordnet, weißes Schweinefleisch lugt durch Löcher in der Panade hervor und die Soße wird durch Reflektionen des Deckenlichts verunreinigt. Angewidert verziehe ich das Gesicht. Eine Frechheit, mir so etwas vorzusetzen. Belogen und betrogen verlasse ich das Restaurant. Nur die Flasche Ramune lasse ich dabei mitgehen.

In Kabukicho stehe ich vor der Ladenfront eines Adult Video Stores. Ein verführerisches Reich verpixelter Erotik. Ich versuche gerade, das Geschäft mit meiner Polaroid einzufangen, als mir jemand eine Hand auf die Schulter legt. Ich zucke zusammen. Es ist eine große Hand und sie gehört einem ebenso großen Mann.

How do you want to spend your night, man?

Er grinst breit. Seine Zähne sind unwirklich weiß. Mit einer theatralischen Geste klappt er vor meinen Augen einen Katalog auf. Die Doppelseite ist gespickt mit Fotos wunderschöner Frauen. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass die ersten japanischen Fotografen es schwer hatten, Kundschaft zu finden. Die Japaner glaubten damals nämlich, fotografiert zu werden würde ihnen einen Teil ihrer Seele stehlen. Gefährlich exotistisches Halbwissen? Kann gut sein. Bisher hatte ich das auch immer als Aberglauben abgetan. Doch beim Betrachten der Mädchen in diesem Katalog kann ich die Angst zum ersten Mal nachvollziehen.

Do you want to have a good time tonight?

Er grinst noch breiter als zuvor und ich seufze. Eine perfide Frage, wirklich gewieft. Natürlich möchte ich eine gute Zeit haben, wer denn nicht? Ich bejahe seine Frage, denn sonst müsste ich lügen.
Wir gehen unter einer surrenden Neonreklame hindurch in eine schmale Gasse, passieren eine ratternde Lüftungsanlage, aus der uns der Geruch von altem Fett entgegenkommt, und ein paar längst vergessene Müllsäcke. Es würde mich nicht wundern, wenn er jetzt ein Messer zückte, um mich meiner Habseligkeiten zu berauben. Oder mich zu einem Bankautomaten führte, um dort gleich mein ganzes Konto zu räumen. Soll’s geben hier, hab ich gehört. Doch er tut nichts davon und dafür bin ich ihm recht dankbar. Über eine Treppe aus Edelstahl erreichen wir schließlich einen Laubengang. Nichtssagende Türen führen – vermute ich – in umfunktionierte Apaatos. Hin und wieder meine ich hören zu können, wie jemand dahinter eine good time hat. Fast am Ende des Ganges öffnet der Mann schließlich eine der Türen und deutet mir, ich solle eintreten. Ich folge seiner Anweisung, er bleibt auf dem Gang und schließt hinter mir die Tür.

Der Raum ist nahezu würfelförmig. Da steht ein Bett in westlichem Stil in der einen, ein Mülleimer in der anderen Ecke. Eine Tür führt in eine rudimentäre Nasszelle. Eine Neonreklame wie die von vorhin hängt direkt neben dem Fenster und wirft alles in ein rotes Licht. Auf dem Bett sitzt die Frau aus dem Katalog, ich setze mich zu ihr und sie sich auf mich. Prostitution ist in Japan illegal. Wir bewegen uns hier rhythmisch in einer rechtlichen Grauzone. Schenkelsex nennt sich das, Sumata. Ich schaue zu ihr hoch und sie sieht tatsächlich haargenau so aus wie im Katalog. Wenn ich sie mit einem Chotto kurz unterbrechen, ein Auge zukneifen und das Foto zwischen uns halten würde, dann könnte ich wohl nicht erkennen, wo Abbild aufhört und Wirklichkeit beginnt.

Als ich fertig bin, liegen wir noch etwas nebeneinander, weil ich für zwanzig weitere Minuten bezahlt habe. Wir schweigen. Kurz vor Schluss dreht sie sich noch einmal zu mir, formt mit den Händen einen Trichter vor ihrem Mund und sagt:

Ha!

Verdutzt starre ich sie an. Sie erklärt in gebrochenem Englisch, dass sie schauen wollte, ob ich echt sei.

Und?, frage ich.

No echo, sagt sie und schüttelt den Kopf. Real.

Ich verlasse das Zimmer, als gäbe es mich.

Vor der Kühlschrankwand eines Konbini leuchten mir Flüssigkeiten in allen Farben des Regenbogens entgegen. Ich bin kurz davor, mir ein Strong Zero zu greifen, als ich im Augenwinkel sehe, wie sich eine junge Frau ein Asahi nimmt. Der folgende Moment verläuft wie in Zeitlupe. Ihr wallendes Haar im Wind des Deckenventilators, das perlende Kondenswasser an der Bierdose, das befriedigende Zischen, als sie die Dose öffnet, das Gluckern ihrer Schlucke und dann dieses wahrhaftige, fast schon laszive Stöhnen. Ich merke: Das ist es, was ich brauche. Genau jetzt, genau hier. Ich reiße die Tür des Kühlschranks auf, eine Dose Asahi an mich und stürme erst zur Kasse, dann nach draußen. Mit einer unbändigen Lust steige ich aus der klimatisierten Luft des Konbini in die schwüle Nacht Tyokos hinaus. Die Dose zischt nicht, als ich sie öffne. Enttäuscht trinke ich einen Schluck. Schmeckt genauso beschissen, wie ich es in Erinnerung habe.

Als ich am Morgen endlich in die Gasse vor meinem Hotel einkehre, geht die Sonne gerade auf. Zu dieser Uhrzeit, für ein paar Minuten zumindest, scheinen ihre Strahlen doch auf die Reklametafel zu fallen. Von einem Fenster reflektiert, das ewig gekippt ist. Frau und Bier sind fort, zusammen mit dem Rest des Plakats. Vielleicht hat es jemand abgezogen. Vielleicht hat es sich selbst abgelöst. Jetzt klafft nur noch ein rechteckiges Loch in der Fassade. Ich steige hinein und stelle fest, dass das Gebäude innen vollkommen hohl ist. Mit den Händen forme ich einen Trichter vor meinem Mund und rufe in die Leere hinein:

Ha!

Das Echo klingt, als lachte es mich aus.

 

Leo Lemke

 

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freiTEXT | Kristina Baumgarten

Die Beschaffenheit des Abschieds

Ziehen, nicht drücken. Steht an der schmutzigen Glastür des paprikaroten Apartmenthauses. So rauchig und staubig wie ihre Kehle, beinahe streckt sie gierig die Zunge aus, um den heißen Stein der Mauer anzulecken, etwas anderes zu schmecken als Trockenheit und Traurigkeit. Im letzten Moment besinnt sie sich und schließt Mund und Tür.

Das Gebäude gleicht denen rechts und links von ihm aufs Haar. Hoffentlich findet sie zurück. Was würde passieren, wenn sie es versehentlich passieren und ein anderes betreten würde? Ihre Gedanken verschmelzen in der schwülen Hitze miteinander. Kurz blitzt eine Antwort auf, dann drängt das eigene Wortspiel sich klebrig in den Vordergrund. Die Lösung zerfließt in winzige Partikel, die sich hinter ihrer Stirn in die Tiefen des Kopfes zurückziehen. Als sie den Gedanken loslässt, dehnen sich die Nerven in der Hitze, erscheint die Auflösung wie aus dem Nichts: Drücken, wenn sie von außen kommt, nicht ziehen.

Passt ihr Schlüssel nur in dieses eine Schloss? Sie nähert sich einem weiteren Haus, drückt die Glastür auf und betritt einen dunklen Gang, bleibt vor einer Tür stehen, von der die braune Farbe wie Schokolade von einem Croissant abblättert. Das scheint ein Spiegelbild ihres Apartments zu sein, die Häuser sind offenbar nicht nur außen gleich. Nervös schiebt sie den Schlüssel in das Schloss, er passt, die Tür protestiert zwar kurz mit einem hohen Quietschen in den Angeln, gibt aber nach und schwingt einladend auf.

Ungelüftete Luft vermischt sich mit Zwiebelduft. Ein Teil des Geruchs ist betörend, er erinnert sie an eine Zeit, als sie Essensgerüche noch wahrgenommen und mit Hungergefühlen reagiert hat. Vor einer Ewigkeit. Eine rundliche Frau mit beschlagenen Brillengläsern und pechschwarzem Haar steht am Herd und bereitet Tortilla de patatas zu, der pure, erdige Geschmack nach Kartoffeln und Eiern. Jede spanische Hausfrau hat ihr eigenes Rezept, die Zutaten sind übersichtlich. Faszinierend, wie oft sind Schlüssel und Schlösser kombinierbar, wie oft Kartoffeln und Eier? Der Dunst auf den Gläsern der Señora am Herd weicht langsam zurück wie der auf kalten Fensterscheiben, an die sie früher gehaucht haben, wieder und wieder. Erstaunt, nicht überrascht hebt die Spanierin den Kopf von ihrer Pfanne. Im Raum hält sich außerdem ein Papagei auf, so bunt wie die Bilder in ihrem Kopf, die doch schwarz-weiß sein müssten, sogar völlig schwarz. Er plustert sich vor der Besucherin auf wie auf dem Catwalk im Schauflug, die räudigen Stellen geschickt verborgen flattert er hektisch wie ein alternder Flamenco-Tänzer durch den Raum. Die Frau hebt beruhigend, fast schon anmutig ihren fleischigen, rosafarbenen Arm, ihre Schürze schlägt Falten, der Arm ebenfalls. Unentschlossen verharrt sie in der Bewegung, wie zum Gruß hält sie die altersfleckige Hand erhoben. Der Vogel lässt sich beleidigt auf der Stange seines Käfigs nieder, trotzig schweigend.

Auf dem grün-samtenen, verschlissenen Stoffbild einer traurigen Madonna tanzen gräuliche Stoffmäuse in einem Sonnenstrahl, der durch einen Riss in der Jalousie fällt. Geknicktes Metall schaukelt sacht im Luftzug, reflektiert helle Blitze, etwas unterhalb der Lücke. Sie treffen auf einige verblichene Bilder, das Meer als Motiv, natürlich.

Ihr Blick streift die Fotos, bleibt hängen an einem Segelboot. Mit so einem ist sie gestern auf das Meer hinausgefahren. Mit blassem Arm hat sie die Urne mit der Asche den Weiten des Ozeans übergeben. Dabei hat sie die hohe, vertraute Kinderstimme vernommen, die ein Jahr zuvor an derselben Stelle gefragt hatte: „Warum ist das Meer immer da, Mama?“

Die kleine Hand unerschütterlich vertrauensvoll in ihre große geschmiegt.

„Meinst du Ebbe und Flut? Das gibt es hier auch, aber das Meer atmet hier nicht so tief ein und aus, das macht nur etwa 10 cm Unterschied.“

„Warum ist das so?“

„Weil der Ozean viel größer ist als die Nord- oder die Ostsee.“

„Unendlich?“

Sie schwieg einen Moment, beide waren versunken in den Anblick der Wellen.

„Ich glaub schon“, flüsterte sie leise. „Es fließt. Ein ewiger Kreislauf.“

„Wenn ich zu Hause etwas in den Fluss werfe, kommt es dann hier an?“

„Ja, das tut es. Irgendwann. Und wenn du hier etwas hineinwirfst, dann kommt es irgendwann zu Hause an.“

Mit einem Ruck kehrt sie in die Gegenwart zurück. Die Augen der Spanierin betrachten sie, seltsam wissend, gütig und so weise, als hätten sie die ganze Welt gesehen. „Es ist Zeit, nach Hause zu gehen“, sie sagt es auf Spanisch. Sie versteht trotzdem. Wie die Hitze und das Wasser kommt die Trauer in Wellen. Die Fotos werden weiter verbleichen, wie die Frau selbst. Sie werden unsichtbar, aber das macht nichts, denn niemand schaut sie an, außer dem Papagei. Ein schwarz-weißes, verblasstes Leben altmodisch dokumentiert auf Papier. Was bleibt?

So weit ist sie in Gedanken, als sie erwacht. Erschrocken fährt sie auf, die kalten, klammen Laken schmiegen sich seltsam unwirklich an ihre Haut in dem heißen, engen Raum. In ihre Wange hat sich eine scharfe Kante vom Kissen eingefräst. Die Zeit bleibt nicht stehen, schon gar nicht wandert sie rückwärts. Ob diese Falte je wieder verschwindet? Sie seufzt und greift nach ihrer Tasche, irgendwann muss sie etwas essen, da kann sie genauso gut gleich ein paar Schritte gehen und sich ein Café suchen.

Der Portier lässt freundlich einen Schwall unverständlicher, langgezogener Silben mit der Geschwindigkeit eines Maschinengewehrs auf sie los, der sie, hilflos nickend und lächelnd, in Sekundenschnelle durchsiebt und dann hinter ihrer Stirn spurlos verpufft. Schmerzhaft begreift sie, dass er sie womöglich warnen wollte, als sie sich die Nase heftig an der schmutzigen Glastür stößt. Ziehen, nicht drücken. Steht dran. Der Concierge sieht sie bestürzt an, beinahe verlegen. Ihre Hand fährt automatisch in ihr Gesicht, aber da ist kein Blut, nur eine leichter Hubbel, den sie vorsichtig betastet. Sie nickt dem Portier höflich zu und zieht dieses Mal ordnungsgemäß am Griff der Glastür.

Aus der Kühle der Vorhalle tritt sie kampfbereit in die Glut des Nachmittags wie in eine Arena. Die Hitze sucht sich ihren Weg bis in ihr kaltes Herz. Sie blinzelt in den gleißend hellen Himmel und spürt den Schweiß unter der schweren Furche ihres Armes, er bildet ein Rinnsal und kitzelt sich bis zum Bund ihrer Hose, der es auffängt, bevor es verdunsten kann.

Müssen Türen nicht schon aus Brandschutzgründen nach außen aufgehen oder ist das in Spanien anders? Wer wird ihre Fotos betrachten, wenn sie stirbt? Es wird Zeit, herauszufinden, was bleibt. Zeit, nach Hause zu gehen.

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Kristina Baumgarten

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