Resteessen

Die letzten Tage im Jahr, vor allem die zwischen Weihnachten und Neujahr, fühlen sich immer ein wenig an wie Resteessen. Man weiß nicht so richtig, was man damit anfangen soll, also wirft man sie einfach alle in einen Topf und versucht, das Beste daraus zu machen. Und entweder wird es das beste Gericht, das man je gekocht hat, aber nie wieder genauso hinbekommen wird, oder die schlimmste willkürliche Lebensmittelakkumulation, die man einfach nur durchstehen muss. Die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig. Ich bin keine Mathematikerin, aber diese Rechnung müsste erfahrungsgemäß stimmen und ist somit empirisch belegt.

Ständig wird man dabei begleitet, beim Resteessen kochen und Restetage leben. Begleitet von der Nostalgie, über all das Schöne, was im vergangenen Jahr passiert ist und der Erinnerung an das, was vor Kurzem noch gewesen und leider schon vorbei ist. Begleitet von der Melancholie darüber, was man jetzt mit den Resten anstellen soll und dass es überhaupt nur noch Reste vom Jahr sind, die übrig geblieben sind. Begleitet von der Reflexion, zu welchem Mensch man geworden ist. Begleitet von dem Anspruch, wer oder was man in naher und ferner Zukunft zu sein hat.

In diesen Tagen, und eigentlich auch schon in der Vorweihnachtszeit, ist es morgens am winterlichsten, abends am süßesten und alles dazwischen ist irgendwie etwas staubig. Ungefähr so staubig, wie Kurkuma schmeckt. Der Sommer ist auch staubig, aber schön staubig, denn da glitzert der Staub in der Sonne und schwebt in der warmen Luft langsam vor dem offenen Zimmerfenster auf und ab, wie eine Qualle im Meer. Ich mag nicht einen einzigen Gedanken an den vergangenen Sommer in meinen Kopf lassen, denn dann schmerzt die Melancholie zu sehr. Der Winter glitzert auch, aber künstlich. Lametta, Weihnachtsdeko, die Lichterketten auf dem Weihnachtsmarkt und die Beleuchtung in den Fußgängerzonen. Schon lange habe ich keinen Schnee mehr glitzern sehen. Die Welt schrumpft, wenn es schneit. Das ist meine liebste Eigenschaft am Schnee. Alles wirkt auf einmal klein und weich und überschaubar. Er erinnert mich dann irgendwie an die Probleme anderer Menschen, denn die wirken von außen betrachtet auch immer kleiner, als sie für diese Menschen selbst eigentlich sind und sowieso wirken sie kleiner als die eigenen Probleme. Ich frage mich, wann das letzte weiße Weihnachten war, das ich miterlebt habe. Ich kann mich nicht daran erinnern. Ich frage mich, warum der Winter für mich jedes Jahr weniger weihnachtlich und immer mehr wie ein Resteessen wird.

Wie viele Tassen hattest du schon? – Drei, wieso? – Nur so. Bist du bei einer vierten dabei? – Ja, aber nur wenn ich deine Tasse bekomme. – Warum? – Die Farbe von deiner ist schöner. Und meine hat einen angeschlagenen Rand. Und ich habe dieses Jahr noch gar keine Weihnachtsmarkttasse mitgehen lassen. – Von mir aus.

Das künstliche Glitzern hängt in den Schaufenstern und klebt in den Schädeldecken der Menschen wie dieser Streuglitzer, den man früher auf die mit Klebstift überzogenen Kindergeburtstagseinladungen gestreut hat. Der Glitzer macht Weihnachtsvorfreude und wird in der Sekunde vom rauen, trockenen, kalten Nordwind aus den Köpfen der Menschen gepustet, in der der zweite Weihnachtsfeiertag vorbei ist. Ein kleiner Abschiedsgruß vom Weihnachtsmann. Der Nordwind macht ihre Gedanken genauso rau und trocken und pragmatisch, dass sie aus den Resten des Weihnachtsessens ein improvisiertes Abendessen machen wollen und den traurigen Nikolaus aus Schokolade im nächsten Frühjahr einschmelzen, um den Geburtstagskuchen mit Schokoglasur zu dekorieren. Und die einzelnen Glitzerflitter und Funkelkörnchen, die hartnäckig an der Schädeldecke hängen bleiben, machen sie beim reflektierten Aufräumen in ihrem Kopf nostalgisch.

Eigentlich ist das gar kein Klauen, man bezahlt ja Pfand für die Tassen. – Ich will aber, dass es sich ein bisschen so anfühlt.

Irgendwie hast du auch an Glanz verloren, übrigens. Irgendwie hat alles an Glanz verloren, mit der Zeit. Ich habe versucht, dich künstlich zum Glänzen zu bringen, aber das war mir dann doch zu kalt. Mit dir zusammensein fühlt sich an wie ein ewiger Herbst ohne Winter und eigentlich hört sich das gut an, denn das heißt, dass alles für immer bunt ist. Die Schneekönigin in Narnia hat mir als Kind Angst gemacht, denn solange sie regiert hat, gab es in Narnia einen ewigen, schneereichen Winter ohne Weihnachten. Ein jahrelanger Winter und kein einziges Weihnachten. Mit dir zusammensein fühlt sich an wie ein ewiger Herbst ohne Winter und eigentlich hört sich das vielversprechend an, denn das heißt, dass alles für immer bunt ist, aber es gibt eben auch kein Weihnachten. Es gibt keine Steigerung, kein Ziel und kein Ankommen und irgendwann ist auch der bunteste Herbst ausgebleicht und die leidenschaftlichste Aufbruchstimmung kapitulierend. Warum sind wir so schnell an den Punkt gekommen, an dem wir uns Geschichten doppelt erzählen? Als wären wir zwei zusammen schneller als unser eigenes Leben. Wir leben dem Geschichtenerzählen nicht schnell genug hinterher. Warum sind wir so schnell an den Punkt gekommen, an dem wir uns Geschichten doppelt erzählen? Ich glaube, ich habe gerade ein Fünkchen Glitzer gefunden, das noch im Innern meiner Schädeldecke klebt.

Warum gibt es eigentlich Weihnachtsmärkte, die über Weihnachten hinausgehen? – Kommerz! – Naja, wir unterstützen ihn ja auch, schließlich sind wir gerade hier. Fühlst du dich denn noch weihnachtlich? – Ich will gar nicht darüber nachdenken.

Früher habe ich deine Nachrichten ausgepackt wie ein Praline. Ich habe sie langsam und bewusst geöffnet, genüsslich gelesen und es so lange ausgereizt, mich an ihnen zu erfreuen, bis ich schließlich zurückgeschrieben habe und sie und meine Freude an ihnen aufgebraucht waren. Naja, so ganz stimmt das nicht, denn so viel Selbstbeherrschung hatte ich noch nie. Aber sie haben sich jedes Mal besonders angefühlt und sie gaben mir jedes Mal ein kleines Hoch. Ich habe Angst, dass ich meine Gefühle zu schnell durchgefühlt habe. Da liegt noch so viel Leben vor mir – habe ich schon alles verbraucht, die ganze Intensität und die ganze Palette, oder kommt da noch was?

Als ich heute durch die Fußgängerzone gelaufen bin, habe ich mit einem Kescher meine Gedanken zusammengefangen, sie mit der bloßen Hand aus dem Netz geholt, festgehalten und ausgiebig betrachtet, während sie in meiner Hand zappelten. Wirklich erwischt habe ich aber nur einen, die anderen sind mir zu schnell entkommen. Ich hielt ihn in der bloßen Hand, den kleinen Gedanken, und betrachtete ihn und erkannte ihn wieder, denn es war ein ganz besonderer Gedanke. Einer, den du mir gegeben hast und er heißt: Warum komme ich nie auf die Idee, dass andere Menschen auch unsicher sind?

In dem Moment, in dem ich ihn wiedererkannt habe, ist er mir entronnen. Dann habe ich den Kopf gehoben und meine eigene Reflexion im Schaufenster einer Boutique gesehen, die ausschließlich äußerst geschmackvolle skandinavische Mode und Accessoires verkaufte. Als ich meine Reflexion in diesem Fenster sah, kam ich mir vor, als würde ich niemals dazugehören. Ich, mit vor Kälte geröteter Nase, von der Luftfeuchtigkeit krausen Haaren und talgig glänzender Haut, könnte nie zu diesen ästhetischen Wesen, umgeben von ästhetischen Gegenständen gehören. Selbst die Luft, die sie atmeten, schien ästhetischer zu sein als die Luft, die ich atmete. Die Wesen erinnerten mich an das Mädchen, das ich früher in einem Skiurlaub kennengelernt hatte. Ich war etwa sieben Jahre alt, sie vielleicht neun oder zehn. Sie trug einen blütenweißen Schneeanzug mit goldenen Streifen, hatte farblich passende Skier und einen farblich passenden Helm und besaß ein eigenes Klapphandy in rosa. Ich trug den alten Anorak, den mein großer Bruder und nach ihm mein Cousin schon getragen hatten und farblich zusammengewürfelter konnte man sich eine Siebenjährige nicht vorstellen.

Jetzt sah ich das siebenjährige Mädchen in der Schaufensterreflexion, das jetzt groß war und dunkel gekleidet, und sie wünschte sich, dass der Gedanke zurückkommen würde. Ich konnte nicht glauben, dass diese Menschen, diese Fabelwesen in diesem goldenen Fenster, jemals auch nur eine Sekunde ihres Lebens unsicher sein könnten – oder umgekehrt: Ich konnte nicht glauben, dass ich jemals nachhaltig und langfristig selbstsicher sein könnte und ehrlich gesagt kann ich es noch immer nicht glauben. Am schönsten bin ich sowieso nur in zwei Situationen: Wenn ich mich betrachte, wie Gott mich geschaffen hat, nämlich mit minus dreikommafünf Dioptrien, wenn ich mich gar nicht mehr so genau erkennen kann, weil ich eine Sehschwäche habe, und im Winter, wenn es draußen nicht so grell ist und früh dämmrig wird. Schatten stehen mir wohl gut, vielleicht fühle ich mich ihnen deshalb so verbunden. Dieser Gedanke passt so gar nicht zu den ästhetischen Wesen in diesem magischen skandinavischen Schaufenster. Diese Wesen essen sicher niemals Resteessen, sondern immer nur frisch gekochte, inhaltlich abgestimmte, authentische Mahlzeiten oder das, was Fabelwesen eben essen. Ich frage mich, was Fabelwesen an den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr machen.

Hast du mir überhaupt zugehört? – So halb. – Du bist schon wieder am Grübeln, das merke ich dir doch an! Du hattest genug Glühwein für heute, glaube ich. – Ich glaube, ich habe eine Sinnkrise. – Die hast du jedes Jahr. Und noch mehr, wenn du Glühwein getrunken hast. – Weihnachten ist schon vorbei und es hat noch nicht einmal geschneit. Ich wünsche mir Schnee. Wenn Schnee liegt, dann schrumpft die Welt. – Was? – Wenn Schnee liegt, dann schrumpft die Welt, weil – Wir gehen jetzt nach Hause, du gehst schlafen und morgen ist vielleicht alles ein wenig einfacher. – Nein, ich glaube, dieses Mal habe ich wirklich eine Sinnkrise. – Hast du nicht. Keine Sorge, das ist nur die normale Winterdepression, die sich als Sinnkrise tarnt.

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Mona Gnan

.https://www.mosaikzeitschrift.at/tag/Sigune-Schnabel

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