Kotzende Pferde

127 zu 82. Kein Grund, sich Sorgen zu machen. Alles in Ordnung. Nicht perfekt, aber total im Rahmen. Wirklich. So, wie ein Lebensmittel ja auch nicht direkt mit Überschreiten des Mindesthaltbarkeitsdatums verdirbt, gilt das auch für den optimalen Blutdruck und ihn, Frederik Ganser, Eigentümer des aktuell 127-zu-82ers.

Ein guter Wert. Etwas hoch vielleicht, aber noch lang kein Grund, sich zu beunruhigen. Jedenfalls nicht vor der zweiten Messung – also in frühestens dreieinhalb Minuten. Einmal schafft er den Song inzwischen eigentlich immer. An guten Tagen auch öfter.

There’s a weight that’s pressing down / Late at night you can hear the sound 

Er würde erstmal so sitzenbleiben. Ganz ruhig, sich nicht bewegen und methodisch atmen, um den Wert nicht weiter in die Höhe zu treiben. Noch war ja alles im Rahmen. Bloß nicht reinsteigern. Einfach souverän atmen, den Song hören, erneut messen. Nochmal 127 zu 82 wäre okay. Nicht optimal, aber okay. Eventuell müsste er dann noch ein drittes Mal messen.

Keinesfalls okay wäre ein Ausreißer. Da bräuchte es dann keiner weiteren Messung. Da hieß es Schlüssel nehmen und los: Bördingstraße bis Mehlfelder, dann bis Kreuzung Jessener, scharf links auf die Eimsbühler, weiter bis Mullenberger, hoffen, dass die Schranke oben war, dann gleich in die Helmkötter, dort dritte links und die Auffahrt hoch bis zum Haupteingang.

Für Parkplatzsuche bliebe da keine Zeit. Nur Tasche vom Rücksitz schnappen und direkt durch zur Notaufnahme. Auf jede Minute käme es dann an.

Sollten sie ihn dieses Mal dabehalten, würde er sich noch Sachen bringen lassen. Eventuell von Hannah. Obwohl, lieber nicht. Andererseits … Nichts, worüber er sich jetzt schon den Kopf zerbrechen sollte. Noch war ja alles offen. Wirklich. Jetzt bloß nicht ins Denken kommen. Methodisch atmen war gesagt. Und langsam eiiin (haltenhaltenhalten)… uuund wieder aus (21,22,23) …

There’s a fear I keep so deep / Knew its name since before I could speak

Frederik Ganser ist schon viel besser geworden im Atmen. Nicht mehr dieses stümperhafte Rumgeatme. Viel kontrollierter, viel eleganter, manchmal fast schon beiläufig: Gerade so, als sei es normal.

… und wieder eiiin (haltenhaltenhalten) uuund auuus. Sehr gut geatmet. Genau wie im Tutorial. Immer auf den Rhythmus achten. Nur ein unkonzentrierter Moment und schon würde ihn das Denken packen. Und mit dem Denken die Gewissheit, dass es dieses Mal soweit wäre. Dieses Mal wirklich.

Schon seine Geburt stand unter keinem guten Stern: Nicht mal ein Jahr nach Tschernobyl und nicht mal 1.700 Kilometer davon entfernt, erblickte Frederik Ganser mit ein paar Gramm zu wenig, möhrchenbreifarbener Haut, leicht gelben Augen und einem Nachnamen, nach dem ein ebenso seltenes wie schwieriges Syndrom benannt ist, etwas zu früh das Licht des Kreißsaals im Sophien-Klinikum.

Nach ein paar Tagen auf Station konnten seine Eltern ihn mit ein paar Gramm mehr und einer Gelbsucht weniger endlich nach Hause holen. Aufnahmen aus jener Zeit zeigen, dass sie sich vorstellen konnten, dass Frederik gut in einem Stubenwagen neben ihrem Bett würde schlafen können. Wie sich jedoch herausstellte, schlief Frederik die ersten Monate so gut wie gar nicht und später so gar nicht gut. Was weder am Stubenwagen noch am Standort lag, wie die Gansers nach unzähligen Versuchsanordnungen erkennen mussten. Die dringend benötigte Unterstützung kam überraschend: und zwar von The Alan Parsons Project mit „Don’t answer me“. Meist schlief Frederik schon während der zweiten Strophe ein.

Aaaaah Aaaaah Aaaaah Aaaaah

Eines dieser unbeschwerten Kinder, so ein Kind war Frederik nicht. Frederik war immer schon vorsichtiger, angestrengter irgendwie. Und auch blasser als, keinesfalls so rosig wie andere. Oder so sorglos. Nie wäre er auf die Idee gekommen, die Nachbarskatze zu streicheln oder Tante Lissys Dackelwelpen. Wer weiß, woran die überall geleckt hatten oder mit ihrem Fell entlanggestreift waren. Frederik befürchtete Schlimmstes. Auch wenn er damals nicht wusste, was genau das sein könnte. Ständig begleiteten ihn Ängste, ihm könnte Furchtbares widerfahren. Ihm oder seinen Eltern. Was wäre, wenn sie sich mit irgendwas ansteckten und plötzlich nicht mehr wären? Was dann? Wie sollte das denn gehen? Das ging doch gar nicht!

Wieder und wieder mussten die Gansers ihrem verängstigten Sohn versichern, so richtig mit großem Ehrenwortschwur, dass das nicht passieren würde. Dass sie aufpassten und dass Tiere, selbst Tauben, mit ausreichend Abstand oder einem geschlossenen Fenster dazwischen, wirklich keine Keime übertragen können. Und ja – die andere Straßenseite oder das Dach des Nachbarhauses sind ausreichend Abstand. Und nein – da musste man nicht die Luft anhalten oder vorbeirennen oder sich extra lang die Hände schrubben, wenn man eine gesehen hatte. Nicht mal, wenn sie tot war. Solang man sie nicht angefasst hat. Und nein, richtig großer Ehrenwortschwur mit Schleife und Knoten, das hatte er nicht. Würde er nie tun. Und dann küsste Frederiks Mutter zum Beweis, wie sicher sie war, seine Handflächen.

They know my name cause I told it to them

Neben Katzen, Dackeln und Tauben bereiteten Frederik damals vor allem Spatzen Sorgen. Genauer: die Spatzengruppe. Insbesondere deren Anführer, Gregor Barthels. Sobald er mitbekommen hatte, wie sehr Frederik sich vor Angespeicheltem und Sandverschmutztem, vor Dreckverklebtem, vor Pfützen, Matsch, Spinnen, Regenwürmern, Insekten, vor ungewaschenen Händen und nahezu allem anderen ekelte, suchte Gregor ständig seine Nähe.

Und immer hatte er etwas Ekeliges dabei, das er ihm vorhielt oder entgegenwarf.

Was im Kindergarten begann, setzte sich in der Schule fort. Manchmal wäre es Frederik lieber gewesen, wäre er einfach gar nicht beachtet worden. Aber irgendein Gregor Barthels fand sich immer, der bestimmte, dass Frederik mitspielte: und dann am liebsten bei Spielen wie Pest & Cholera. Während die anderen lediglich wegliefen, um nicht abgeschlagen zu werden, rannte Frederik Ganser in den Pausen buchstäblich um sein Leben.

But they don’t know where and they don’t know when / It’s coming

Irgendwann passierte das, wovon seine Eltern überzeugt waren, dass genau das irgendwann passieren würde: Es verwuchs sich. Plötzlich hörten Frederiks Ängste auf. Keine Sorgen mehr, unbewusst tierkeimbehaftete Reifen parkender Autos zu streifen. Kein Grübeln mehr darüber, versehentlich ein totes Tier angefasst oder irgendwie, durch die Kanalisation vielleicht, schädliche Dämpfe oder anderes Giftiges, vermutlich Taubiges, eingeatmet zu haben oder unbemerkt von einem todbringenden Insekt gestochen worden zu sein. Von einem Tag auf den anderen keine Fragen mehr nach Krankheitserregern, Infektionswegen und Übertragungswahrscheinlichkeiten. Kein permanentes Rückversichern, kein manisches Kontrollieren, kein übertriebenes Händewaschen und auch kein ständiges Luftanhalten mehr.

Als hätte es das alles nie gegeben.

Frederik Gansers Jugend roch nicht mehr nach Reinigungstüchern, Handdesinfektion und Übervorsicht, sondern nach Sportsocken, Fastfood, Nikotin, Pfeffi und Möglichkeiten. Und später, so ab dem dritten Semester, nach Zuckerwatte und Keksteig: Hannahs Duft.

Hätte er ihn sich tätowieren lassen können, er hätte es sofort gemacht. Am liebsten direkt nach dieser Abrissparty, auf der sie sich kennenlernten. Als es eigentlich um „nur noch austrinken und eine rauchen noch und dann aber wirklich los“ ging, stand Hannah vor ihm. Drückte ihm ein neues Bier in die Hand, stieß mit ihm an und meinte, sie hätte eine Wette verloren.

Worum es bei der Wette ging, verriet sie Frederik nicht. Weder an dem Abend noch später irgendwann. Ihm war das egal. Er war froh, dass er Teil des Einsatzes war und vor allem darüber, dass sie verloren hatte.

Oh, when, but it’s coming

Warum dann alles wieder so kam, wie es kam, konnte er sich selbst nicht erklären. Weit über 200 verschiedene Kopfschmerzarten unterscheidet die Internationale Kopfschmerzgesellschaft. WEIT ÜBER 200! Das kann man nachlesen! Ebenso, dass über 90 Prozent aller Erkrankungen primäre Kopfschmerzen sind, meistens Spannungskopfschmerzen oder Migräne. ÜBER 90 PROZENT! Und alles, das zu wenig an Schlaf und Bewegung, das zu viel an Prüfungsstress und Kaffee, wirklich alles sprach dafür, dass es auch bei ihm genau das war: Spannungskopfschmerz. Und trotzdem: Ein Befund musste her. Ein Bild. Irgendwas Offizielles, das Frederik seiner schlimmsten Befürchtung entgegenlehnen konnte. Am besten sofort.

Hannah hatte ihn zum Klinikum gefahren. Ihn beruhigt. Und recht gehabt. Dasselbe, als der Kopfschmerz weg war, dafür das Kribbeln da und sie ihn auf sein Drängen hin zur Neurologie fuhr. Ein andermal dann in die Gastroenterologie: Obwohl er eigentlich gar keine Magenschmerzen mehr hatte, aber trotzdem auf Nummer sicher gehen wollte. Trotzdem auf Nummer sicher gehen wollte er auch beim Augenarzt. Und beim Dermatologen. Und in der HNO-Klinik. Ebenso, als es er einen Termin in der Pneumologie vereinbarte und kurz darauf in der nächsten, weil gravierende Symptomlosigkeit ihn doch stark am unauffälligen Befund zweifeln ließ.

Je öfter Hannah ihn begleitete, je öfter sie ihn beruhigte, je öfter die Befunde seine schlimmsten Befürchtungen entkräfteten und ihre Vermutung bestärkten, desto unverstandener fühlte Frederik sich. Vom Termin in der Kardiologie, den er sich aufgrund zwar einmaliger, aber umso eindeutigerer Abweichung hatte geben lassen, hatte er Hannah erst gar nicht erzählt. Mitbekommen hatte sie trotzdem, dass, so sagte sie es, doch wieder irgendwas sei. Ob er glaubte, sie bekäme nicht mit, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Dass er genau das ja auch befürchte und das deswegen jetzt endlich auch mal kardiologisch eingeordnet haben wollte, hatte er geantwortet. Und falls das nichts brachte, dann eben nochmal neurologisch, pulmologisch, angiologisch und was diagnostisch eben noch alles notwendig oder möglich sei. Dass er schon wüsste, was sie sagen wollte. Trotzdem. Er wollte das jetzt endlich abgeklärt wissen. Und zwar ernsthaft.

If some night I don’t come home / Please don’t think I’ve left you alone

So sehr Frederik sich vornahm, sich abzulenken, so wenig gelang es ihm. Die Bibliothek, Spaziergänge, Wald, Park: zu ruhig. Die Mensa, Partys, Kino, WG-Abende: zu unruhig. Sport: zu riskant. Prüfungen: zu egal. Hannah: zu unsensibel. Nur wenn er im Behandlungszimmer saß und hörte, dass es „keinerlei Auffälligkeiten oder Grund zur Besorgnis“ gäbe, löste sich Frederiks Anspannung kurzzeitig.

Dass sie so nicht weitermachen könne und auch nicht mehr wolle, hatte Hannah gesagt. Dass sie es nicht ertrage: Seine Versessenheit, seinen abwesenden Blick, sein Desinteresse an allem und allen, sie eingeschlossen, all das ertrage sie einfach nicht mehr.

Hannah war es, die ihm die Therapie nahelegte. Frederik war es, der sie nach zwei Terminen abbrach, nachdem ihm dieser Dr. med. ein paar Tabletten mitgegeben hatte, die Frederik erstmal bis zur nächsten Sitzung nehmen sollte. Verpackung oder Beipackzettel gab es nicht. „Und zwar ganz bewusst nicht“, wie dieser Dr. med. betonte. Als ob Frederik nicht in der Lage wäre, anhand der Informationen auf dem Blister im Handumdrehen herauszufinden, dass das Medikament bei bekannter Überempfindlichkeit gegen den Wirkstoff nicht angewendet werden durfte. Und bitte wie hätte dieser Dr. med. eine solche Überempfindlichkeit ausschließen können? Nicht mal Frederik selbst konnte das! Statt ihm zu helfen, gab ihm dieser Facharzt, das muss man sich mal vorstellen, ein FACH-ARZT (!), also irgendetwas, das er noch rumliegen hatte. Wahrscheinlich sogar abgelaufen. Etwas, das bei 1 bis 10 von 1000 Behandelten einen Krampfanfall verursachen kann. Etwas, dessen mögliche Nebenwirkungen wie Fieber, Desorientiertheit sowie steife, zuckende Muskeln sich vereinzelt bis zum Blutdruckabfall steigern und sogar zu lebensbedrohlicher Verkrampfung der Atemmuskulatur, sprich, zum Tod, führen können! Na danke auch!

Dafür, dass Frederik nicht mehr hingegangen war, hatte Hannah sogar Verständnis. Kein Verständnis hatte sie allerdings dafür, dass er nicht irgendwo anders hinging. Wo er sich doch sonst auch immer eine Zweit-, oftmals sogar eine Drittmeinung einholte.

The same place animals go when they die

Getrennt hat sich letztendlich Frederik. Dass er sich wünschte, so unbeschwert und naiv zu sein wie sie, hatte er gesagt. Dass er ihr Therapiegerede einfach nicht mehr ertrage. Dass er gar nicht wüsste, was die bringen sollte – er litte ja nicht an Gesprächsbedarf. Und seit wann sie eigentlich einen Abschluss in Psychologie habe? Was er jedenfalls nicht habe, nicht mehr, sei die Kraft, ihr, damit sie endlich aufhörte, zu nerven, vorzugaukeln, dass alles in Ordnung sei und er gesund. War er nun mal nicht.

Dabei macht er alles nur Machbare: richtet sein Ernährungs- und Schlafverhalten nach Gesundheits-Apps aus und seine Tage nach Stressvermeidung. Nimmt alle nur erdenklichen Untersuchungen wahr, häufig sogar als Selbstzahler. Versuchte es mit Yoga. Atmet, wann immer und so gut es ging nach Techniken, die er bei Onlinekursen kennengelernt hatte. Kontrolliert seine Vitalwerte so oft wie nötig und so selten wie möglich: alles mit Qualitätsgeräten vom Testsieger. Studiert regelmäßig die Warnhinweise und Rückrufaktionen auf der Website des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, um schnellstmöglich handeln zu können. Was hieß: Schlüssel nehmen und los. Achtet auf seine Körpersymptome und noch stärker auf seine Intuition. Statistik hin oder her. Ohnehin ein Begriff, den er neben „Übervorsicht“, „Wahrscheinlichkeit gegen Null“ und „Restrisiko“ nicht mehr hören kann. Frederik merkt doch, wenn etwas nicht stimmt. Er denkt sich das doch nicht aus.

Oh, when is it coming? / Keep the car running

Frederik kann es schlagen hören … hämmern … rasen. Okay. 7 mal 14 minus Klammer auf 56 plus 19 Klammer zu. Puuuuh. Mathe. Punkt vor Strich. Minus vor Plus. Erst die Klammer, dann die Säure, sonst geschieht das Ungeheure. Verdammt, wie war das denn nochmal?!

Das bringt doch nichts! Wer auch immer dazu geraten hatte, sich in Momenten wie diesen mit Rechenaufgaben abzulenken, hatte ganz sicher nie Momente wie diesen erlebt. Wie alt sind nochmal die letzten Bilder? MRT? CT? EKG? Blutbild? Drei Monate? Vier? Noch älter?

Stimmt schon, dass alle Aufnahmen und Werte zum Zeitpunkt der Untersuchung unauffällig waren und noch im Normalwertbereich. „Zum Zeitpunkt der Untersuchung“! „Noch“!  Und jetzt komm ihm nochmal wer mit Mathe oder ruhig bleiben! Genug jetzt. Da stimmt etwas nicht. Und zwar ganz gewaltig nicht. Frederik Ganser kennt seinen Körper. Er merkt doch, wenn da was nicht in Ordnung ist. Von einem 127-zu-82er lässt er sich nicht täuschen.

Stichwort: Atypisch. Stichwort: Restrisiko. Stichwort: unklare Genese. Stichwort: vor Apotheken kotzende Pferde. Stichwort: Warum kommen Sie erst jetzt damit?

Nein! Wozu noch das Songende abwarten und Zeit mit der zweiten Messung verschwenden. Jetzt hieß es, Schlüssel nehmen und los: Bördingstraße bis Mehlfelder, dann bis Kreuzung Jessener, scharf links auf die Eimsbühler, weiter bis Mullenberger, hoffen, dass die Schranke oben war, dann gleich auf die Helmkötter, dort dritte links und die Auffahrt hoch bis zum Haupteingang. Auf jede Minute kommt es jetzt an.

.

Anne Büttner

.https://www.mosaikzeitschrift.at/tag/Sigune-Schnabel

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at