1 | Avy Gdańsk

Wortgewand

Alle Wangen sind mit Aufregung bemalt. Ich stecke im Atemgefieder der Menschen fest, es ist zu warm, ich kann mich nicht bewegen. Der Bus ist ein Schiff, die Straße schwappt darunter hinweg. Wir schwanken, der Seegang wirft uns alle aus der Bahn. Quer durch die Sitzreihen segeln Gespräche, eine Gruppe verstreut auf getrennten Plätzen. Zersprengt in Einzelheiten. Ich weiche den zungrigen Mündern aus, ihrem groben Gelärm auf dem Gang, schlage den Kragen ums Kinn. Unsere Köpfe und Schultern im Spiegel, wir sind ein Renoir auf den Scheiben. Die anderen Busse kurze Raupen mit stämmigen Fühlern, die Straßenbahn eine singende Nacktschnecke. Immer wieder fahren sie an uns vorbei und wir passieren lichtgefüllte Fenster, Lebensraum. Das Murmeln der Menschen ein Bienenstock. Mein schwerer Kopf versinkt im Summen wie in einer Kissenhülle. So sprechen die Dämmermenschen: vorbei an den Herzkapillaren. Eine nadellose Sprache, untauglich zum Blutgewinn. Ich wetze meine Worte, will zur feinsten Ader.

Immer weiter geht die Fahrt, immer mehr Ummantelte stürzen heraus, nur ein Falter steigt zu. Unter den wartenden Laternen schwebt eine milde Abendkälte, bei jedem Öffnen der Türen huscht davon etwas herein, ein kühlender Streif über Augen und Wangen, ein Spätherbstschweif. Er fächelt mir Erinnerung um die Nasenflügel, bald ist es Zeit, Endhaltestelle. Ich stehe allein im Bus, Stiefel fest auf dem Boden, die Teerwellen reitend. Wir gleiten durch die Kurven, im Bauch der Schlange bin ich ein schlingernder Schatten in lichttriefenden Innereien, ein Dunkelförmiges unter zuckendem Glas.

Mit Wucht spuckt sie mich aus, ein Ruck brusteinwärts, mein Fuß setzt sich auf unbekanntes Land. In meinen Schritten weiß ich zu gebieten, laufe mal wie Herrin, mal wie Herrscher, die Straßen voll von nichts als meinem Trittlaut. Frei ist nur, wer kein Wohin erfragt.

Das Blattgold der Alleen schimmert auf der Straße, ich schleiche nun, werde zu Lautlosem, bin ein Wanderer zwischen den Fenstern, der sich in der Nacht versteckt, sich anpasst an die Vorwelt – die Gegend vor verschlossener Tür. Auch ein anderer streift durch die Vorwelt, ein Jäger, der Fallen aufgespannt hat in den Lücken zwischen den Mülltonnen, unter den Außentreppenstufen, in den Gittermustern der Gartentore: Netze aus Schwärze, in denen sich jeden Abend ein paar Blicke verfangen, ein paar Unglückliche in den Abgrund fallen mögen. Füllen sich die Netze mit dem Sehnen der Menschen, nährt er sich davon, liefert er das Eingesammelte irgendwo ab? Oder breitet sich die Schwärze in ihnen aus, füllt sie an wie melancholische Plätzchenformen? Was auch immer sein Zeil ist, nie mangelt es ihm an Beute, denn die Augen treibt es nach draußen. Keiner kann es lassen, den Blick auf Wanderschaft zu schicken, weit fort aus dem Gefängnis des Schädels. Die Sehnsucht hört nie auf, immer suchen die Menschen die Welt mit den Augen, und was sie sehen, gibt ihnen Bedeutung, zeigt eine Lesart der Welt. Wie außen, so innen. Aber wenn alles nur ein Spiegel ist – ich passiere eine Tür mit einem Schild in Fraktur, „Familie ist die Heimat des Herzens“ – dann Gnade den Dämmermenschen. Jemand, der sich so an vermeintlich bedeutungsschwere Worte klammert, weil er selbst der Tiefe entbehrt, dem ist auch das Meer nur ein blauer Streifen, ein Urlaubsmotiv, und selbst das muss er nachbearbeiten, damit es den Anschein von etwas erweckt – etwas, das ihm fehlt, das er sucht und das er niemals finden wird.

„Ja, ein unerträglicher Gedanke – die armen Menschen.“

Ich fahre herum und neben mir steht der Jäger, deutet auf das deprimierende Schild, entfaltet ein weiteres Netz. Das spannt er zwischen den Grashalmen des Vorgartens, ein verschachteltes, viellagiges Leporello, das unbemerkt den Garten ziert, der ausartend mit Schildern dekoriert ist.

„Menschen, die Sprüche wie Schutzschilde aufstellen, empfinden einen großen, wenngleich dumpfen Seinsmangel.“

Er pocht gegen ein Blechschild mit der Aufschrift „Mein Haus, meine Regeln“.

„Jeder klammert sich an Worten fest, an irgendwelchen Zitaten, die einen an etwas erinnern sollen oder in etwas bestätigen. Sinnstiftung eben.“

Wieder holt er ein Netz aus der Tasche und beginnt es zu ziehen und zu formen, dehnt das unendliche Nichts.

„Aber wer die Worte noch nie verstanden hat, für den bleiben sie tot, und das ist wirklich allein. Siehst du?“

Erneut zeigt er auf ein Schild neben einem Vogelhäuschen, unter dessen Vordach er sein Netz anbringt. Geknicktes Origami, vernetzte Vorwelt. Seine geschickten Finger spannen das Netz von dort unter dem Schild weiter, zwischen dem bedruckten Holz und dem Baumstamm dahinter, schnippen prüfend mit dem Mittelfinger dagegen, es federt sacht. Das Holz des Schilds ist noch nass von vergangenem Regen, unter der industriell aufgedruckten Schnörkelschrift „A house is made of walls & beams - A home is made of love & dreams“ klaffen die Risse immer weiter auseinander.

„So viel Fremdsprachen, besonders bei Leuten, die keine beherrschen“, sagt er, in seinen Taschen nach neuen Netzen wühlend. „Weiter weg kann man von der Welt nicht sein. Wer nicht mal die Worte richtig kennt, die sie beschreiben – selbst, wenn es nur Plattitüden sind – an dem treiben die Füllhörner vorbei, ohne ihren Reichtum auszuschütten.“

Mit niedergeschlagenen Lidern fingert er ein weiteres Netz aus der Tasche, macht sich unter einem letzten Schild zu schaffen, hier ist die Leere richtig angebracht. Schlicht „Happiness“ auf einer spiegelglatten Oberfläche.

„Ein Wunsch, eine Bitte, eine Beschwörungsformel? Glauben die Leute, wenn sie sich so ein Wort in den Vorgarten stellen, werden sie glücklich? Und was für eine Art Glück soll das sein?“ Er beäugt das Schild neugierig, bringt seine formbare Falltür an. „Wer zaubern mag, muss Opfer bringen. Wer die Welt aufschließen will, muss die Wünschelrute ins eigene Herz stechen.“

Wir treten zurück, bestaunen das Werk von der Straße aus. Ich staune, der Jäger begutachtet vielmehr. Die taschenbesetzten Lagen seiner Überhänge flattern, als der Nachtwindhund vorbei prescht. Er wirft uns aus dem Gleichgewicht, so wenig Halt ist in den blättrigen Schlaufen der Herbstluft – beide landen wir auf den Hosenböden. Mantel und Überwürfe breiten sich um uns aus, wir überdisteln das Grau des Asphalts.

Durch meine fransigen Knie hindurch setzt sich gleichmütig der Bürgersteig fort, zwischen den Gittern des Gullis verschwinden weitere Netze in der Tiefe. Das ganze Gebiet ein fallengespicktes Revier, zappendustere Lauerbeutel überall. Meine Finger spitzen sich ihnen zu, wollen in den Strudel tauchen, nach dem Nichts greifen. Ich drücke sie gegen den rauen Boden und frage den Jäger, wie viele der Schildbürger ihm ins Netz gehen.

„Nicht viele“, meint er mit halbgesenkten Lidern, unter denen die Pupillen klaffen wie zwei Schlüssellöcher. „Sie sehen nichts. Wer Hände hat, der koste, wer Lippen hat, der taste, habe ich jedes Mal in den Abend geflüstert. Man kann das auf viele Weisen verstehen, und jede davon ist nützlich. Aber sie verstehen gar nichts.“

Mit scheuchenden Bewegungen streift er sich den Staub von den Beinkleidern, macht aber keine Anstalten aufzustehen. Ob es ihm gefällt, am Boden zu sein? Auch ich bleibe sitzen. Welche Leute ihm denn dann in die Blickfalle tappen, will ich wissen. Er erwidert: „Was denkst du?“

Weil ich nicht weiß, wohin die Fallen führen, was dort gefangen und eingesammelt wird, kann ich keine Antwort sagen.

„Übergehende Augen aller Art“, beginnt der Jäger, „fallen dort hinein. In meinem Netz entspinnt sich die Welt, die diesseits davon nicht möglich ist, aber mit allen Fäden fest an der hiesigen hängt. Ein Quallenstoff, ein Schwebeteil mit hundert lockenden, hundert begierigen Armen.“

Seine Beschreibung gibt mir Rätsel auf, und er fragt mich verstohlen: „Willst du einen Blick hineinwerfen?“

Ich biete ihm an, ihn stattdessen beim Wort zu nehmen, beim zottigen Wortpelz, sein flackerndes Fell zu halten und ihm nachzusteigen in den goldenen Mund der Morgenstunde, hinter die Mauer aus sonnigen Zähnen.

Doch er verneint – noch brauche er mich hier – und hängt mir den Mond an, eine fliegende Fußfessel, damit mein Schritt schleppend wird und er mich langsam leuchtend erblickt, sobald ich näherkomme. Ich aber, Gestirnshäftling, entsinne mich meiner Zungenspitze und steche eine Silbenader an. Die Blätter steigen vom Boden wie Nebel, heben sich hundertfach empor, ein fuchsschnäuziger Schwarm nach Norden. Die Luft eine bauchige Laubstaude, Dächer stoßen sich an der Errötung. Wie singende Schnabelschuhe tragen mich die Blätter, von meinen Lippen tropft das Zauberwort. Horchte jemand hin, so könnte er es hören.

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Avy Gdańsk

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freiTEXT | Senka

Die klirrenden Münzen eines monísto

Sandyr wühlt in Kumkas Deutsche Mark Sammlung und grinst. Ja, das ist genau das, was sie gesucht hat.

Brauchst du sie wirklich nicht mehr?

Kumka zuckt mit den Schultern. Er hat die Münzen aufgelesen, als er klein war, weil er kein Taschengeld bekommen hat, aber eigenes Geld für Gummischlümpfe im Lotto-Laden haben wollte.

Sandyr will die Münzen noch bearbeiten, die Gesichter der Frauen aus ihrem Stammbaum draufkleben und sie in ein monisto flechten. Das wird sie dann anai-anae nennen, als ein Stück für ihre Ausstellung. Da wird es noch geflochtene Panneaus geben, wird ganz hübsch sein. Sie stapelt die Münzen nach Größe. Anai-anae bedeute die Mütter der Mütter, hat sie vor Kurzem gelernt, das sei nämlich ihre Sprache, das Udmurtische, nur ihre Familie hätte das nicht sprechen dürfen. Aber wem erzähle sie das, der Kumka, der kenne das doch sicherlich auch! Sie lacht und wirft das rot gefärbte Haar über die Schulter. Kumka macht: Hm-m. Aber eigentlich kennt er das nicht. Seine Eltern sprechen Russisch, sein Opa auch, er wüsste nicht, ob sie jemals eine andere Sprache hätten sprechen wollen.

Kumkas Mama freut sich besonders, wenn Sandyr zu Besuch kommt. Sie zwinkert ihnen zu, sie sorgt dafür, dass Kumkas Eltern während Sandyrs Besuch nicht in der Wohnung sind. Sandyr hat eine Lebensgefährtin, aber das wissen weder ihre, noch Kumkas Eltern. Kumka weiß das, weil er ihr auf Instagram folgt.

Vor Kurzem hat sie dort ihren Namen von der russifizierten Fassung Aleksandra zu Sandyr geändert, außerdem in der Beschreibung alles gelöscht und „udmurtisch-feministische Liturgie im deutschen Exil“ hingeschrieben.

Kumka fragt, ob sich dadurch was verändert habe. Sandyr rümpft die Nase. Es gab danach einen Shitstorm in so einer Bubble von Leuten, von so scheiß Physiognomikern, die meinen, man müsse am Aussehen einer Person die Herkunft ablesen können, sonst sei diese nicht valide, aber mit solchen Idiotinnen will sie auch nichts zu tun haben. Und sie bekommt mehr Follower-Anfragen von russischsprachigen feministischen Profilen und russisch-orthodoxen Gemeinden in Deutschland, aber sie sei sich da nicht sicher und nimmt nur die Anfrage von Leuten an, die Kunst machen. Hat Kumka gewusst, dass so viele russisch-orthodoxe Kirchen in Deutschland Instagram haben?

***

Sanja hänge andauernd am Handy, ein Wunder, dass sie überhaupt ihre Klausuren bestehe.

Die Mutter skypt mit ihren Freundinnen und sie eröffnen die Runde rituell mit Geschichten von ihren Kindern. Wer zum wie vielten Mal gebärt, wer sich geschieden, wer sich eine Anstellung bei der Gazprom geschnappt hat.

Sandyr macht sich nicht die Mühe, ihrer Mutter zu erklären, dass auf diesem Handy auch die Lektüretexte abgespeichert sind. Sie überfliegt Butler, Kristeva und Žižek, macht sich nebenher Notizen, wie sie alle später im Seminar verreißen wird, und behält die Benachrichtigungen im Auge, ob bei Kommentarverläufen der Eventposts von out-ural Trolle auftauchen, wen sie blockieren, wen sie mit einem präzise gewählten Mat zurechtweisen, wen sie konvertieren könnte.

Konvertieren, Lajma seufzt, Sandyr soll es endlich mal lassen, das so zu bezeichnen. Außerdem spiele sie doch damit voll in dieses Narrativ rein, auf das sich das Propaganda-Gesetz stützt, mit der sozialen Übertragbarkeit… Und sie seien doch keine Sekte.

Manchmal spricht Lajma so, als sei sie Teil von Sandyrs Aktionsgruppen. Manchmal tut sie auf gebürtige Deutsche und will Sachen erzählt bekommen, wie es da so ist, woran sich Sandyr erinnere. Und Sandyr erinnert sich nur an die Sprache, die sie erst nach dem Umzug nach Deutschland gelernt hatte. Alle Erinnerungen, die sie hat, sind Erinnerungen an Urlaube in Russland, im Sommer, wenn die Stadt leer ist, weil alle sich vor dem Stadtsmog in ihre Datschas zurückgezogen haben. Um im Winter hinzufahren, dafür hatten sie keine passende Kleidung.

Ja-ja, winkt Sandyr ab. Gegen den Mat hätte Lajma aber nichts einzuwenden, oder wie?

Gegen den Mat hat Lajma auch was, aber Sandyr verwendet ihn mit Fingerspitzengefühl, da vertraut ihr Lajma schon. Sandyr weiß, dass das keine Worte sind, die man schreit oder inflationär verwendet. Eine knappe präzise Setzung bewirkt mehr. Wie bemitleidenswert verhält es sich im Gegenzug bei den Deutschen oder auch bei den Engländern – wo sie zwanzig Mal „Fuck!“ brüllen müssen, braucht Sandyr nur einen einzigen besonnen ausgesprochenen Begriff und damit ist alles gesagt. Lajma beschreibt Sandyrs Art oft als besonnen. Das lässt Sandyr manchmal daran zweifeln, ob Lajma wirklich hört, was aus Sandyrs Mund kommt.

Du musst halt echt allen in diesem Land andauernd beweisen, dass du kein Kamel bist! schreit Sandyrs Mutter ins Laptop-Mikrophon, damit es bis Russland hörbar ist.

Lajma prustet los. Sie bekommt durch die Kopfhörer nur Fetzen mit, die sie allesamt sehr amüsieren, sie zieht sich den Stöpsel aus einem Ohr: Was soll das denn bedeuten?

Das mit dem Kamel? - Ja.

Kennst du das nicht? Sagt man halt so. - Wo sagt man das?

Na, bei uns. - In Russland? Oder in eurer Familie? Oder auf Udmurtisch?

Sandyr zuckt die Schultern, das weiß sie nicht, aber man sagt es halt so.

Seitdem sagt Lajma, wenn es Sandyr von innen schüttelt und sie niemanden um sich haben will und alle hasst: Du bist kein Kamel. Und Sandyr stimmt zu: Ich bin kein Kamel.

Wenn die russischsprachigen Bekannten in der Uni ihr inadäquates Verhalten vorwerfen, weil sie den Dozenten darauf hingewiesen hat, dass Belarus und Russland zwei unterschiedliche Länder sind, und sein Nachfragen nach ihrer persönlichen Meinung zu Lukaschenko nichts in einem Literaturseminar verloren hätte, sie außerdem nicht qualifiziert sei, irgendwelche Auskunft zu Belarus zu geben, weil sie keinerlei Berührungspunkte mit dem Land hätte. Ich bin kein Kamel.

Wenn ihre Mutter ihr sagt, sie solle die eigenen Nerven schonen und ein gesundes Maß an Ignoranz an den Tag legen und die Nachrichten Propaganda sein lassen.

Today’s affirmation: Ich bin kein Kamel.

***

Wenn Sandyr den Ellbogen versehentlich auf den Tellerrand abstellt, noch während sie merkt, dass es das spitze Gewusel von Perlen an ihrer Haut ist und nicht das glatte Tischholz, und den Ellbogen schnell hochreißt, klappt der Teller bereits um und die Glasperlen platzen unsichtbar über die Küchenfliesen, in die Schatten, die die Tischlampe nicht ausleuchtet. Sie lauscht, ob der Lärm ihre Mutter aufgeweckt hat, aber diese schnaubt leise weiter vor sich hin. Als sich Sandyr auf allen vieren auf den Boden niederlässt, bohren sich die Perlen in ihre Knie, Zehen und Handflächen. Sie verzieht das Gesicht und schüttelt sie sich von den Händen.

Sie stellt sich vor, wie die Perlen zwischen den Fliesen Wurzeln schlagen, sprießen, Blumen tragen und zu Perlensträuchern emporwachsen. Die Perlen reifen in Hülsen heran, wie die dünnen Akazienhülsen, aus denen Sandyr mit ihrem Vater Pfeifen gebastelt hatte. Er pustete rein und es kam ein Ton heraus, Sanja pustete und die Hülse blieb stumm. Sie pustete und pustete, spuckte wütend in die Hülse. Da zeigte ihr Vater auf das Wiesen-Rispengras: Schau mal, Hahn oder Henne? Sanja ließ die Hülse fallen, maß die Rispen mit dem Auge ab: Henne. Ihr Vater zog die Rispen mit Daumen und Zeigefinger am Stiel entlang hoch. Eine lange Rispe schaute aus den restlichen hervor. Na, doch ein Hahn, hm? Sanja schüttelte den Kopf: Nochmal!

***

Sandyr lehnt am Fensterbrett und hält die Tasche und den Mantel ihrer Mutter. Diese schimpft und es hallt bis zur Toilettendecke hoch. Der Termin für den Antrag für die Große Witwenrente, nach dem Absetzen der Kleinen Witwenrente, zieht sich bereits seit zwei Stunden. Sandyr versteht nicht, warum ihre Mutter darauf bestand, dass sie zum Übersetzen mitkam, denn diese versteht alles einwandfrei und schafft es, gleichzeitig auf ihre Tochter und die Sachbearbeiterin einzureden. So schnell kann nicht mal Sandyr zwischen den Sprachen switchen.

Es rieselt in die Kloschüssel. Weißt du, bei uns, da stellt man sich mental auf Schikane ein, ja? Und hier tuen sie auf zivilisiert, machen Sicherheitskontrollen, geben dir so ein Nummernzettelchen und was dann?

Hm-m, macht Sandyr mechanisch.

Und dann sitzt da diese Tussi und wühlt sich durch die Papierstapel und kann nicht mal Kopfrechen! Sandyrs Mutter wäscht sich die Hände ab. Weißt du, bei uns, da weiß ich halt, ich bringe einen Cognac mit und ich erniedrige mich ein wenig, aber dann wird da auch was gemacht!

Sandyr reicht ihrer Mutter die Sachen zurück. Das ist klassistisch, Mama, und du romantisierst Korruption.

Die Mutter gibt ihr einen Kuss auf die Stirn. Wer hat dich bloß erzogen, dass du so aufgeklärt bist, hm?

Sandyr zieht ihr Smartphone hervor, trottet der Mutter hinterher und klickt sich durch die Nachrichten. Neuigkeiten vom Justizministerium Russlands, weitere Eintragungen von queeren und feministischen Initiativen als Ausländische Agenten, Auszüge aus Gesetzesentwürfen gegen Agitation…

Sie öffnet die Kalenderübersicht und starrt auf den roten Eintrag, geht die Check-Liste durch, die sie sich dafür notiert hat. Ja, sie hat definitiv alle Papiere vorbereitet. Sie hat darin einzigartige Expertise, mit acht Jahren ist sie bereits Behörden-Briefe mit den Eltern durchgegangen und war stolz darauf gewesen, wenn sie den Eltern ein „Nein, das muss so!“ sagen konnte. Der Antrag auf das Auslandssemester in Perm sei ohnehin rein formal. Es will ja sonst keiner hin.

***

Lies mir aus den Krym’schen Legenden vor.

Oh, nein, Kind, nicht schon wieder! Hast du danach keine Alpträume?

Nein. Ich will das Märchen über Oksana!

Und das Märchen über das Rübchen? Wollen wir nicht gemeinsam alle Tiere herbeirufen, damit sie zusammen die Rübe herausziehen?

Nein! Ich will das Märchen über Oksana!

Na, wenn schon, dann vielleicht das Märchen von den Schwestern? Wo der einen Schwester der schöne lange Zopf von einer Hexe abgeschnitten wird und sie stirbt, und dann muss die andere Schwester sich den Zopf von der Hexe holen?

Nein! Das Märchen von Oksana!

Und das Zauberwort?

Nein!

Das ist nicht das Zauberwort.

Bitte. Danke. Nein! Sanja plustert sich auf.

Die Mutter seufzt.

Oksana, Oksanochka, so eine schöne Frau, so stark, niemand konnte sagen, er hätte jemals eine Träne in ihrem Auge gesehen. Die schwarzbärtigen Kazaken scheuten sich, sie anzusprechen. Nicht, dass sie sich fürchteten, aber vorsichtig waren sie.

Am heißen Tag ist Stille in der Siedlung. Jeder versteckt sich von der Hitze, und die Oksana trägt das Tragjoch mit den Leinwänden zum Fluss zum Bleichen. Gej-gej, Oksana, Oksanochka…

Gej-gej, Oksana! ruft Sanja.

… Wenn du gewusst, wenn du geahnt hättest, wärst du nicht mit den Leinwänden zum Fluss hinunter gegangen. Du wärst nicht weggegangen, wenn du gewusst hättest, dass von der weiten Steppe Unheil naht.

***

Ein Panneau flechten bedeutet, die Muster der Welt wahrzunehmen, abseits der Muster, die uns von dem ӟуч beigebracht werden. Es bedeutet, zu heilen. Die Hände arbeiten, der Geist arbeitet, langsam mit dem Atem, die Fäden in den Fingerknöcheln eingekeilt. Befeuchte den Wollgarn mit der Spucke, drehe ihn schmal, ordne ihn in das Gewebe ein, kämme die Knoten aus. Du wirst starke Finger haben, starke Handmuskeln. Sanja prustet los und schaltet sich stumm. Starke Finger, ja-ja…

Und behalte unbedingt das Werkzeug deines Vaters, wnuchka, die Birkenrinde und das Brenneisen und das Messerchen. Wer weiß, vielleicht holst du es hervor und merkst, die Rinde, die schmeichelt deiner Haut und du willst sie formen. Dann schnitzt du ein tujesok nach dem anderen und sagst den Deutschen, das sei traditionell, vegan und nachhaltig, aus aufgeforsteten sibirischen Wäldern. Die Oma, die hat ein gutes Auge fürs Marketing, das kommt gut, wenn du die Preise hoch setzt.

Das ist kultureller Exhibitionismus, Oma.

Was sagst du? Du verwendest so schlaue Worte, mein Kind, ich bin so stolz auf dich. Zeigen sie in den Nachrichten bei euch die Brände? Das sind nicht die Gewitter - wann hat es zuletzt Gewitter gegeben? Das sind nicht die Torfbrände wegen der trockenen Erde, nein. Das sind Menschen, die das Gras anzünden, weil sie es immer so gemacht haben, um es schnell auszuroden. Weißt du, das Gras, das könnte man ja auch abmähen. Da sollte es Strafen geben, heutzutage, auf oberster Ebene sollen sie da was erlassen, dass das auch ankommt, bei den Menschen. Dieser Dunst über Moskau vor ein paar Jahren, das hat der Kreml davon, wenn sie Sibirien brennen, wenn sie die eigenen russländischen Menschen das eigene Land anzünden lassen. Wir sind ja schon weit weg hier, was die da oben mit Europa und den USA machen, falls das mal gefährlicher wird, wir sind hier sicher. Wir fürchten Gayropa nicht, wir räuchern uns schon selbstständig aus.

Oma, was sagst du da, das macht keinen Sinn, nimmst du deine Medikamente ein?

Du fragst mich immer nach den Medikamenten, wenn ich dir etwas Wichtiges sagen will.

Ja, aber nimmst du die?

Sanechka, mir gefällt dieser bevormundende Ton nicht. Ich werde jetzt auflegen.

Warte, warte, ich werde bald ganz in der Nähe sein, in Perm.

Was willst du hier?

Naja, arbeiten. Nützlich sein.

Also, ich weiß nicht, meine Liebe, du machst doch was mit Literatur, oder? Das braucht doch hier niemand.

Ich wollte mehr sowas in Richtung Menschenrechte und Feminismus machen.

Ja, aber das braucht doch in Perm erst recht keiner. Sind doch nur Kriminelle dort, gab’s neulich wieder mal eine Statistik, da haben sie das auch dokumentiert, ja.

Sandyr lacht verunsichert auf. Brauchst du mich denn?

Versteh mich nicht falsch, mein Kind, aber ich musste mich daran gewöhnen, euch nicht zu brauchen.

***

Sandyr wartet, bis Lajma eingeschlafen ist, schiebt sie vorsichtig von sich, dreht sich auf den Bauch und legt die Nase an den Bettrand. Sie hat sich in der Kindheit angewöhnt so einzuschlafen. Damals trug sie einen langen Zopf und damit die Hexe ihr das Haar nicht abschneiden konnte, hatte sie es sich unter den Bauch geklemmt. Sie hatte ja keine Schwester, wer hätte ihren Zopf zurückbringen können? Und hätte die Hexe versucht, ihr den Zopf unter dem Bauch hervorzuziehen, da wäre Sandyr schon aufgewacht und hätte sich gewährt.

Am Anfang hat Lajma gefragt: Tut dir der Hals nicht weh, wenn du so schläfst? Sandyr hat versucht zu erklären, mit der Hexe und dem Zopf und der Schwester, und Lajma hat den Kopf zur Seite geneigt: Aw, du warst so ein phantasievolles Kind.

Lajma mag es, Sandyr Eigenschaften zuzuschreiben, bei jeder Zuschreibung runzelt Sandyr die Stirn. Sie fühlt sich nicht besonnen, sie war nie phantasievoll, sie ist nicht mutig. Sie wendet den Kopf zu Lajma und stupst mit dem Zeigefinger in Lajmas Bauchnabel. Sie hat eigentlich keine Ahnung, aber Lajma hat das noch nicht durchschaut. Sie nimmt sich jede Nacht vor, Lajma am Morgen zu fragen: Willst du mich in Perm besuchen?

***

Sandyr schaltet sich stumm, winkt in die Kamera und ergänzt ihre Pronomen im Namen für den Zoom-Calls. Die meisten haben ihre Kameras ausgeschaltet. Sie hat vorab ein Handout an die Organisierenden geschickt, mit Beratungsstellen in Deutschland für russischsprachige, queere Menschen, Migrationsmöglichkeiten und die ersten Schritte, um sie einzuleiten. Es wurden fünf Personen eingeladen, die auf Social Media in Support-Gruppen aktiv sind. Jede soll einen Impulsvortrag halten, was an Deutschland besonders toll sei. Sandyr hatte vorab nachgefragt, ob es denn nicht sinnvoller wäre, aufzulisten, was ihr nicht gefalle, um auf Herausforderungen vorzubereiten, aber das hätte nicht ins Konzept gepasst. Der Umzug ins Ausland sei schon anstrengend genug, die Desillusionierung käme auch so, an diesem Punkt gehe es vor allem darum, Mut zu machen und Kraft zu geben. Sandyr soll als letzte sprechen.

Die Deutschen seien höflich und grüßten immer, das Justizsystem sei gerecht und die Medizinausstattung auf höchstem Niveau, die Polizei behandle einen wie einen Menschen, die Krankenversicherung erstatte alles, der Sozialstaat sorge für jeden, die Politik sei feministisch, klar, weil ja Bundeskanzlerin, die Medien berichteten unparteiisch, Lesben und Schwule dürften heiraten, Kinder kriegen, trans und nicht-binäre Menschen eine Personenstandsänderung machen…

Sandyr hält die Luft an. Sie möchte fragen: Kennt ihr Deutsche, so privat? Allesamt ewig freundliche Übermenschen, die immer hilfsbereit sind, ja? Wart ihr denn nie ernsthaft krank, habt ihr nie nächtelang in der Notaufnahme warten müssen, mit Verdacht auf Schlaganfall bei der Mutter, und dann eine völlig übermüdete Ärztin angeschrien, die auch nichts dafür konnte? Habt ihr schon mal versucht, eine Anzeige gegen fremdenfeindliche Gewalt zu erstatten, und euch angehört, wie der Polizeibeamte immer neue Rechtfertigungen für den Angreifer fand, Verständnis wecken wollte, das sei ja ganz anders gemeint gewesen? Habt ihr nie einer gerichtlichen Auseinandersetzung beigewohnt, Sachbearbeitung von mehreren Jahren, Richter, die irritiert sind, von kulturellen Unterschieden? Habt ihr schon mal jemanden hier verloren und beerdigt?

Sie atmet aus, da ist es wieder: Sie unterstellt, sie wirft anderen vor, etwas nicht erlebt zu haben, als mache sie das zu etwas Besserem, als hätte sie dadurch eine klareren Blick. Sie ist die falsche Person, um bei solchen Runden Erfahrungen zu teilen, oder vielleicht auch: Sie hat die falschen Erfahrungen in einem richtigen System gemacht. Sie muss ein Einzelfall sein, denn wenn sie der Lajma Sachen erzählt, dann erwidert sie: Also, das glaube ich jetzt nicht! Und wenn sie Lajma sagt, das klinge für sie so, als meinte Lajma, dass Sandyr lügt, sagt Lajma: Das verstehst du nicht, das sagt man so in Deutschland, das heißt doch nicht, das ich dir wirklich nicht glaube. Und die Oma, die sagt: Jetzt bist du aber undankbar! Was glaubst, wie es den Kindern auf dem Nordpol geht. Und allen, allen geht es gut in Deutschland und nur Sandyr rutscht durch die Paragraphen, durch die Regelungen, durch die Konzepte.

Sie schaltet ihr Mikro an, zieht die Mundwinkel auseinander und streckt die Nase hoch, damit die Tränen nicht aus den Unterlidern schwappen: Es wurde ja alles schon gesagt, ich würde einfach nur Sachen wiederholen. Wollen wir direkt mit der Fragerunde starten?

***

Sandyr schaut vom Lektüretext hoch. Der Zug ist auf einer Brücke über dem Rhein angehalten. An den Stangen türmen sich  bunte Schlössertrauben mit aufgedruckten Initialen. Sandyr fragt sich, ob bei der Konstruktion von Brücken das Gewicht von solchen Liebesbekundungen mitberechnet wird und ob sie einstürzen könnten, wenn zu viele Schlösser angebracht sein würden. Sie stellt sich vor, wie unter ihr die Brücke knarzt, wie der Zug langsam anfängt, in sich zusammenzufallen, und sie für einen kurzen Moment schwerelos wird, ehe der Waggon auf dem Wasser aufschlägt. Sandyr drückt die Wange an das kalte Glas und überlegt, welche Schlagzeilen es gäbe, zu viel Liebe bräche Brücken ein, ein älterer Herr, der sich über den Vandalismus beschwert, den die jungen Leute mit den Schlössern betreiben, vage Stellungnahme der Eisenbahngesellschaft… Sie entsperrt mechanisch das Smartphone und scrollt durch die News Broadcasts, ohne mit dem Blick an den Überschriften hängen zu bleiben. Sie öffnet eine Datei für eine neue Liste. Was zu tun wäre, sobald der Antrag für Perm genehmigt ist. Der Cursor blinkt. Sandyr schaut wieder auf die Schlösser draußen. Die Genehmigung würde erstmal nur eine Reihe weitere Aufgaben zum Abarbeiten bedeuten, das war’s. Sie checkt die Mails, den Telefonverlauf, falls sie zufällig die Benachrichtigung über einen verpassten Sprachanruf weggedrückt hat, wechselt zur leeren Datei zurück.

 

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Senka

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freiTEXT | Julia Knaß

Uns Gespenster (Ein Spiegelspiel)

(1)

Vielleicht hatte es etwas mit dem Wasser zu tun und dass ich nach Sternen tauchen wollte, im Fischteich. Sie war am Ufer gesessen, und hatte andere Wörter geformt. Ich dachte, wenn ich das wirklich will, dann hat der Laich Zacken. Meine Beine voller Schlamm, im Hintergrund der Wald und der Berghof. Und zwischen den Grashalmen hat etwas geraschelt. Hörst du es, hat sie geflüstert und mich erwartungsvoll angesehen.

Das Rascheln war kein Geräusch der Wiese, es kam aus einem anderen Leben, wurde immer lauter, bis es uns die Welt abschnitt, wir rannten vor ihm davon, dann, ich verlor Wassertropfen, sie einige Wörter, es hat beides verschlungen, ich weiß das, ohne dass ich hingesehen hätte.

In mein Tagebuch schrieb ich am Abend, das hätte nicht passieren dürfen. Was sie schrieb, weiß ich nicht, aber ich stelle mir vor, das hätte nicht passieren dürfen. Ich stelle mir vor, sie schrieb es mit meinen Tropfen so wie ich ihre Wörter verwendete. Danach haben wir nicht mehr darüber geredet. Ich habe einige Sterne gemalt und daruntergeschrieben: Froschlaich mit Zacken.

(2)

Vielleicht hatte es etwas mit Herkunft zu tun und dass sie nach Meeresrauschen im Wald Ausschau hielt. Sie hatte einen Stift und meinte, sie könne die Bäume damit umschreiben. Sie dachte, wenn sie das wirklich will, dann würde Sand aus den Ästen rieseln. Wir gingen durch eine Wüste zurück zum Hof und verwischten unsere Spuren selbst

An dem Abend hat niemand von uns etwas geschrieben, aber das Geräusch war zurückgekommen. Ich flüsterte, hörst du es, und sie nickte und verlor ihren Kopf dabei. Da wusste ich, dass ich nicht mehr davonlaufen konnte, vor ihm. Also stand ich auf und hielt meinen Kopf fest, während ich auf das Fenster zuging.

Aber als ich den Vorhang beiseiteschob, war da nur eine Wand. Ich habe geflüstert, es ist nichts, es ist wirklich nichts, und ihren Kopf vom Boden aufgehoben. Ich flüstere das noch immer, wenn ich abends allein im Bett liege, es ist nichts, es ist wirklich nichts mehr, es ist niemand. Und jedes zweite Mal glaube ich mir, dass es stimmt.

 

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Julia Knaß

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freiTEXT | Sophie Vizthum

Seit zwei Minuten offline

Liebe Fanny,

wie geht es dir da drüben in Tokio? Hast du schon einen riesigen Pikachu gekauft? Wie schmeckt Sushi ohne Glutamat? Ich muss dir gleich gestehen, allzu Spannendes kann ich nicht berichten – aber ich habe mich heute nicht übergeben und das ist schon was.

Du fehlst mir hier. Und immer, wenn ich dich vermisse, versuche ich mich abzulenken. Ich habe also mal wieder Tilly geschrieben. Du erinnerst dich vielleicht noch an sie: ich habe sie in so einem Online Forum Anfang der Zweitausender kennengelernt. Die, die auch Probleme hat. Die, die alle paar Sekunden von online zu offline wechselt.

Tilly schrieb mir, dass sie gerade eine Demonstration gegen die Unterdrückung Schwarzer in den USA organisiert. Dagegen kamen mir meine Sorgen irgendwie winzig vor.

Ich habe mich gar nicht getraut zu fragen, was sie sich dadurch erhofft, hier in Österreich? Aber Tilly würde sagen, natürlich verstehst du das nicht, du hast kein Gefühl für die Welt. Ich bin mir gar nicht mehr sicher, warum wir überhaupt noch reden.

Ich habe gesehen, dass du jetzt auch viel postest und so was. Ich hoffe, dass du nicht auch in diese digitale Generation abgerutscht bist, die für alles eine Rechtfertigung parat hat? Du bist nicht schuld am Elefantensterben, dein Einkauf wird CO2-neutral versandt, diese Jogginghose ist aus der schönen Provinz Chinas – das können sie uns ja verkaufen und so, aber glauben muss ich es nicht, oder?

Manchmal habe ich das Gefühl, dass mir alles zu viel wird. Ständig gibt es nur Probleme, aber kauf mich, dann geht es dir besser. Wenn ich mir die Zähne putze höre ich fremden Menschen beim Quatschen über Schwangerschaftsprobleme, beim Planen von Weltreisen oder beim Testen von Produkten zu – dabei bin ich weder schwanger, noch habe ich Geld für eine Reise, noch brauche ich so ein Scheißproteinpulver. Aber ich könnte dir stundenlang von Episiotomien und Proteinpancakes erzählen.

Ja, natürlich könnte ich endlich die selbstgemachten Ohrringe von Anna kaufen und sie dadurch unterstützen. Klar, wären zwei Sportleggins zum Preis von einer super. Und die Babybären in Käfigen in Bulgarien tun mir eh leid. Versteh mich bitte nicht falsch. Aber wo bleibe da eigentlich ich?

Ich habe übrigens jemanden kennengelernt, das wird dich sicher interessieren. Elias heißt er – er kocht gerne und schaut mir beim Spielen auf der Wii zu.

Er merkt sich so Dinge, die anderen gar nicht auffallen. Zum Beispiel, dass ich die eingedrehten Nudeln lieber habe, weil ich denke, sie schmecken nussiger.

Wenn wir gemeinsam kochen, darf ich auf der Fläche gleich neben dem Herd sitzen, wie damals, und rühren. Ich rühre alles um, Wasser, Currys, Chillis, ich rühre mal nach links, mal nach rechts und rede und alles ist gut. Erinnerst du dich noch, damals in der Therapie, da haben wir es nicht anders gemacht.

Wenn ich Elias dann sehe wird sicher alles besser. Er gibt mir das Gefühl, dass es okay ist, mal abzuschalten – wir hören nichts, wir sehen nichts, wir igeln uns ein und der Lärm, den lassen wir vorbeiziehen. Ich glaube, ich werde meinen Fokus auf ihn richten. Zumindest bis du wieder da bist. Schauen wir mal, wie lange es gut geht.

Ich sollte jetzt gehen. Ich bin schon viel zu lange online. Aber eigentlich bin ich gar nicht daheim. Vor mir dreht sich ein Ringelspiel, es dreht und dreht sich und malt eine bunte, runde Spur in die Luft, dort wo sonst eigentlich die Kinder sitzen, weißt du. Die Kinder? Die sind schon lange nicht mehr da. Vielleicht schlafen sie auch nur. Musik höre ich keine.

Jemand in schwarzen Adidas-Hosen boxt gegen einen ledernen Ball. Das dumpfe, mechanische Geräusch des nachgebenden Boxsacks bringt mein Blickfeld zum Wackeln.

Gestern Abend war ich schon hier, mit Elias, wir haben uns Zuckerwatte geteilt und Schaumbecher verschlungen. In der Geisterbahn war mir schlecht. Heute Morgen bin ich wieder gekommen, bin durch die Maschinenreihen spaziert, habe mich auf winzige Fahrgeschäfte gesetzt, die nicht gut genug abgesperrt sind und habe geraucht. Ich habe auch versucht Cola zu kaufen, aber die Automaten blinkten alle rot. Sonst ist noch niemand da. Vielleicht war auch nie jemand da. Und es ist alles nur in meinem Kopf.

Jagen, das tun sie uns alle, mit ihren Scheißideen von Vollkommenheit. Hier sitze ich, kurz nach Sonnenaufgang an einem Junimorgen und überlege, heutzutage nehmen wir die Maschinen überall hin mit. Besonders ist das schon lange nicht mehr. Und freiwillig irgendwie auch nicht.

Ich warte auf Elias.

Schreib mir mal wieder.

Sayonara!

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Sophie Vizthum

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freiTEXT | Christian Weiglein

Schafe

Ich treffe ihn gegen vier Uhr Nachmittag auf dem Weg zur Post und wir stellen fest, dass wir beide zur Post gehen möchten und dann unterhalten wir uns kurz und machen uns auf den Weg. Wir zwei jetzt zusammen zur Post, denke ich. Was mich beschäftigt, sagt er, ist das Burgfest. Das Burgfest steht kurz bevor, sagt er. Wir wissen vom Burgfest, alle reden vom Burgfest und andauernd hören wir im Vorübergehen auf unserem Weg zur Post Einheimische, die sich über das bevorstehende Burgfest unterhalten. Was mich beschäftigt, sagt er, ist nicht das Burgfest an sich, sondern die Geschehnisse auf dem Burgfest, aber nicht die Geschehnisse an sich, sondern die Art und Weise, sozusagen der Modus ihres Geschehens. Diese ganz spezielle Burgfeststimmung auf der Burg am Tag des Festes, sagt er und ich meine zu wissen, was er sagen möchte, weil auch mir das Burgfest besonders durch seine eigentümliche Stimmung immer aufgefallen ist. Also die Burgfeststimmung, so er weiter, diese Burgfeststimmung beschäftigt mich. Bis zur Post ist es noch weit, denke ich. Warum gehst du zu Fuß zur Post, frage ich mich … Wir unterhalten uns über das Burgfest, wie sich alle hier über das Burgfest unterhalten, denke ich und sage, dass das Burgfest alle seine Besucher beherrscht, ihr Denken beherrscht. Die Burg nichts als eine Ruine, sage ich, aber das Burgfest herrscht über der Stadt, steht, wo alle Mauern fielen. Die Burgfeststimmung, sagt er, ist die Stimmung, in der wir vom Fest und der Burg, präziser: Burgruine, beherrscht werden. Das ist das Geheimnis der Burgfeststimmung: Herrschaft. Bis zur Post, denke ich, ist es noch weit.

Im letzten Jahr wurde er vom Organisationskomitee des Burgfestes von der Helferliste gestrichen. Das wissen wir beide, aber ich schweige, weil es mir peinlich ist, ihn auf seine Streichung von der Helferliste hinzuweisen. Tatsächlich ist die Streichung Resultat eines Skandals, über den ich mich genauso wie über die Folgen des Skandals ausschweige. Ich bin nicht nur vom Burgfest, sondern auch von ihm beherrscht, denke ich jetzt. Es ist mir eine Freude über Skandale zu sprechen, aber in seiner Anwesenheit kann ich über den ihn betreffenden Skandal nicht sprechen, denke ich. Alles was mit dem Burgfest zusammenhängt, hängt mit dem Skandal zusammen und wird in seiner Anwesenheit zum Unaussprechlichen. Auf dem Weg zur Post, denke ich, unterhalten wir uns über das Burgfest, aber viel mehr noch schweigen wir über das Burgfest. Ich schweige über meine Beteiligung im Helferkommitee des Burgfestes, das die Helferlisten-Streichung zu verantworten hat. Mein mir angestammter Platz auf der Helferliste hat mich in das burgfestliche Komitee hinein ordiniert, denke ich. Sein Platz war an der Kaffeemaschine, das heißt hinter der Kaffeemaschine und zwar jedes Jahr zum Burgfest einen Sonntagnachmittag. Jetzt: nur noch Besucher, er nur noch vor (nicht hinter) der Kaffeemaschine, nur noch Kaffee kaufend (nicht kochend). Wir haben ihm sein Erbrecht genommen, denke ich auf dem Weg zur Post neben ihm gehend. Wir lassen uns nichts anmerken.

Bis zur Post, sagt er, gehe ich sonst nie zu Fuß, denn es ist ein weiter Weg. Auch ich, sage ich, gehe nie zu Fuß zur Post, aber heute, sage ich gehend, treffen wir uns zufällig beide zu Fuß auf dem Weg zur Post. Das ist die Burgfeststimmung, sagt er, die Burgfeststimmung herrscht über uns und zwingt uns zu Fuß zu gehen, wo wir sonst nie zu Fuß gehen. Herrschaft, sagt er, feudal, sagt er. Er: Wir sind alle Bauern hier unter der Burg. Nicht die Burg ist Ruine, wir sind ruinös, wir hier unten in der Stadt zu Füßen der Burgruine. Fast einmal um die halbe Burg herum hier unten, denke ich. Bis zur Post ist es weit. Auf unserem Weg zur Post kreisen wir um die Burgruine herum. Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten führt in unserer Stadt um die Burgruine herum, um den Burgberg herum, um dessen Ausläufer sich alle Straßen krümmen. Unter dem Burgberg krümmen auch wir uns, denke ich. Krümmung und Herrschaft, sage ich. Er nickt.

Die Aufgaben des burgfestlichen Komitees erschöpfen sich nicht im Streichen von Namen von der Helferliste. Das Komitee organisiert Kaffeepulver, das von den Helfenden zu Kaffee aufgekocht wird. Das Komitee organisiert ebenfalls Kuchen, d.h. es bestimmt Helfende, die am Tag des Festes einen Kuchen backen und auf die Burg hinaufzutragen haben, wo der Kuchen zum Kaffee gereicht wird. Der Ausschank des Kaffees und das Reichen der Kuchen erreicht am späten Nachmittag einen Höhepunkt, dessen Kommen sich durch Entzündung eines Lagerfeuers ankündigt. Auch das Lagerfeuer wird vom burgfestliche Komitee organisiert. Ist der Höhepunkt überschritten und das Lagerfeuer angeheizt, werden Vorbereitungen zum Abendessen getroffen. Auf dem Burgfest werden traditionell Schafskadaver auf eiserne Stangen gesteckt und über den Flammen des Lagerfeuers bis zur Schwärze erhitzt. Das Organisationskomitee hat mit den Schafen aber nichts zu tun, denn das Organisieren der Schafskadaver (sogenannte Lämmer) wird der städtischen Metzgerei überlassen. Das Organisationskomitee tätigt eine Bestellung und der Metzger liefert. Der Metzger ist sehr geschäftstüchtig, seine Filiale liegt ganz in der Nähe der Post, denke ich auf dem Weg zur Post, der auch der Weg zur Metzgerei ist.

Was mich beschäftigt, sagt er und reißt mich damit aus allen meinen Gedanken, ist der Skandal, mein Skandal, sagt er. Ich war gegen das Streichen deines Namens von der Helferliste, sage ich unvermittelt. Das Streichen deines Namens von der Liste war unausweichlich, sage ich. Er nickt. Ich habe mich, schon als dein Name bereits von der Helferliste gestrichen war, noch für dich ausgesprochen, sage ich, habe angeregt, den Namen nur zu verschieben, von der Liste der Kaffeekocher auf die Liste der Kuchenreicher, sage ich. Er nickt. Du kennst die Alten, sage ich, niemand schlimmer als die Alten. Die Alten regieren unerbittlich, sage ich. Feudal, sagt er. Die Alten, so ich weiter, die Alten häufen ihre Urteile wie Falten. Furchen, sagt er. Furchen, sage ich, du kennst die Alten, Urteile, Falten, Furchen, ihr Gesicht rau und hart wie ein Acker. Um die ganze Stadt überall Äcker und hier unter der Burg alle Bauern, sagt er. Aber die größten Äcker, so ich weiter, finden wir in den Gesichtern der Alten. Noch bevor sie im Kirchhof zu liegen kommen, beerdigen sie sich im eigenen Gesicht, sage ich. Das ist die Schwere ihrer Urteile, die ihre Gesichter bricht, sage ich, schwer wie Torf.

Im letzten Jahr stand mein Gesprächspartner im Zentrum eines Skandals: Die Alten haben feine Zungen. Man meinte, im Kaffee den Geschmack der Schafe zu erkennen. Er war dem Metzger zur Hand gegangen. Man hatte ihm beim Tragen der Schafskadaver beobachtet, man hat ihm vorgeworfen, sich die Hände nicht gewaschen zu haben. Kaffeekochen mit diesen Händen, diesen Schafshänden, haben sie gesagt. Diese ganz bestimmte Burgfeststimmung, denke ich jetzt auf dem Weg zur Post, war ausschlaggebend für den Skandal. Die Worte der Alten fallen zwischen die Biertischgarnituren mitten hinein in die Kuchenkrümel, ein Skandal wächst aus ihnen, gebrochene Worte aus gebrochenen Gesichtern, schwer wie Torf die Urteile. Ich denke an das Wort Modus. Der Modus des Burgfests ist sein Geheimnis. Herrschaft, sage ich. Er nickt. Bis zur Post ist es jetzt nicht mehr weit. Dieser Teil der Stadt wird vom Burgberg beschattet.

Die Metzgerei liegt ganz in der Nähe der Post, wir passieren ihre Schaufenster und beobachten das dort ausgestellte Fleisch, werden langsam, werden beide immer langsamer und bleiben beide vor der Eingangstüre der Metzgerei stehen, die eine Flügeltüre ist. Bis zur Post ist es nicht mehr weit, sage ich. Er nickt. Ich zögere kurz und sage dann, ich müsse eigentlich gar nicht zur Post. Ich müsse zur Metzgerei, in die Metzgereifiliale hinein und dort eine Bestellung aufgeben. Er nickt. Auch ich muss nicht zur Post, sagt er. Wir treffen uns auf der Straße, sage ich, und geben vor, zur Post zu müssen, obwohl wir nicht zur Post, sondern zur Metzgerei müssen. Ich habe dich belogen, sagt er, weil ich vorsichtig bin. Ich habe einen Plan, sagt er, dessen Ausführung mich zur Metzgerei führt. Ich nicke. Ich denke, sagt er, jetzt kann ich es dir sagen. Er weiter: Ich gehe jetzt in die Metzgerei hinein und kaufe dem Metzger alle Schafskadaver ab, kaufe alle Kadaver zur Burgfestzeit für völlig überhöhte Preise, sagt er. Der Metzger ist sehr geschäftstüchtig, sage ich. Er nickt. Ich sage, ich müsse die Schafskadaver für das Burgfest bestellen. Am besten gleich bezahlen, sage ich. Er nickt. Ich werde alle Schafskadaver aufkaufen, sagt er, bis kein einziger Schafskadaver mehr für das Burgfest übrig ist. Das Burgfest zerstören, sagt er. Ich nicke. Ich werde in die Metzgerei hineingehen, sage ich, und die für das Burgfest nötige Anzahl an Schafskadavern bestellen und gleich bezahlen. Ich habe dich angelogen, weil mir das peinlich ist, sage ich, peinlich jetzt zum Burgfest vor dir die Schafe zu kaufen, sage ich. Wegen dem Skandal, sage ich. Er nickt. Die Metzgerei hat große, schwere Flügeltüren, in deren Glasfenstern sich unsere Gesichter spiegeln. Überall Furchen, sagt er. Feudal, sagt er. Jeder von uns nimmt einen Flügel in die Hand, zieht die Tür zur Metzgerei auf – wir halten kurz inne, sehen uns noch einmal an, taxieren den Blick des jeweils anderen so zwischen den Türen der Metzgerei stehend, riechen schon den Blutgeruch, der von den Schlachtbänken hinten in den Verkaufsraum der Metzgerei quillt – und dann … dann gehen wir einfach mitten hinein.

 

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Christian Weiglein

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freiTEXT | Ferenc Liebig

Von der Bedeutung des Sterbens

 

Der Mann ist auf YouTube. Im Hintergrund sieht man eine wilde Landschaft aus Bergketten und dichten Wäldern. Der Mann zupft an seinem olivgrünen Wollpullover. Der Mann trägt einen langen Bart, das blonde Haar ist zerzaust. Er sieht aus, als wäre er gerade aufgestanden. Seine Stimme ist kratzig. Der Mann sagt, er sei in dieser Gegend aufgewachsen. Die Kamera zoomt näher an ihn heran. Er zeigt die Straße herunter und meint, es gäbe keinen besseren Ort als diesen. Man folgt dem Mann mit der Kamera. Der Mann berührt die Leitplanke. Die Sonne scheint. Der Himmel ist blassweiß. Man hört das Rauschen eines Flusses, ohne ihn sehen zu können. Der Mann bleibt stehen und zeigt auf den Boden. Seit Jahren würde er die Kadaver von der Straße sammeln. Hauptsächlich kleinere Tiere. Er holt einen Plastikbeutel und einen Spachtel aus dem Rucksack. Der Mann verdeutlicht, er liebe die Tiere. Er könne nicht ertragen, sie dort liegen zu lassen. Kurz wird der Großteil eines Satzes durch ein vorbeifahrendes Auto verschluckt. Letztendlich versteht man nur das Wort unwürdig. Der Mann geht in die Hocke, kratzt energisch den Klumpen aus Fell und getrocknetem Blut von der Fahrbahn. Wichtig ist, dass sie noch frisch sind. An heißen Sommertagen werden die Tiere so schnell von Insekten befallen, dass er kaum fündig wird. Angezogen vom Zersetzungsgeruch würden Schmeißfliegen bei günstiger Witterung bereits nach wenigen Minuten ihre Eier ins abgestorbene Gewebe legen. Genau bei Minute 3:41 schaut er auf, die Kamera fängt seine tiefblauen Augen ein, die schwungvollen Wimpern, die gekringelten Haare auf der Nasenwurzel. Er hätte angefangen, sich nur noch von diesen Tieren zu ernähren. »Man würde«, nun pausiert er, in seinen Augen verfängt sich ein dramatisches Zittern, »leider Gottes viel zu viele von ihnen erwischen.« Am häufigsten wären es Katzen und Hasen, manchmal Waschbären, Eichhörnchen, Vögel. Auch wenn sie schnell sind, so ist es doch ihre Unvorsichtigkeit, die sie leicht zu Opfern macht. Man nimmt einfach keine Rücksicht mehr. Auf nichts. Deswegen hätte er alles hinter sich gelassen. Der Mann sagt, er liebt es, in der Natur zu leben. Nur dort wäre er unabhängig. Das letzte Mal hätte er als Jugendlicher eine Zeitung gelesen. Er bräuchte nicht zu wissen, wo Krieg ist. Das würde nichts ändern. Auch nicht, ob Menschen den Mond besiedeln oder nicht. Der Mann zieht das bis zur Unkenntlichkeit plattgefahrene Tier von der Straße ab, zeigt es in die Kamera und steckt es dann fast schon liebevoll in den Beutel. Sich von ihrer anzunehmen zeugt von Respekt. Sie nicht bloß dem Stadium der Verwesung zu überlassen. Ihrem Tod einen Nutzen zu geben. Das Video hat 99.476 Klicks und 6.377 Likes. Nach sechs Minuten bricht es plötzlich ab.

 

 

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Ferenc Liebig

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freiTEXT | Esther De Soomer

Seeanemonen

Monika erinnert sich heute noch daran, wie sie an jenem Morgen nicht wie immer den Fahrstuhl nahm, sondern die neun Stockwerke zu ihrem Arbeitsplatz zu Fuß bestieg. Es war ein gewöhnlicher Morgen, und sie war selbst ein wenig von ihrer spontanen Entscheidung überrascht. Während sie die Treppe hochging, hatte sie Zeit, darüber nachzudenken, und ihr fiel ein, wie die Immergleichheit der Tage an manchen Momenten schlecht auszuhalten war, und sich dann eine Änderung des üblichen Verhaltens aufdrängte. Sie fragte sich, ob sich andere Menschen, die sich ebenfalls gelegentlich von der täglichen Monotonie bedrückt fühlten, auch vergeblich mit Kleinigkeiten abzulenken versuchten, mit einer noch nie vorhin probierten Beilage an der Speisetheke zum Beispiel, oder mit heimlichem Schuheausziehen unterm Schreibtisch, um mit Strumpffüßen den Teppichbelag zu befühlen. Bestimmt ginge es ihnen auch so, dachte Monika, denn sie unterschied sich doch kaum von der Mehrheit der Menschen, die, genauso wie sie, ereignislose Leben führten. Sie vermutete sogar, dass selbst schlagfertige Menschen, die Art von Menschen mit Einfluss und Entscheidungskraft, die Meetings im Stehen organisierten und sich mit Karriereplanung beschäftigten, ab und zu Tagen ausgesetzt waren, an denen der Magen mürbe ist und der Geist stumpf. Dieser Gedanke tröstete sie ein wenig, es war ihr, als ob sie ihre Beschwernisse nicht alleine tragen musste, aber nach einigen Stufen überfiel ihr trotzdem das Gefühl, dass sich ihr Kummer nicht zu teilen, sondern nur zu vervielfältigen schien. Daraufhin verfehlte sie die letzte Stufe zum Treppenabsatz zwischen der zweiten und dritten Etage und stürzte. Sie brauchte einige Sekunden, um festzustellen, dass ihr nichts wehtat, oder zumindest nichts, das nicht auch schon vorher wehgetan hatte. Und sie entschied sich, noch ein wenig liegenzubleiben, ein Viertelstündchen oder zwanzig Minuten vielleicht, sie nahm sich nichts Großes dabei vor, und trotzdem erinnert sie sich heute immer noch daran.

Sie lag in einer eher unbequemen Haltung, aber die kühlen Treppenfliesen pressten angenehm kalt an die glühende Backe und ihr Verstand tat sich ein Spaltbreit auf. Wäre etwas wie eine Einsicht oder ein Vorhaben dagewesen, ihr Denken hätte dafür empfänglich sein können.

Monika lauschte auf das Surren der Aufzüge nebenan, das man mit einigem Wohlwollen für das Meer halten konnte, und sie stellte sich vor, dass unten am Empfang, wo Daria hinter einem riesigen, an einem Raumschiff erinnernden Desk saß, Wasser hereinfließen würde, das das Bürogebäude mitsamt Treppenhaus langsam überflutete, und dass sie darin herumschwimmen würde, wie irgendein exotisches Meereswesen in einem Aquarium. Sie würde an den Besprechungsräumen und den Kaffeeküchen vorbeigleiten, bis zum deckenhohen Fenster ihres Büroraums, das sich nicht öffnen ließ, zweifelsohne aus Sicherheitsgründen, und sie würde hinausglotzen, auf den schlängelnden Verkehrsstrom draußen, der aus Autos bestand, in denen Menschen saßen, die auf klare Endziele zusteuerten, und auf die Wolken darüber, die trotz ihrer launischen Farb- und Formwechsel stets einen unbeirrbaren und standhaften Eindruck machten.

Ihr kam das Wort Einflussnahme in den Sinn.

Dann dachte sie an eine sich ein Spaltbreit öffnende Muschel.

Dann an Seeanemonen, Geschöpfe die gleichzeitig Tier und Pflanze sind, und deren Larven Gehirne haben. Die Larven schwimmen so lange umher, bis die Zeit gekommen ist, um aufzuwachsen. Dann docken sie am festen Boden an, verankern sie sich und lassen das Gehirn absterben. Was bleibt, sind ihre sanft wehenden Tentakel, die sie vorbeischwimmender Nahrung entgegenstrecken.

Monika war froh darüber, dass ihr die Seeanemonenanekdote, die Oscar ihr mal erzählt hatte, nicht aus dem Gedächtnis geraten war, wie sie sich immer freute, wenn ihr unnützes Wissen nicht abhanden gekommen war.

Sie presste die andere Backe an den kalten Fliesenboden und versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, den Verstand zu verlieren. Aber sie verfügte über zu wenig Einfallsreichtum, um diesen Gedanken zu Ende zu denken. Also dachte sie an Oscar, der jetzt schon fast ein Jahr nicht mehr im neunten Stock arbeitete, weil er Life Coach geworden war und Menschen beim Sortieren ihrer Leben half, eine Tätigkeit, bei der er vielleicht über Seeanemonen redete und Verankerung und absterbende Gehirne.

Man kann an vieles Denken, wenn man fünfzehn, zwanzig Minuten unbeweglich auf einem Treppenabsatz liegt, aber irgendwann stockt der Verstand, und was bleibt, ist ein Körper, der sich nur mit sich selbst und seinen regungslosen Zustand befassen kann. So ging es auch Monika. Sie stellte sich vor, dass sie, wenn sie nur ganz still sein würde, einfach liegenbleiben konnte. Dass im neunten Stock niemand ihr Verschwinden bemerken würde, wie bisher niemand ihr Schwinden bemerkt hatte. So lag sie da, in unkomfortabler Haltung, aber ganz kurz zufrieden.

Dann stieß jemand zwei Stockwerke über ihr mit ziemlicher Wucht die Brandschutztür zum Treppenhaus auf. Hastige Schritte hallten die Treppe hinunter.

Ein Mann, schätzte Monika.

Wenn er sie hier so liegen sähe. Vielleicht würde er sie in den Arm nehmen. Sie leise wiegen, zwischen der zweiten und dritten Etage.

Das kam ihr dann aber nach ihrem kurzen Moment der Zufriedenheit zu pathetisch vor. Also stand sie rechtzeitig auf, wie sie immer rechtzeitig aufstand für einen Tag ohne Ereignisse. Ein Mann mit Bart, in der Hand ein Telefon, rannte an ihr vorbei. Sie hatte ihn schon einige Male gesehen, Oscar hatte damals mit ihm zusammengearbeitet, und sie wollte ihn grüßen, aber er schien sie nicht zu bemerken, als ob sie bereits verschwunden war. Sein Telefon klingelte. „Ja“, sagte er, und „geht schon“ und dann war er zu weit unten, um die Gesprächsfetzen noch verstehen zu können.

Gebraucht zu werden, dachte Monika, und da ihr Verstand wohl zu kurz geraten war, um sich dabei etwas Konkretes auszumalen, entschied sie sich, das Denken einzustellen, und den langen Weg zum neunten Stock weiter hochzusteigen.

Inzwischen, viel später, Daria arbeitet schon längst nicht mehr als Rezeptionistin in dem Bürogebäude, und die Aufzüge sind durch neuere, stillere Teile ersetzt worden, denkt Monika, während sie Zahlen von einer Tabellenspalte in die nächste verschiebt, dann und wann immer noch an diesen Morgen zurück. Sie kann noch ganz genau die kalten Fliesen nachempfinden und das Meeresrauschen und die Restwärme einer mal dagewesenen Zufriedenheit. Sie kann noch die Schritte hören des Mannes, der sie nicht sah. Und wenn sie jemand darum beten würde, würde sie die Seeanemonenanekdote genau nacherzählen können. Sie würde mit Schwimmbewegungen die Irrwege der Larven nachahmen, und mit elegant über ihrem Kopf wehenden Armen die nach Fraß ausgedehnten Tentakel. Und bei der Stelle über das abgestorbene Gehirn, würde sie den Kopf auf die Brust fallen lassen und still sitzenbleiben, ganz still, ein Viertelstündchen oder zwanzig Minuten, und dann noch länger, so lange, bis man sie überhaupt nicht mehr bemerkte.

 

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Esther De Soomer

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freiTEXT | Frederike Schäfer

Asiatisches Essen

Ich habe gelernt: Wenn Hugo auf seine Unterlippe beißt, ist er mit der derzeitigen Gesamtsituation überfordert. Ich könnte sagen: unsicher. Ich könnte sagen: in die Enge getrieben. In die Enge getrieben und doch nicht in der Lage, etwas an seinem Zustand zu ändern. Ich denke, manchmal, ja, manchmal ist mir Hugo ganz und gar ähnlich. Wie er da sitzt, auf meinem Wohnheimbett, am starren, angelehnt an weiße Raufasertapete, immer weniger sagt, bald gar nichts mehr sagt, auf seiner Unterlippe kaut, und sein Unwohlsein erfüllt den ganzen Raum, meinen ganzen Raum, Munas offensichtlich nicht, denn vielleicht, ja, vielleicht würde Muna dann aufhören, wenn Hugos Unwohlsein in ihrer Realität auch nur irgendwie bemerkt werden würde. Oder, denke ich, oder sie macht das extra. Früher hätte Muna das nicht gemacht, früher hätte Muna nichts gesagt, einfach nichts gesagt und sich im Nachhinein über die Dummheit der Welt aufgeregt. Aber jetzt sagt sie etwas, sie sagt nicht nur etwas, sie diskutiert, gegen eine Partei, die gar nicht existent ist, denn Hugo schweigt und ich auch, und da sind keine Gegenargumente. Aber ich schätze, das stört Muna nicht. Oder sie will einfach was loswerden, weil sich die Dinge aufgestaut haben und Hugo die nötige Fläche bietet, um alles Angestaute zu katalysieren und rauszulassen.

Und ich dachte noch, heute, ja, heute wird ein guter Tag, ein guter Muna-und-Hugo-und-ich-Tag.

*

„Woran denkst du?“

Ich schaue zu Muna, und Muna schaut zu mir.

„Morgen, Muna“, sage ich.

„Morgen“, sagt Muna und richtet sich auf. „Na sag schon“, sagt Muna. „Woran denkst du?“
„Ach nichts“, sage ich.

Muna steht auf und beginnt mit ihrem morgendlichen Yoga-Programm. Das hat sie mir erklärt. Viel Yoga statt viel duschen. Wegen der Wasserverschwendung, hat Muna gesagt. Muna hat auch gesagt, sie wäscht sich ihre Haare nur noch mit Olivenseife, hart. Kein Duschgel. Deo nur in der plastik- und aluminiumfreien Variante. Rasieren selten. Muna hat gesagt, der Mensch hat eine Verantwortung. Muna hat gesagt, was interessiert die Erde, ob ihre Schamhaare rasiert oder ihre Haare gewaschen sind. „Aber“, hat Muna gesagt, „aber, nenn mich nicht Hippie! Das ist so ein kack mystifizierter Ausdruck und klingt, als wäre ich auf so einem Eso-Trip. Bin ich aber nicht. Ich habe bloß nachgedacht.“ Ich denke, Muna hat recht. Ich denke, Muna ist identitätsfindungsmäßig weiter als ich. Ich denke, ich sollte weniger Zeit im Bad verbringen. Ich denke, meine Anstrengungen im Bad sollten sich in etwa in Richtung der Anstrengungen hinsichtlich meiner Socken bewegen. Meine Socken haben Löcher.

Ich setze mich auf das Bett, beobachte Muna kurz, wie sie es völlig problemlos schafft, ihre Handflächen im Stand auf dem Boden abzulegen, und nehme mein Handy.

Hugo: Heute 18 Uhr bei dir?

Ich tippe: Ja. Kochen oder bestellen?

Ich weiß, dass Hugo bestellen wollen wird. Hugo will immer bestellen. Bestellen und sich dann aufregen, wenn das Curry fettiger ist als gedacht. Gedacht im Sinne von: Er weiß es, aber er steht nicht drüber. Ich esse mein Curry, und das ist lecker.

Hugo schreibt: Bestellen. Hab Luft auf asiatisch.

Ich schreibe: Ok.

Hugo schickt ein Herz-Emoji.

Ich schicke ein Herz-Emoji.

*

Hugo hat Muna Hippie genannt. Hugo hat sich beschwert, sein Essen ist zu fettig. Muna war allem Anschein nach erst in der Phase Er-ist-Fridas-Freund-und-ich-verkneif's-mir, dann doch nicht. Hugo hat gesagt „Fett, alles Fett. Widerlich“, mit ganz langgezogenem „i“, und Muna hat ihre Augen zusammen gekniffen, hat Hugo anvisiert und angegriffen. Über das Konsumverhalten in der westlichen Welt, Lebensmittelverschwendung, immer und überall alle nur am Sichbeschweren, und überhaupt, wenn sich Hugo beschweren wollen würde, dann doch nicht über das Fett, sondern über das tote Rind in seinem Curry, Massentierhaltung, Methan, CO2, Monokulturen, und ob er das denn nicht wisse. Aber sie, sie müsse sich das immer anhören, ein Hippie, was ein Schwachsinn, sie habe einfach nur nachgedacht, und wer mal ordentlich nachdenke, der könne zu gar keiner anderen Lösung kommen, aber sie ein Hippie. Und dann ging es weiter, Beispiele, das ganze System, Kapitalismus, aber wir, wir als Akademiker, und ihre Stimme klingt dabei so verächtlich, sie spuckt das Wort Akademiker in das Wohnheimzimmer, und ich, ich verstehe nicht, warum wir, warum nicht er, und ich blicke zu Hugo, angelehnt an die Raufasertapete, beißt er sich auf seine Unterlippe, und ich sehe mich, und Muna macht weiter, trotz unseres Schweigens diskutiert sie gegen eine nicht existente Partei, erzählt von Walrössern vor der russischen Küste, deren Lebensgrundlage Eis einfach verschwindet und die sich aus Platzmangel auf einen Berg retten und folglich nicht wieder runter kommen, weil einfach zu viele, und stattdessen springen und fallen sie, die Klippe herunter, der einzige Ausweg. Und ich denke an braune, schwabbelige, dicht gedrängte, gehäufte Körpermassen, und ich stelle mein Curry zur Seite. Und Muna macht weiter, Politik, Kohle, Klimaabkommen, alles lachhaft, und wir, sie sagt wieder wir, wir würden uns über ein bisschen Fett aufregen, als wenn's sonst nichts gäbe. Doppelmoralisten, überall. Avocados aus Peru kaufen und Kippen auf den Boden werfen, bei Amazon bestellen, dann überlegen, ich könnt' ja zur Klimademo gehen, nein, doch lieber YouTube-Compilations gucken und Trauben ohne Kerne essen und keine Obdachlosenmagazine kaufen, aber Billig-Kaffee aus Uganda. Muna sagt, der Tag, an dem unser iPhone in die vollgekotzte Schüssel einer Clubtoilette plumpst, ist der beste Tag in ihrem Leben. Ich will noch ansetzen, das kenne ich irgendwo-, aber lass es lieber. Hugo lässt es auch.

*

Muna sagt nichts. Muna sitzt da und sieht abwechselnd Hugo, dann mich an. Hin und her. Hin und her. Muna nimmt sich ihren Teller, nimmt sich ihre Gabel, schiebt sich gebratenen Reis mit Gemüse in den Mund, kaut, schluckt und fragt: „Kommt ihr klar?“

Hugo und ich sehen uns an, Hugo sieht Muna an, Hugo nimmt sich ebenfalls seinen Teller, sagt „klar“ und isst weiter.

Ich denke, ich mag nicht weiter essen, aber ich will auch nicht als verschwenderischer, westeuropäischer Klimakiller rüberkommen, also esse ich. Keiner von uns sagt etwas. Wir sitzen und essen und schweigen, und vermutlich, ja, vermutlich wird das schwierig werden mit Muna und Hugo, und vielleicht auch mit Muna und mir, weil Hugo und ich allem Anschein nach ein Wir geworden sind, ohne dass ich das gemerkt hätte. Das mit der Wir-Werdung, das ist etwas, das ich nicht verstehe, und es scheint dennoch der einzige Weg zu sein, eine echte Beziehung führen zu können. Kein Wir waren: Munas Eltern und meine Eltern. Offensichtlich, wohin das geführt hat. Muna sagt, ihr Vater ist ein Idiot. Ich sage nicht, mein Vater ist ein Idiot.

*

Muna sagt: „Lasst uns ein Spiel spielen.“

Ich denke, ich bin ihr dankbar, dass sie's versucht.

Ich sage: „Okay.“
Hugo sagt erst mal nichts, sieht auf seine Uhr.

„Hugo“, sage ich und lege meine Hand auf seinen Arm. Das habe ich noch nie gemacht, meine Hand in einer liebevollen Geste auf seinen Arm gelegt, ihn mit gespielter Entrüstung angesehen und gesagt „Aber Schatz“. „Aber Schatz“ sage ich nicht. Mit „Schatz“ begibt man sich auf dünnes Eis. Ironisch gebrochen gerade zu verkraften ist der Übergang zu alltäglicher Gewohnheit fließend. Es bleibt also bei „Hugo“. Bei „Hugo“ und „kannst später ruhig hier pennen“. Neunzig Zentimeter waren bislang nicht das Problem, Muna dagegen, ja, ich weiß. Vielleicht ist meine zärtliche Berührung derart überzeugend, auf jeden Fall sagt Hugo „Ist gut“, gibt mir einen Kuss auf die Stirn und rutscht auf den Boden zu Muna, und ich sitze kurz da und spüre den Nachdruck seiner Lippen auf meinem Kopf, und mir wird ganz warm innen drinnen, und der Gedanke dominiert, das könnte ich immer haben. Und ich rutsche auf den Boden, und ich frage: „Was wollen wir spielen?“

*

Wir liegen im Bett. Munas lautes Atmen erfüllt das Wohnheimzimmer. Wir sind nicht nackt. Wir tragen Jogginghose und T-Shirt und Boxershorts und T-Shirt. Ich liege mit dem Rücken zu Hugo, der Blick auf die dunklen Umrisse von Muna. Hugo ist hart. Mit einer Hand holt er sich einen runter, die andere liegt auf meiner rechten Brust. Hugo hat eben geflüstert: „Bist du noch wach?“ Ich habe nicht geantwortet. Ich liege da, meine Augen sind offen, und ich höre zu, wie Muna atmet. Ein, aus. Ein, aus. Und ich bilde mir ein, wie ich Munas Stimme höre, vielleicht bilde ich mir das gar nicht ein, vielleicht ist sie das wirklich, und sie sagt, leise, dicht an meinem Ohr, dass nur ich es hören kann, Baby, you're wasting your young years. Merci und gute Nacht.

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Frederike Schäfer

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freiTEXT | Kerstin Kugler

Der Schrank

Meine Freundin und ich hatten das Jahr damit vergeudet, unseren Spaß zu haben. Wir tranken und rauchten bis in die tiefe Nacht, schafften es morgens mit Mühe aus dem Bett, strichen alle Seminare, die vor elf Uhr liefen, blieben in Bars hängen, bis man uns zur Sperrstunde rausschmiss, und schlossen Wetten ab, wer mehr Erfolg bei den Männern hatte. Ich sah uns als conquistadores, Sex war unsere Waffe, keine Intimität, die den anderen näherbrachte. Wir waren beide liiert, sie ernsthafter als ich, und Anfang des Wintersemesters zog sie, für mich völlig unerwartet, zu ihrem Freund.

Unsere Wohnung lag am Matzleinsdorferplatz, einer trostlosen Gegend, die die kühle Oktobersonne nicht verschönte. Die Aussichten, jemanden für ihr Zimmer zu finden, standen mit jedem Tag, der uns dem Winter näherbrachte, schlechter. Drei Termine zur Wohnungsbesichtigung verstrichen, ohne dass sich ein Interessent finden ließ.

Am vierten Termin, meine Freundin war schon ausgezogen, trafen wir uns an der Straßenbahnhaltestelle. Ein junger Mann wartete am Bordstein sitzend unter einer hohen Plakatwand, auf der ein Paar mit glänzenden Augen die Weihnachtsangebote in einer Geschäftsstraße bewunderte. Seine einzelnen Merkmale waren in ausreichendem Maß präsentabel – ein leicht ungepflegtes Äußeres, das zu einem Studenten passte, der sich etwas gehen ließ – aber in seiner Gesamtheit sah er verkommen aus.

Als er uns näherkommen sah, richtete er sich auf, um uns zu begrüßen. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass meine Freundin ebenso vor einer Berührung zurückschreckte wie ich. Wie drei Touristen in einer Führung hielten wir Abstand, als wir zur Straßenecke gingen, wo das Wohnhaus stand.

„Dein Zimmer geht auf die Straße“, sagte ich und zeigte auf ein geschlossenes Fenster im ersten Stock.

Meine Freundin sah mich schief an. Sie nannte den Preis, ihre Stimme klang verächtlich. Sie schien sicher, dass er sich die Miete nicht leisten konnte, doch er nickte, alle Kosten waren im Inserat aufgelistet gewesen.

Das Haus sah stillos, aber anständig aus. Viele der Menschen, die hier lebten, würden nie ausziehen und waren auf ganz fundamentale Weise auf ihre Wohngegend, die so häufig Missfallen fand, stolz.

„Möchtest du es besichtigen?“

Er nickte und meine Freundin ging voran. Sie besaß noch ihren Schlüssel und in gewisser Weise war sie es, um die sich das Geschäft drehte, also übernahm sie die Führung. Er hielt sich zwischen meiner Freundin und mir. Als sich im Mezzanin unsere Blicke kreuzten, überkam mich eine solche Abscheu, dass ich sofort wegsah. Ich achtete darauf, an seiner Seite zu gehen, sodass weiterer Blickkontakt unwahrscheinlich war, und redete fast ununterbrochen. Ich zählte die Vorzüge der Wohnung auf, pries die Zug- und Straßenbahnverbindungen, die Nähe zum Zentrum und den verschiedenen Universitäten. Er nahm meinen Wortschwall schweigend zur Kenntnis. Im zu hellen Stiegenhaus klackten die Absätze seiner ungeputzten Stiefel wie zur Untermalung meiner nervösen Schwärmerei.

Meine Freundin sperrte die Tür auf. Wir traten hinter ihr in den Vorraum und die plötzliche Enge erzeugte in mir ein schweißtreibendes Unbehagen.

„Wie im Inserat beschrieben“, sagte meine Freundin und deutete nach rechts auf eine weiß angestrichene Tür. Er betrat das Zimmer, während wir uns höflich zurückhielten. Wieder fing ich den Blick meiner Freundin auf, sah die Andeutung eines Kopfschüttelns. Doch ihr Auszug hatte einen Keil in unsere Freundschaft getrieben. Sie befand sich auf dem Weg in die Häuslichkeit, ich blieb als einsame conquistadora zurück, die Wohnung mein Schiff, das mich über die Weltmeere trieb. Ich brach unseren Blickkontakt ab und betrat hinter ihm sein zukünftiges Zimmer.

Sein Blick hing an einem Schrank, das einzige Möbelstück, das meine Freundin bei ihrem Auszug zurückgelassen hatte. Auf seine Frage antwortete sie mit kalter Großzügigkeit, dass er ihn haben konnte. Nur ich, die ich meine Freundin besser kannte, spürte ihre Erleichterung. Sie hatte für den Schrank keine Verwendung mehr und hatte gehofft, ihn dem nächsten Mieter überlassen zu können.

Es waren unmögliche Momente, zu dritt in unserer kleinen Wohnung, im verlassenen Raum stehend. Ich betrachtete meine Freundin, die mit einer gespielt einladenden Geste die Tür zur Küche öffnete, und hasste sie mit einer Klarheit, die mir Angst machte.

Die Küche, wie das Zimmer, das es zu vermieten galt, gingen auf die Straße hinaus. Badezimmer und Toilette – eng, dunkel, aufs Notwendigste beschränkt – gingen vom Vorraum ab. Nur mein Zimmer, Schwan unter Enten, hatte Blick auf den Innenhof, der wie alles hier grau, kahl und unansehnlich war, dafür aber die Stille eines Fegefeuers verströmte.

Es ließ sich nicht länger hinauszögern, brachte auch nichts. Ich schloss für einen Augenblick die Augen, während auf der Straße die üblichen Verkehrsgeräusche ertönten. Ein Auto hupte und eine Straßenbahn bimmelte. Das Schiff trieb mich vielleicht ans Ende der Welt, brachte mich möglicherweise zu einem Abgrund, von dem es kein Zurück gab, doch es galt, neue Kontinente zu erforschen, ungeahnte Reichtümer zu entdecken. Eine conquistadora brauchte vor allen Dingen Mut. Mut war das Wichtigste, das Einzige, das zählte, und es wurde mir klar, dass er meiner Freundin fehlte. Mein Hass schlug in Verachtung um, ich öffnete die Augen, ließ Küche und den Argwohn meiner Freundin hinter mir, und zwang mich, meinem neuen Zimmernachbarn voll ins Gesicht zu sehen: „Ich kann den Liftschlüssel besorgen, falls du schwere Möbel hast.“

Er ließ mich wissen, dass das nicht nötig sei. Das einzig Schwere sei der Schrank, und der stand ja schon im Zimmer. Seine Augen, von denen ich später nicht sagen konnte, welche Farbe sie waren, trafen sich mit meinen. Ich musste meinen Blick sofort abwenden. Er hatte eine auf abstoßende Art verführerische Präsenz. Ich rettete mich auf die andere Seite des Vorraums, betrachtete den umständlichen Abschied meiner Freundin, der von schlechtem Gewissen zeugte, mit der gleichen Ungeduld, mit der man in die Hölle fuhr. Mein Schicksal kam mir besiegelt vor, nun sollte es endlich beginnen.

Gleich nachdem die Tür hinter meiner Freundin ins Schloss gefallen war, überkam mich ein Schauder. Ich hatte – aus Wut, aus Hass, einem selbstzerstörerischen Trieb folgend – mein eigenes Grab geschaufelt, jetzt musste ich mich hineinlegen. Ich bereute alles und wäre am liebsten zu meiner Freundin ins Stiegenhaus geflüchtet, doch mein Stolz hielt mich zurück.

Der Typ begab sich, ohne mich eines Blickes zu würdigen, in das Zimmer, das jetzt ihm gehörte, und schloss hinter sich die Tür. Ich blieb einen Augenblick ratlos im Vorraum stehen: mein Herz raste, mein Atem ging schnell und flach, mir standen die Haare zu Berg. Die unangenehme Präsenz meines neuen Zimmernachbarn stieg wie die feuchte Novemberkälte vom grässlichen Linoleumboden auf, kroch unter dem Spalt hervor, sickerte durch das Holz der Tür. Ein absurder Drang wollte mich dazu bewegen, die Hand auf seine Zimmertür zu legen. Stattdessen rettete ich mich in mein eigenes Zimmer und schloss die Tür fest hinter mir. Nach einem Augenblick des Überlegens drehte ich den klobigen Metallschlüssel, den ich noch nie verwendet hatte, im Schloss um. Erst nachdem ich den Türgriff überprüft hatte und mit dem Ergebnis zufrieden war – eingeschlossen, abgesichert – durchquerte ich mein Zimmer und ließ mich vor dem Schreibtisch in einen Stuhl sinken. Durch die Wand, die mein Zimmer von dem meines Zimmernachbarn trennte, hörte ich das Klacken seiner Stiefel, die von Wand zu Fenster schritten, ein paar Augenblicke am Fenster verweilten, dann den Rückweg zur Wand antraten. Ich konnte das Quietschen der Schranktür hören, die Scharniere müssten geölt werden, das metallische Klappern, mit dem Kleiderbügel aneinanderstießen – meine Freundin musste sie im Schrank vergessen haben oder vielleicht wollte sie sie auch nicht mehr – dann erklang ein so heftiges Poltern aus dem Schrankboden, dass ich vor Schreck zusammenfuhr. Mit fahrigen Händen öffnete ich wahllos das erste Buch, das vor mir lag, doch meine Ohren lauschten auf weitere Geräusche von jenseits der Wand.

Doch im Zimmer meines Nachbarn war es still geworden: kein Knarzen von Holz, kein Klappern, nichts. Eine Stimme in meinem Kopf sagte: „Du hast kein zweites Quietschen der Scharniere gehört. Der Schrank muss also noch offenstehen.“ Doch was tat er im Schrank? Er hing nichts darin auf, denn die Kleiderbügel wurden nicht beiseitegeschoben oder von der Stange geholt. Es waren auch keine Stiefelschritte zu hören, kein Verharren vor dem Fenster.

Das Buch vor mir aufgeschlagen, meine Nerven völlig durcheinandergeraten, kreisten meine Gedanken nur um eine Frage: Was tat er in dem Zimmer, vor dem geöffneten Schrank?

Später, der kurze Nachmittag war von der sich ausbreitenden Dunkelheit verschluckt worden, das Buch lag noch an der gleichen Stelle aufgeschlagen und ich war in eine Art Dämmerzustand verfallen, schreckte mich das Quietschen der Scharniere und das Geräusch seiner Stiefel hoch. Er bewegte sich vom Schrank weg und auf die Tür zu. In Windeseile schnellte ich von meinem Stuhl und lief auf Zehenspitzen zu meiner Zimmertür. Das Ohr ans kalte Holz gepresst, meine Augen auf die Wand gerichtet, als wäre ich in der Lage, durch sie hindurchzusehen, verfolgte ich die Geräusche meines Zimmernachbarn: Er öffnete die Tür, betrat den engen Vorraum, verließ die Wohnung. Ich stieß den Atem, den ich angehalten hatte, aus und richtete mich vor Erleichterung zitternd auf. Doch bevor ich Gelegenheit hatte, mich für mein kindisches Benehmen zu schämen, kam mir ein neuer Gedanke: Wie sollte ich, wenn ich selbst meine Wohnung verließ, bei meiner Rückkehr wissen, ob mein Zimmernachbar zuhause war oder nicht? Eine solche mögliche Unkenntnis flößte mir neues Grauen ein. Es wurde mir klar, dass mein einziger Schutz die Gewissheit über seinen jeweiligen Standort war. Die Möglichkeit, ihm unvorbereitet im Vorraum oder in der Küche zu begegnen – der Gedanke, er könne, während ich mich auf der Toilette oder im Badezimmer befand, die Wohnung betreten – füllte mich mit übermächtigem Gräuel. Es war schlichtweg keine Möglichkeit, mit der ich leben konnte.

Ich eilte mit hastigen Schritten aus dem Zimmer, suchte unter den spärlichen Putzutensilien jenen Eimer, der mir am geeignetsten erschien, versorgte mich mit Proviant, Wasser und den notwendigsten Hygieneartikeln, und brachte meinen Vorrat in mein Zimmer zurück. Noch bevor ich alles verstaut hatte, schloss ich die Tür ab und überprüfte die Klinke. Erst dann ließ ich mich in mein Bett fallen. Erschöpft schlief ich ein.

Lautes Poltern ließ mich aufschrecken. In meinem Zimmer war es vollkommen dunkel. Desorientiert stellte ich die Uhrzeit fest: drei Uhr morgens. Das Poltern hörte nicht auf. In unregelmäßigen Abständen, einem Rhythmus folgend, den ich nicht entziffern konnte, dröhnten Geräusche aus meinem Nachbarszimmer, von genau der Stelle, an der der verlassene Schrank meiner Freundin stand.

Ich wagte es kaum zu atmen oder mich zu bewegen. Zitternd kauerte ich unter meiner Decke, meine Beine angezogen. Meine Hände umklammerten meine Knie, ich rollte mich noch stärker zusammen. Das Herz in meiner Brust drohte vor Angst zu zerspringen. Als das Klopfen und Hämmern lauter wurde, ließ ich meine Knie los, um die Hände über die Ohren zu pressen. Meine Augen huschten durch mein dunkles Zimmer, blieben an der Wand hängen. Irgendwann hörte das Poltern ebenso schlagartig auf, wie es begonnen hatte.

Vielleicht war ich wieder eingenickt, vielleicht war ich einfach in einen Dämmerzustand verfallen. Als ich wieder zu mir kam, stellte ich fest, dass graues Licht durch die Spalten meines Vorhangs strömte. Ich sammelte den kläglichen Mut, den ich noch besaß, und schob meine Beine unter der Decke hervor. Bevor ich die Vorhänge öffnete, ging ich zur Tür, um die Klinke zu überprüfen. Auf halbem Weg von Tür zu Fenster ging das Poltern von nebenan wieder los. Der Schreck fuhr mir in die Glieder, ich blieb wie festgenagelt stehen. Alle meine Sinne waren auf sein Zimmer gerichtet. Was tat er? Die Geräusche kamen wie zuvor aus dem Schrank. Nahm er ihn auseinander, zerlegte er ihn in seine Einzelteile? Wie zur Antwort ertönte das Quietschen der Scharniere, als er die Schranktür schloss.

Unschlüssig blieb ich mitten im Raum stehen. Jenseits der Wand schien es mein Zimmernachbar mir gleichzutun. Es waren weder die Absätze seiner Stiefel noch das Knarzen der Bodenbretter zu hören. Wieder verging eine unbestimmte Zeit. Das nächste Geräusch, das mich aus meiner Erstarrung riss, war seine Zimmertür. Er machte sie ohne großen Lärm auf und ließ sie hinter sich ins Schloss fallen, doch für meine überempfindlichen Sinne glich es einem Kanonenschuss. Sofort riss ich die Vorhänge auf, trank gierig von dem Wasser, das ich ins Zimmer gebracht hatte, aß mit zitternden Händen einige Löffel Marmelade, und verrichtete in dem zu diesem Zweck in die Zimmerecke gestellten Eimer meine Notdurft. Mein Blick glitt über den dürftigen Proviant, den ich am Vortag aus der Küche geholt hatte: zwei halbvolle Marmeladegläser, ein paar Äpfel, ein Glas Honig. Ich aß selten zuhause, kochte fast nie – meine Vorräte würden nicht lange anhalten.

Ich beschloss, Essen aus dem Gasthaus an der Ecke zu bestellen, von dem meine Freundin und ich manchmal Bier geholt hatten, doch bevor es geliefert wurde, kehrte mein Zimmernachbar in die Wohnung zurück. Er schloss die Eingangstür mit einem Klick, der mir in den Ohren hallte, verharrte im Vorraum und betrat dann sein Zimmer. Wenig später klopfte es an die Wohnungstür: das Lieferservice des Gasthauses, das mit meiner Bestellung vor der Tür auf Bezahlung wartete. Ich hielt den Atem an. Im Zimmer nebenan verstummten alle Geräusche. Wie ich schien mein Zimmernachbar darauf zu warten, dass der Besucher wieder verschwand.

Mein Magen zog sich vor Hunger schmerzhaft zusammen, doch es erschien mir vollkommen unmöglich, das Zimmer zu verlassen und die Bestellung entgegenzunehmen. Ein nun schon vertrautes Gefühl der Lähmung überfiel mich und ich verharrte bewegungslos auf meinem Bett sitzend. Irgendwann erlosch das Klopfen, Schritte ertönten aus dem Stiegenhaus, meine Bestellung wurde ins Gasthaus zurückgebracht. Im Zimmer nebenan klackten die Stiefel meines Zimmernachbarn, er konnte mit seinem Tun fortfahren. Um das nagende Hungergefühl zu besänftigen, rollte ich mich zu einem engen Ball und zog die Bettdecke fest um meine Schultern. Ich schlief ein.

Die Tage verstrichen, mein Dämmerzustand vertiefte sich. Die Geräusche meines Zimmernachbarn bestimmten meinen Rhythmus. Sein Klopfen beherrschte mein Wachen, seine Stille begleitete meinen Schlaf. Der Schrank wurde für uns beide zur Drehscheibe unseres Daseins: Für meinen Zimmernachbarn war er das Zentrum seiner geheimnisvollen Tätigkeit, für mich Ursprung meines Gräuels.

Ich verließ mein Zimmer nur, wenn ich die Wohnungstür hinter meinem Zimmernachbarn ins Schloss fallen hörte. Dann versetzte es mich in einen fieberhaften Zustand. Ich stürzte wie ein Raubtier über das, was ich in der Küche fand: in Schrankritzen festsitzende Reiskörner, trockene Haferflocken, eine vergessene Dose Tomaten. Die Vorräte wurden geringer, dann versickerten sie ganz.

Ich begann zu zittern, obwohl die Heizung auf höchster Stufe eingestellt war. Ich verkroch mich in meinem Bett. Ich saugte an Knöpfen, die ich von Blusen riss, kaute am Leder eines Gürtels. In meinem Magen wütete ein Feuer, das sich manchmal beruhigen ließ, manchmal nicht.

Es war ein kalter Morgen Anfang Januar, als mir klar wurde, dass mein Schiff angekommen war: Von dieser Reise gab es keine Rückkehr, keine eroberten Reichtümer und Schätze. Hier sollte ich verenden. Der Gedanke kam als Erleichterung. Er ließ die ungeheure Nähe meines Zimmernachbarn fast erträglich erscheinen. Meine Augen suchten ihr Gegenüber im Spiegel, der mich an eine eitlere, fröhlichere Zeit erinnerte. Ich konnte die Gestalt nicht erkennen, die mir daraus entgegenblickte: ihr ausgezehrtes Gesicht, ihre furchtsamen Augen – ein Hase, der sich vorm Fuchs versteckte. Wo war der Mut der conquistadora, wo ihr Spaß an der Jagd, ihr Stolz?

Meine Hand drehte den Schlüssel im Schloss und drückte die Klinke hinunter. Meine Schritte waren langsam, feierlich: eine Zeremonie, die mich zu meinem Ende führte. Meine Hand auf seiner Tür glich einer Liebkosung. Meine Finger strichen übers Holz, schlossen sich um den kalten Stahl. Ich betrat sein Zimmer mit Ehrfurcht.

Wie lange war ich im Raum gestanden, bevor ich merkte, dass er verlassen war? Meine Augen huschten durchs Zimmer. Die Vorhänge waren geschlossen, es lag ein animalischer Geruch in der Luft. Hohe, klägliche Geräusche hallten von den Wänden. Erst später wurde mir bewusst, dass ich es war, die diese Töne ausstieß. Ich trat zum Schrank, öffnete die Tür. Halb erwartete ich, dass mein Zimmernachbar am Schrankboden kauerte und mich anspringen würde. Doch statt einer menschlichen Gestalt fand ich nichts anderes als einen großen, unbedeckten Metalltopf. Vor Hunger und Unbehagen beinahe ohnmächtig gewann meine Neugierde überhand. Ich beugte mich vor, lugte hinein: eine klebrige, dickflüssige, dunkle Masse, die nach nichts roch und mich auf perverse Weise anzog. Ich tunkte einen Finger in den Topf und steckte ihn in den Mund. Gierig lutschte ich daran, tippte ihn wiederholt in den Brei, bevor mich die Erkenntnis dessen, was ich machte, überrollte. Ich sprang vom Schrankboden auf, riss die Wohnungstür auf, stürmte die Treppe hinunter und stolperte in den verschneiten, frostbedeckten Innenhof. Gierig sog ich die kalte Luft in meine Lungen. Zeit verstrich, ein Bewohner aus dem Erdgeschoss fand mich und führte mich in seine warme Wohnung, gab mir zu essen. Auf seine Fragen schüttelte ich beharrlich den Kopf. Meine Wohnung gab ich noch am selben Tag auf und betrat sie nie wieder.

Was nach meiner überhasteten Flucht aus Topf oder Schrank wurde, weiß ich nicht, obwohl mich die Gedanken daran noch jahrelang aus dem Schlaf rissen. Erst später, als die Anforderungen der Gegenwart und die Pläne für die Zukunft den Schatten der Vergangenheit vertrieben, verblassten meine Erinnerungen, bis sie mir lachhaft erschienen: Nie war mir jemand so nahegekommen wie mein Zimmernachbar, und nun wusste ich nicht einmal mehr, ob es ihn jemals überhaupt gegeben hatte.

 

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Kerstin Kugler

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freiTEXT | Mario Schemmerl

Sehen

Draußen herrscht bestes Spiegelwetter. Entlang des Fugengummis taut Nachtschweiß vor sich hin. Zwei Männer absolvieren die letzten Schritte ihrer morgendlichen Gartenrunde. Vor wenigen Minuten flanierten sie an jener Frau vorüber, die wie gewöhnlich auf der Ablegefläche ihres Rollators sitzend, mehr über die Seerosen sah als in das Wasser hinein. Einer der Männer ist ein Greis, der jüngere befindet sich im Enkelsalter. Wie ihnen das ungleiche Paar aus der Spiegelung der Terassentür näher kommt, blickt der alte Mann im Kreuz. Unterdessen verläuft im Hintergrund das Wetter, die Wiese und der Asphaltweg zu einem Aquarell.

Leicht nervös, aber nicht unbehaglich nervös, gesellt sich eine zweite Welt zu ihnen. Herr Adam kann sich sein Lachen nicht verkneifen, als er sagt: „Du bist alt“. Von Gesicht zu Gesicht, gleich einem Stein über Wasser, gleitet sein Blick über die Spiegelfläche. Augenblicklich fühlt Herr Adam wie es ist nach dem tauglichsten Stein zu suchen. Horcht in das Knirschen hinein, das es beim Wühlen nach einem würdigen Wurfgeschoß macht. Für einen Moment gelingt es ihm, die Knabengefühle zu halten. Der Name des Sees bleibt ein Geist, aber den schwingenden Wurf empfindet er vom Becken bis zum Zeigefinger. Ein paar beruhigende Sprünge bleibt der Stein über Wasser.

Mit der empörenden Botschaft, er, Herr Adam, sei der alte Mann, trifft ihn ein entsetzlicher Schlag. Er starrt auf die direkt vor ihm stehenden Person, die er noch nie zuvor gesehen hat. Der weißhaarige Greis ist ein Unbekannter, ein zwischen den Spiegeln Geborener. Kurz flammt eine ihm die Wangen errötende Wut auf. Doch auch sie zerbröckelt und geht im Vergessen unter. Seine Gegenwart schirmt sich in einem ihm bleibenden Kern ab und legt die Orientierung in Trümmer. Um Selbstsicherheit bemüht, hebt er sein Kinn. Instinktiv hantelt er mit der abrupten Anmeldung von Gebrechlichkeit nach Halt und findet eine junge Hand. Die Beziehung zu diesem Burschen kann er nicht zuordnen, doch die Gewissheit, die nächsten Schritte nicht alleine suchen zu müssen, erleichtert die Lage.

Die Spiegelung zeigt ein heilloses Durcheinander. Schnaufend reißt er die Augen auf. Die Erinnerung an den Spaziergang treiben wie Wellen, die ein hüpfender Stein hinterließ, auseinander. Herr Adam drückt an die Scheibe und verliert sich in der Maske des Unbekannten. Mit verblüffender Geschwindigkeit, wie die Fingertapser, die die Reinigungsdame mit Fensterputzmittel verschwinden lassen wird, verschwindet auch Herr Adam immer mehr aus dem Garten. Verlustig geworden, fährt er sich über das Gesicht bis ins schüttere Haar hinauf. Auf der anderen Seite der Tür offenbart sich ihm ein bekannt anmutender Fleck. Jemand stellt einen Saft, blasser als seine Wangen, auf den Tisch ab. Rückt einen Sessel hinaus und deutet darauf. Der junge Mann führt ihn bis zu diesem Platz. Herr Adam beginnt sich zu setzen.

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Mario Schemmerl

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