Der Schrank

Meine Freundin und ich hatten das Jahr damit vergeudet, unseren Spaß zu haben. Wir tranken und rauchten bis in die tiefe Nacht, schafften es morgens mit Mühe aus dem Bett, strichen alle Seminare, die vor elf Uhr liefen, blieben in Bars hängen, bis man uns zur Sperrstunde rausschmiss, und schlossen Wetten ab, wer mehr Erfolg bei den Männern hatte. Ich sah uns als conquistadores, Sex war unsere Waffe, keine Intimität, die den anderen näherbrachte. Wir waren beide liiert, sie ernsthafter als ich, und Anfang des Wintersemesters zog sie, für mich völlig unerwartet, zu ihrem Freund.

Unsere Wohnung lag am Matzleinsdorferplatz, einer trostlosen Gegend, die die kühle Oktobersonne nicht verschönte. Die Aussichten, jemanden für ihr Zimmer zu finden, standen mit jedem Tag, der uns dem Winter näherbrachte, schlechter. Drei Termine zur Wohnungsbesichtigung verstrichen, ohne dass sich ein Interessent finden ließ.

Am vierten Termin, meine Freundin war schon ausgezogen, trafen wir uns an der Straßenbahnhaltestelle. Ein junger Mann wartete am Bordstein sitzend unter einer hohen Plakatwand, auf der ein Paar mit glänzenden Augen die Weihnachtsangebote in einer Geschäftsstraße bewunderte. Seine einzelnen Merkmale waren in ausreichendem Maß präsentabel – ein leicht ungepflegtes Äußeres, das zu einem Studenten passte, der sich etwas gehen ließ – aber in seiner Gesamtheit sah er verkommen aus.

Als er uns näherkommen sah, richtete er sich auf, um uns zu begrüßen. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass meine Freundin ebenso vor einer Berührung zurückschreckte wie ich. Wie drei Touristen in einer Führung hielten wir Abstand, als wir zur Straßenecke gingen, wo das Wohnhaus stand.

„Dein Zimmer geht auf die Straße“, sagte ich und zeigte auf ein geschlossenes Fenster im ersten Stock.

Meine Freundin sah mich schief an. Sie nannte den Preis, ihre Stimme klang verächtlich. Sie schien sicher, dass er sich die Miete nicht leisten konnte, doch er nickte, alle Kosten waren im Inserat aufgelistet gewesen.

Das Haus sah stillos, aber anständig aus. Viele der Menschen, die hier lebten, würden nie ausziehen und waren auf ganz fundamentale Weise auf ihre Wohngegend, die so häufig Missfallen fand, stolz.

„Möchtest du es besichtigen?“

Er nickte und meine Freundin ging voran. Sie besaß noch ihren Schlüssel und in gewisser Weise war sie es, um die sich das Geschäft drehte, also übernahm sie die Führung. Er hielt sich zwischen meiner Freundin und mir. Als sich im Mezzanin unsere Blicke kreuzten, überkam mich eine solche Abscheu, dass ich sofort wegsah. Ich achtete darauf, an seiner Seite zu gehen, sodass weiterer Blickkontakt unwahrscheinlich war, und redete fast ununterbrochen. Ich zählte die Vorzüge der Wohnung auf, pries die Zug- und Straßenbahnverbindungen, die Nähe zum Zentrum und den verschiedenen Universitäten. Er nahm meinen Wortschwall schweigend zur Kenntnis. Im zu hellen Stiegenhaus klackten die Absätze seiner ungeputzten Stiefel wie zur Untermalung meiner nervösen Schwärmerei.

Meine Freundin sperrte die Tür auf. Wir traten hinter ihr in den Vorraum und die plötzliche Enge erzeugte in mir ein schweißtreibendes Unbehagen.

„Wie im Inserat beschrieben“, sagte meine Freundin und deutete nach rechts auf eine weiß angestrichene Tür. Er betrat das Zimmer, während wir uns höflich zurückhielten. Wieder fing ich den Blick meiner Freundin auf, sah die Andeutung eines Kopfschüttelns. Doch ihr Auszug hatte einen Keil in unsere Freundschaft getrieben. Sie befand sich auf dem Weg in die Häuslichkeit, ich blieb als einsame conquistadora zurück, die Wohnung mein Schiff, das mich über die Weltmeere trieb. Ich brach unseren Blickkontakt ab und betrat hinter ihm sein zukünftiges Zimmer.

Sein Blick hing an einem Schrank, das einzige Möbelstück, das meine Freundin bei ihrem Auszug zurückgelassen hatte. Auf seine Frage antwortete sie mit kalter Großzügigkeit, dass er ihn haben konnte. Nur ich, die ich meine Freundin besser kannte, spürte ihre Erleichterung. Sie hatte für den Schrank keine Verwendung mehr und hatte gehofft, ihn dem nächsten Mieter überlassen zu können.

Es waren unmögliche Momente, zu dritt in unserer kleinen Wohnung, im verlassenen Raum stehend. Ich betrachtete meine Freundin, die mit einer gespielt einladenden Geste die Tür zur Küche öffnete, und hasste sie mit einer Klarheit, die mir Angst machte.

Die Küche, wie das Zimmer, das es zu vermieten galt, gingen auf die Straße hinaus. Badezimmer und Toilette – eng, dunkel, aufs Notwendigste beschränkt – gingen vom Vorraum ab. Nur mein Zimmer, Schwan unter Enten, hatte Blick auf den Innenhof, der wie alles hier grau, kahl und unansehnlich war, dafür aber die Stille eines Fegefeuers verströmte.

Es ließ sich nicht länger hinauszögern, brachte auch nichts. Ich schloss für einen Augenblick die Augen, während auf der Straße die üblichen Verkehrsgeräusche ertönten. Ein Auto hupte und eine Straßenbahn bimmelte. Das Schiff trieb mich vielleicht ans Ende der Welt, brachte mich möglicherweise zu einem Abgrund, von dem es kein Zurück gab, doch es galt, neue Kontinente zu erforschen, ungeahnte Reichtümer zu entdecken. Eine conquistadora brauchte vor allen Dingen Mut. Mut war das Wichtigste, das Einzige, das zählte, und es wurde mir klar, dass er meiner Freundin fehlte. Mein Hass schlug in Verachtung um, ich öffnete die Augen, ließ Küche und den Argwohn meiner Freundin hinter mir, und zwang mich, meinem neuen Zimmernachbarn voll ins Gesicht zu sehen: „Ich kann den Liftschlüssel besorgen, falls du schwere Möbel hast.“

Er ließ mich wissen, dass das nicht nötig sei. Das einzig Schwere sei der Schrank, und der stand ja schon im Zimmer. Seine Augen, von denen ich später nicht sagen konnte, welche Farbe sie waren, trafen sich mit meinen. Ich musste meinen Blick sofort abwenden. Er hatte eine auf abstoßende Art verführerische Präsenz. Ich rettete mich auf die andere Seite des Vorraums, betrachtete den umständlichen Abschied meiner Freundin, der von schlechtem Gewissen zeugte, mit der gleichen Ungeduld, mit der man in die Hölle fuhr. Mein Schicksal kam mir besiegelt vor, nun sollte es endlich beginnen.

Gleich nachdem die Tür hinter meiner Freundin ins Schloss gefallen war, überkam mich ein Schauder. Ich hatte – aus Wut, aus Hass, einem selbstzerstörerischen Trieb folgend – mein eigenes Grab geschaufelt, jetzt musste ich mich hineinlegen. Ich bereute alles und wäre am liebsten zu meiner Freundin ins Stiegenhaus geflüchtet, doch mein Stolz hielt mich zurück.

Der Typ begab sich, ohne mich eines Blickes zu würdigen, in das Zimmer, das jetzt ihm gehörte, und schloss hinter sich die Tür. Ich blieb einen Augenblick ratlos im Vorraum stehen: mein Herz raste, mein Atem ging schnell und flach, mir standen die Haare zu Berg. Die unangenehme Präsenz meines neuen Zimmernachbarn stieg wie die feuchte Novemberkälte vom grässlichen Linoleumboden auf, kroch unter dem Spalt hervor, sickerte durch das Holz der Tür. Ein absurder Drang wollte mich dazu bewegen, die Hand auf seine Zimmertür zu legen. Stattdessen rettete ich mich in mein eigenes Zimmer und schloss die Tür fest hinter mir. Nach einem Augenblick des Überlegens drehte ich den klobigen Metallschlüssel, den ich noch nie verwendet hatte, im Schloss um. Erst nachdem ich den Türgriff überprüft hatte und mit dem Ergebnis zufrieden war – eingeschlossen, abgesichert – durchquerte ich mein Zimmer und ließ mich vor dem Schreibtisch in einen Stuhl sinken. Durch die Wand, die mein Zimmer von dem meines Zimmernachbarn trennte, hörte ich das Klacken seiner Stiefel, die von Wand zu Fenster schritten, ein paar Augenblicke am Fenster verweilten, dann den Rückweg zur Wand antraten. Ich konnte das Quietschen der Schranktür hören, die Scharniere müssten geölt werden, das metallische Klappern, mit dem Kleiderbügel aneinanderstießen – meine Freundin musste sie im Schrank vergessen haben oder vielleicht wollte sie sie auch nicht mehr – dann erklang ein so heftiges Poltern aus dem Schrankboden, dass ich vor Schreck zusammenfuhr. Mit fahrigen Händen öffnete ich wahllos das erste Buch, das vor mir lag, doch meine Ohren lauschten auf weitere Geräusche von jenseits der Wand.

Doch im Zimmer meines Nachbarn war es still geworden: kein Knarzen von Holz, kein Klappern, nichts. Eine Stimme in meinem Kopf sagte: „Du hast kein zweites Quietschen der Scharniere gehört. Der Schrank muss also noch offenstehen.“ Doch was tat er im Schrank? Er hing nichts darin auf, denn die Kleiderbügel wurden nicht beiseitegeschoben oder von der Stange geholt. Es waren auch keine Stiefelschritte zu hören, kein Verharren vor dem Fenster.

Das Buch vor mir aufgeschlagen, meine Nerven völlig durcheinandergeraten, kreisten meine Gedanken nur um eine Frage: Was tat er in dem Zimmer, vor dem geöffneten Schrank?

Später, der kurze Nachmittag war von der sich ausbreitenden Dunkelheit verschluckt worden, das Buch lag noch an der gleichen Stelle aufgeschlagen und ich war in eine Art Dämmerzustand verfallen, schreckte mich das Quietschen der Scharniere und das Geräusch seiner Stiefel hoch. Er bewegte sich vom Schrank weg und auf die Tür zu. In Windeseile schnellte ich von meinem Stuhl und lief auf Zehenspitzen zu meiner Zimmertür. Das Ohr ans kalte Holz gepresst, meine Augen auf die Wand gerichtet, als wäre ich in der Lage, durch sie hindurchzusehen, verfolgte ich die Geräusche meines Zimmernachbarn: Er öffnete die Tür, betrat den engen Vorraum, verließ die Wohnung. Ich stieß den Atem, den ich angehalten hatte, aus und richtete mich vor Erleichterung zitternd auf. Doch bevor ich Gelegenheit hatte, mich für mein kindisches Benehmen zu schämen, kam mir ein neuer Gedanke: Wie sollte ich, wenn ich selbst meine Wohnung verließ, bei meiner Rückkehr wissen, ob mein Zimmernachbar zuhause war oder nicht? Eine solche mögliche Unkenntnis flößte mir neues Grauen ein. Es wurde mir klar, dass mein einziger Schutz die Gewissheit über seinen jeweiligen Standort war. Die Möglichkeit, ihm unvorbereitet im Vorraum oder in der Küche zu begegnen – der Gedanke, er könne, während ich mich auf der Toilette oder im Badezimmer befand, die Wohnung betreten – füllte mich mit übermächtigem Gräuel. Es war schlichtweg keine Möglichkeit, mit der ich leben konnte.

Ich eilte mit hastigen Schritten aus dem Zimmer, suchte unter den spärlichen Putzutensilien jenen Eimer, der mir am geeignetsten erschien, versorgte mich mit Proviant, Wasser und den notwendigsten Hygieneartikeln, und brachte meinen Vorrat in mein Zimmer zurück. Noch bevor ich alles verstaut hatte, schloss ich die Tür ab und überprüfte die Klinke. Erst dann ließ ich mich in mein Bett fallen. Erschöpft schlief ich ein.

Lautes Poltern ließ mich aufschrecken. In meinem Zimmer war es vollkommen dunkel. Desorientiert stellte ich die Uhrzeit fest: drei Uhr morgens. Das Poltern hörte nicht auf. In unregelmäßigen Abständen, einem Rhythmus folgend, den ich nicht entziffern konnte, dröhnten Geräusche aus meinem Nachbarszimmer, von genau der Stelle, an der der verlassene Schrank meiner Freundin stand.

Ich wagte es kaum zu atmen oder mich zu bewegen. Zitternd kauerte ich unter meiner Decke, meine Beine angezogen. Meine Hände umklammerten meine Knie, ich rollte mich noch stärker zusammen. Das Herz in meiner Brust drohte vor Angst zu zerspringen. Als das Klopfen und Hämmern lauter wurde, ließ ich meine Knie los, um die Hände über die Ohren zu pressen. Meine Augen huschten durch mein dunkles Zimmer, blieben an der Wand hängen. Irgendwann hörte das Poltern ebenso schlagartig auf, wie es begonnen hatte.

Vielleicht war ich wieder eingenickt, vielleicht war ich einfach in einen Dämmerzustand verfallen. Als ich wieder zu mir kam, stellte ich fest, dass graues Licht durch die Spalten meines Vorhangs strömte. Ich sammelte den kläglichen Mut, den ich noch besaß, und schob meine Beine unter der Decke hervor. Bevor ich die Vorhänge öffnete, ging ich zur Tür, um die Klinke zu überprüfen. Auf halbem Weg von Tür zu Fenster ging das Poltern von nebenan wieder los. Der Schreck fuhr mir in die Glieder, ich blieb wie festgenagelt stehen. Alle meine Sinne waren auf sein Zimmer gerichtet. Was tat er? Die Geräusche kamen wie zuvor aus dem Schrank. Nahm er ihn auseinander, zerlegte er ihn in seine Einzelteile? Wie zur Antwort ertönte das Quietschen der Scharniere, als er die Schranktür schloss.

Unschlüssig blieb ich mitten im Raum stehen. Jenseits der Wand schien es mein Zimmernachbar mir gleichzutun. Es waren weder die Absätze seiner Stiefel noch das Knarzen der Bodenbretter zu hören. Wieder verging eine unbestimmte Zeit. Das nächste Geräusch, das mich aus meiner Erstarrung riss, war seine Zimmertür. Er machte sie ohne großen Lärm auf und ließ sie hinter sich ins Schloss fallen, doch für meine überempfindlichen Sinne glich es einem Kanonenschuss. Sofort riss ich die Vorhänge auf, trank gierig von dem Wasser, das ich ins Zimmer gebracht hatte, aß mit zitternden Händen einige Löffel Marmelade, und verrichtete in dem zu diesem Zweck in die Zimmerecke gestellten Eimer meine Notdurft. Mein Blick glitt über den dürftigen Proviant, den ich am Vortag aus der Küche geholt hatte: zwei halbvolle Marmeladegläser, ein paar Äpfel, ein Glas Honig. Ich aß selten zuhause, kochte fast nie – meine Vorräte würden nicht lange anhalten.

Ich beschloss, Essen aus dem Gasthaus an der Ecke zu bestellen, von dem meine Freundin und ich manchmal Bier geholt hatten, doch bevor es geliefert wurde, kehrte mein Zimmernachbar in die Wohnung zurück. Er schloss die Eingangstür mit einem Klick, der mir in den Ohren hallte, verharrte im Vorraum und betrat dann sein Zimmer. Wenig später klopfte es an die Wohnungstür: das Lieferservice des Gasthauses, das mit meiner Bestellung vor der Tür auf Bezahlung wartete. Ich hielt den Atem an. Im Zimmer nebenan verstummten alle Geräusche. Wie ich schien mein Zimmernachbar darauf zu warten, dass der Besucher wieder verschwand.

Mein Magen zog sich vor Hunger schmerzhaft zusammen, doch es erschien mir vollkommen unmöglich, das Zimmer zu verlassen und die Bestellung entgegenzunehmen. Ein nun schon vertrautes Gefühl der Lähmung überfiel mich und ich verharrte bewegungslos auf meinem Bett sitzend. Irgendwann erlosch das Klopfen, Schritte ertönten aus dem Stiegenhaus, meine Bestellung wurde ins Gasthaus zurückgebracht. Im Zimmer nebenan klackten die Stiefel meines Zimmernachbarn, er konnte mit seinem Tun fortfahren. Um das nagende Hungergefühl zu besänftigen, rollte ich mich zu einem engen Ball und zog die Bettdecke fest um meine Schultern. Ich schlief ein.

Die Tage verstrichen, mein Dämmerzustand vertiefte sich. Die Geräusche meines Zimmernachbarn bestimmten meinen Rhythmus. Sein Klopfen beherrschte mein Wachen, seine Stille begleitete meinen Schlaf. Der Schrank wurde für uns beide zur Drehscheibe unseres Daseins: Für meinen Zimmernachbarn war er das Zentrum seiner geheimnisvollen Tätigkeit, für mich Ursprung meines Gräuels.

Ich verließ mein Zimmer nur, wenn ich die Wohnungstür hinter meinem Zimmernachbarn ins Schloss fallen hörte. Dann versetzte es mich in einen fieberhaften Zustand. Ich stürzte wie ein Raubtier über das, was ich in der Küche fand: in Schrankritzen festsitzende Reiskörner, trockene Haferflocken, eine vergessene Dose Tomaten. Die Vorräte wurden geringer, dann versickerten sie ganz.

Ich begann zu zittern, obwohl die Heizung auf höchster Stufe eingestellt war. Ich verkroch mich in meinem Bett. Ich saugte an Knöpfen, die ich von Blusen riss, kaute am Leder eines Gürtels. In meinem Magen wütete ein Feuer, das sich manchmal beruhigen ließ, manchmal nicht.

Es war ein kalter Morgen Anfang Januar, als mir klar wurde, dass mein Schiff angekommen war: Von dieser Reise gab es keine Rückkehr, keine eroberten Reichtümer und Schätze. Hier sollte ich verenden. Der Gedanke kam als Erleichterung. Er ließ die ungeheure Nähe meines Zimmernachbarn fast erträglich erscheinen. Meine Augen suchten ihr Gegenüber im Spiegel, der mich an eine eitlere, fröhlichere Zeit erinnerte. Ich konnte die Gestalt nicht erkennen, die mir daraus entgegenblickte: ihr ausgezehrtes Gesicht, ihre furchtsamen Augen – ein Hase, der sich vorm Fuchs versteckte. Wo war der Mut der conquistadora, wo ihr Spaß an der Jagd, ihr Stolz?

Meine Hand drehte den Schlüssel im Schloss und drückte die Klinke hinunter. Meine Schritte waren langsam, feierlich: eine Zeremonie, die mich zu meinem Ende führte. Meine Hand auf seiner Tür glich einer Liebkosung. Meine Finger strichen übers Holz, schlossen sich um den kalten Stahl. Ich betrat sein Zimmer mit Ehrfurcht.

Wie lange war ich im Raum gestanden, bevor ich merkte, dass er verlassen war? Meine Augen huschten durchs Zimmer. Die Vorhänge waren geschlossen, es lag ein animalischer Geruch in der Luft. Hohe, klägliche Geräusche hallten von den Wänden. Erst später wurde mir bewusst, dass ich es war, die diese Töne ausstieß. Ich trat zum Schrank, öffnete die Tür. Halb erwartete ich, dass mein Zimmernachbar am Schrankboden kauerte und mich anspringen würde. Doch statt einer menschlichen Gestalt fand ich nichts anderes als einen großen, unbedeckten Metalltopf. Vor Hunger und Unbehagen beinahe ohnmächtig gewann meine Neugierde überhand. Ich beugte mich vor, lugte hinein: eine klebrige, dickflüssige, dunkle Masse, die nach nichts roch und mich auf perverse Weise anzog. Ich tunkte einen Finger in den Topf und steckte ihn in den Mund. Gierig lutschte ich daran, tippte ihn wiederholt in den Brei, bevor mich die Erkenntnis dessen, was ich machte, überrollte. Ich sprang vom Schrankboden auf, riss die Wohnungstür auf, stürmte die Treppe hinunter und stolperte in den verschneiten, frostbedeckten Innenhof. Gierig sog ich die kalte Luft in meine Lungen. Zeit verstrich, ein Bewohner aus dem Erdgeschoss fand mich und führte mich in seine warme Wohnung, gab mir zu essen. Auf seine Fragen schüttelte ich beharrlich den Kopf. Meine Wohnung gab ich noch am selben Tag auf und betrat sie nie wieder.

Was nach meiner überhasteten Flucht aus Topf oder Schrank wurde, weiß ich nicht, obwohl mich die Gedanken daran noch jahrelang aus dem Schlaf rissen. Erst später, als die Anforderungen der Gegenwart und die Pläne für die Zukunft den Schatten der Vergangenheit vertrieben, verblassten meine Erinnerungen, bis sie mir lachhaft erschienen: Nie war mir jemand so nahegekommen wie mein Zimmernachbar, und nun wusste ich nicht einmal mehr, ob es ihn jemals überhaupt gegeben hatte.

 

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Kerstin Kugler

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