Sehen

Draußen herrscht bestes Spiegelwetter. Entlang des Fugengummis taut Nachtschweiß vor sich hin. Zwei Männer absolvieren die letzten Schritte ihrer morgendlichen Gartenrunde. Vor wenigen Minuten flanierten sie an jener Frau vorüber, die wie gewöhnlich auf der Ablegefläche ihres Rollators sitzend, mehr über die Seerosen sah als in das Wasser hinein. Einer der Männer ist ein Greis, der jüngere befindet sich im Enkelsalter. Wie ihnen das ungleiche Paar aus der Spiegelung der Terassentür näher kommt, blickt der alte Mann im Kreuz. Unterdessen verläuft im Hintergrund das Wetter, die Wiese und der Asphaltweg zu einem Aquarell.

Leicht nervös, aber nicht unbehaglich nervös, gesellt sich eine zweite Welt zu ihnen. Herr Adam kann sich sein Lachen nicht verkneifen, als er sagt: „Du bist alt“. Von Gesicht zu Gesicht, gleich einem Stein über Wasser, gleitet sein Blick über die Spiegelfläche. Augenblicklich fühlt Herr Adam wie es ist nach dem tauglichsten Stein zu suchen. Horcht in das Knirschen hinein, das es beim Wühlen nach einem würdigen Wurfgeschoß macht. Für einen Moment gelingt es ihm, die Knabengefühle zu halten. Der Name des Sees bleibt ein Geist, aber den schwingenden Wurf empfindet er vom Becken bis zum Zeigefinger. Ein paar beruhigende Sprünge bleibt der Stein über Wasser.

Mit der empörenden Botschaft, er, Herr Adam, sei der alte Mann, trifft ihn ein entsetzlicher Schlag. Er starrt auf die direkt vor ihm stehenden Person, die er noch nie zuvor gesehen hat. Der weißhaarige Greis ist ein Unbekannter, ein zwischen den Spiegeln Geborener. Kurz flammt eine ihm die Wangen errötende Wut auf. Doch auch sie zerbröckelt und geht im Vergessen unter. Seine Gegenwart schirmt sich in einem ihm bleibenden Kern ab und legt die Orientierung in Trümmer. Um Selbstsicherheit bemüht, hebt er sein Kinn. Instinktiv hantelt er mit der abrupten Anmeldung von Gebrechlichkeit nach Halt und findet eine junge Hand. Die Beziehung zu diesem Burschen kann er nicht zuordnen, doch die Gewissheit, die nächsten Schritte nicht alleine suchen zu müssen, erleichtert die Lage.

Die Spiegelung zeigt ein heilloses Durcheinander. Schnaufend reißt er die Augen auf. Die Erinnerung an den Spaziergang treiben wie Wellen, die ein hüpfender Stein hinterließ, auseinander. Herr Adam drückt an die Scheibe und verliert sich in der Maske des Unbekannten. Mit verblüffender Geschwindigkeit, wie die Fingertapser, die die Reinigungsdame mit Fensterputzmittel verschwinden lassen wird, verschwindet auch Herr Adam immer mehr aus dem Garten. Verlustig geworden, fährt er sich über das Gesicht bis ins schüttere Haar hinauf. Auf der anderen Seite der Tür offenbart sich ihm ein bekannt anmutender Fleck. Jemand stellt einen Saft, blasser als seine Wangen, auf den Tisch ab. Rückt einen Sessel hinaus und deutet darauf. Der junge Mann führt ihn bis zu diesem Platz. Herr Adam beginnt sich zu setzen.

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Mario Schemmerl

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