freiVERS | Sigune Schnabel

Geordnete Rechtecke sind die Zimmer

Ich stutze Gedanken
auf die gesellschaftsübliche Länge.

Herumtreiber bin ich
gewesen, an Träume gelehnt
bei Dunkelheit.
Gierig gieße ich Nachtworte ein
bis zum Mond
und leere sie leise.

Ich nehme mich zurück.
Wem habe ich mich gegeben.
Nebenan höre ich es:
das gekachelte Leben.

 

Sigune Schnabel

 

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freiTEXT | Alice Grünfelder

Stadt am Meer

Zikaden
im Ohr, im Kopf, im Denken, als längst kein Wald mehr und kein Gesträuch, die Stadt schon hetzt, aber noch immer Zikaden im Ohr.

Wellen
donnern, rollen, schlagen ein auf das Meer, denn im

Sturm
zerrt schon an den Palmen auf der Promenade, schon wird vor ihm gewarnt, die Menschen hier bleiben gelassen, warten ab, denken, er geht vorüber, dieses Mal geht er uns nichts an.

Luft
darin der Geruch von Klärschlamm, dreht sich träge in runden Becken, zwischen Büschen und Mangroven eine Müllhalde mit Blick aufs Meer, ein blaues Förderband hängt schlaff zwischen Erde und Himmel, wo einst Fels aus den Bergen, Stein zu Kies zu Sand zerrieben wurde, aus einem Turm mit aufgemaltem Wal fallen Betonklötze, unter Planen kauern Menschen mit Gesichtern so grau wie ihre Mäntel, reichen sich Knöchelchen, Geißen ducken sich hinter Brettern vor der Hitze, dem Regen, auf einer asphaltierten Straße hoppelt eine hinunter zum Strand.

Schatten
kann nicht ohne Licht, entlarvt das Dunkel, das Helle.

Taifun
wird erklärt, eine Nachricht ploppt auf, eine Freundin warnt, die Angestellte im Gästehaus spricht bloß von Starkregen, noch ist alles ruhig.

Gedichte
übersetzen – bis der Regen kommt.

Warten
und Wolken nachsehen, ob sie nun langsam oder schneller ziehen, den Gewächsen auf Dächern, ob sie nun stärker schwanken als zuvor, die Fußgänger von oben betrachten, ob sie Regenschirme aufspannen, den Straßenbelag, ob er glitzert im Regen – warten auf den Taifun.

Löcher
sind die Fenster im Haus gegenüber am späten Nachmittag, Löcher so dunkel, als lebte kein Mensch darin, nur in den beiden oberen Etagen flackert ein Licht.

Küstenwachen
stehen in orangefarbenen Hosen, Schwimmwesten, mit Fernglas, Flaschen, Stöcken, Trillerpfeifen, Taschenlampen, seit Wochen schon, stehen da mit dem Rücken zum Meer, andere mit dem Rücken zur Stadt, in Erwartung jedenfalls, schauen, wie der Regen Nägel treibt ins Meer, ob der Sturm kommt oder was anderes, über den Fahrradwegen hängen Ketten, daran gelbe Wimpel mit Wörtern, nicht zu entziffern, so heftig flattern sie im Wind, die Wege hinunter zum Strand versperrt mit rot-weißen Plastikbändern, der Sturm, der Regen, angekündigt für den Nachmittag, kommt nicht, Stunden später nieselt es, als es düster ist und das Meer, der Wind sich beruhigt, fällt der Regen stärker, trommelt gegen das letzte Fenster im Haus, das noch nicht zerbrochen ist von den Regenstürmen zuvor, ein dunkelblaues Auto mit Warnlicht fährt langsam auf dem Damm hin und her, Regen stürzt nun aus Wolken, ein Bagger schaufelt einen schmalen Zugang frei, zugeweht vom Sand über Wochen, Monate, Jahre, damit das Wasser wieder zurückfließen kann ins Meer.

Spiegelung
eine TV-Reporterin in transparentem Regenmantel spricht, auf dem Weg zum Mikrophon gehen die Worte unter in der brüllenden Brandung, der Boden hinter ihr bricht weg, unter einer Fußgängerbrücke hocken zwei Männer, vor ihnen eine Pfütze, ihre Finger gehen hinein, dann zu den Lippen, sie schippen etwas in zwei Becher, Wolken schieben sich über Berge, dass sie darin verschwinden, dorthin geht schon lange keiner mehr.

Regen
splattert heftig an die Scheiben, auf den Asphalt, eine Radfahrerin stemmt sich gegen die Regenwand, die der Wind vor sich hertreibt – bis schließlich jeglicher Verkehr eingestellt wird, weil Felsen den Hang hinunterrutschen, die Berge auseinanderfallen, die Erde.

 

Alice Grünfelder

 

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freiVERS | Susanne Gurschler

Ein Abend

Für Iryna

Deine Worte bauen Brücken zu einem Kontinent
geschrumpft auf einen Streifen
Sätze fallen in meine Hände federleicht
verflüssigen sie sich wie Pinselstriche im Wasser
kritzle Wörter auf weiße Stellen
schnell krakelig
tags darauf kaum zu entziffern
wortlos eingeschrieben
Erinnerungen an einen lauen Abend
an klingende Gläser an Babycalamari
die Holzperlenkette zwischen deinen Fingern
das Lachen
trotz allem
von einem Punkt aus neue Felder erforschen
wäre ein Anfang
sagst du

 

Susanne Gurschler

 

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freiTEXT | Leon Zechmann

Wir drei

Ich weiß nicht, ob es gut ist, dass du auf die gleiche Schule gehst wie ich früher und schon vor dir deine Schwester. Ich kenne die Räume und Flure zu gut und kann darin verloren gehen. Mondlicht ändert sich nicht in dreißig Jahren, auf den Tafeln lag der Staub nur dichter. Am Fenster deines Klassenzimmers hört man die Geräusche aus der Sporthalle am anderen Ende des Pausenhofs. Davor steht das neue Auto, direkt neben der Plane auf dem Roller deiner Schwester. Ich weiß nicht, wie ich fragen soll, ob wir danach noch in den Drive-in fahren und unter dickem Schnee auf dem Autodach, mit den Fingern in den Nikolaus-Häusern an den beschlagenen Fensterscheiben, nachts uns noch satt essen. Du hast seit gestern Abend nicht mit mir geredet und ich weiß nicht, ob es etwas ändern würde, wäre ich jetzt bei euch. Stattdessen verstecke ich mich im vierten Stock. Der Wind trägt dumpfe Musik nach oben und sie perlt an der dicken Jacke ab. Wenn du dran bist, werde ich es hören können, aber nicht zuordnen.

Ich stand bei allem immer draußen zum Rauchen, um deine Oma sauer zu machen. Du traust dich, heute aufzutreten, ohne Musikstunden. Mich nervt die Asche am Fensterbrett, ich puste sie fünfzehn Meter zu Boden. Ich hätte mich nicht getraut. Deswegen stehe ich, obwohl ich früher aus der Arbeit rausgekommen und hergefahren bin, hier oben. Zwischen jedem Act kommt kurzes Geplänkel, eine moderierende Person mit extrem hoher Stimme duelliert sich mit den Ausschreitungsklängen der nie ausgetauschten Lautsprecher. Ich heule hauptsächlich und wische mir mit langen Bewegungen immer wieder die heißen Tränen nach außen und oben. Ich habe Angst, dich zu verpassen und ich habe Angst, dich zu sehen.

Ich nehme Angst in Kauf, Schuhe zwischen den Fingern über den Boden schlittern, rennend. Das Treppenhaus hinunter, in dem ich mir beim Fangenspielen den Fuß verstaucht hatte, durch den Keller mit dem Werkraum, in dem ich mir mit der Nadel durch den Finger gestochen hatte. Der Korkboden vor dem Turnhalleninnenleben reibt über meine fallende Sockenferse und mein Knie kracht in die Heizung. Die Tür lässt sich schwer öffnen und dahinter stehen die anderen Eltern. Ich ziehe den Kopf ein, unterdrücke Scham und Schmerz mit jedem Atem und lehne mich neben sie an die Wand. Erst nach ein paar Minuten bin ich da, davor war alles schwarz. Regungslos suche ich den Raum nach deiner Schwester ab. Sie sitzt in der dritten Reihe auf einem Schulstuhl und hält das Handy in der Hand. Sie hält es hoch. Auf der Bühne stehst du, wie das kleinste Ei der Welt im Scheinwerfer und die Welt schaut dir zu. Ehe ich nachdenken kann, stehe ich an der hintersten Stuhlreihe, beinahe in jemandes Nacken. Ich spüre, wie wir uns drehen. Ich will, dass du mich siehst. Du singst, wie Siebtklässlerinnen singen, nur besser. „Ich will später mal Tickets für deine Konzerte haben“, würde ich sagen, wäre es nicht albern. Albern war es nicht, als wir in dem einen Campingurlaub unseres Lebens auf den alten Klappstühlen in der frisch feuchten Erde saßen und du die Karten zum Spielen auf deine Schwester geworfen und die Lieder aus dem Kindergarten über den Platz geträllert hast.

Du hörst auf und ich klatsche, bis die Wunden an meinen Fingern unter dem angestauten Schweiß der Sporthalle brennen. Endlich siehst du auf und dein Blick fällt zuallererst in die dritte Reihe. Bitte guck mich an. Ich bin doch hier. Und dann guckst du. Dein stolzer Blick schweift in winzigen Rucken durch den Raum. Und bleibt hängen. An mir. Bitte, sei nicht sauer auf mich. Es tut mir leid. Du reißt Kopf und Daumen in die Höhe wie die Königin der Welt, hebst das eine Bein an und setzt es dumpf und doll neben dich auf und ich glaube, du zwinkerst wie ein Dussel. Wie ein winziger Frosch stolzierst du über die Bühne und irgendetwas in meinen Lungen fängt beim dir „Zugabe“ Rufen an, sich zu lockern. Du stehst da wie beim allerersten Fahrradfahren, Laufenlernen, Schwimmen, auf weiter Flur in freier Welt, während ich ganz abseits im Licht deiner Augenwinkel hänge, die ganz genauso aussehen wie meine.

Ihr fahrt nach Hause, weil ihr keine Lust habt auf Drive-in und nachts im stickigen Auto auf dem Parkplatz stehen. Ich fahre hin und hole alles. Ich sehe euch durchs Fenster, als ich heimkomme, und die Lichter auf dem Brett funkeln euch wie wild durch die vom Wind zerzausten und von Mützen verschwitzten Haare. Mitten im Schnee, die Essenstüten mich wärmend am Bein, nehme ich den Moment auf ewig in mich auf. In meinen Blutbahnen bauen kabellose Wärmedecken Schutz vor dem eisigen Geschmackston der Winternacht. Der Tisch ist gedeckt, als ich schlüsselklimpernd hereinkomme, und so funktioniert das in einer Familie. Man geht zur Schule und zur Arbeit und abends isst man am Tisch und vergibt sich gegenseitig. Du hast, die Beine auf der Küchenbank verknotet, noch immer dein fasriges Kleid vom Auftritt an, und deine Schwester isst sofort, halb in der dicken Mopedjacke, die das Futter verliert, aus zerrissenem Papier wie ein Schwein.

 

Leon Zechmann

 

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freiVERS | Anna Arning

stein bin ich
den du kaum anrühren kannst
ohne vor kälte zu verbrennen
schwarze wüste, totes land
darunter frost und feuer
ein salamander kriecht bei fuß
erstarrt in meinem schweigen
du kratzt daran es zischt
ein schwall aus toter glut
versengtes wort, ich schlucke es
und spucke trümmerteile
du hebst sie alle einzeln auf
füllst deine weiten taschen

 

Anna Arning

 

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freiTEXT | Christian Hornstein

weg

Du stehst in deiner Vier-Quadratmeter-Küche und bläst den Rauch aus dem Fenster. Er schmeckt abgestanden, nach einem Versprechen, das nie eingelöst wurde. Durch den Grauschleier des anbrechenden Tages werfen die Straßenlaternen immer noch mit elektrischer Sturheit ihre grellen Lichtinseln auf die Straße. Du hörst das Rauschen der Benzinkarren auf der Autobahn, unablässig, ihr gleichgültiges Rasen, das dich begleitet, seit du existierst. Und das Kreischen der endlosen Züge, die ständig irgendwelche Waren durch die Nacht schaffen, für die unersättliche Menschheit, die mit Gesichtern aus Stein im fahlen Kunstlicht ihrer Armaturen ebenso unaufhörlich in ihren Fahrzeugen durch die Dunkelheit rollt.

Du schaust auf den Küchenboden, die kaputten Fliesen, in die Ecke hinten, zur Baumwollmatte neben dem Fressnapf, wo sich schon seit einem Jahr kein Leben mehr regt und nur noch leere Bierflaschen liegen. Du spürst das Kneifen in der Brust, dieses trockene Weinen. Da ist er wieder, dieser kalte eiserne Rahmen, in dem kein Bild mehr steckt.

Noch ein Tag, denkst du, noch eine Zigarette. Noch einmal durch den Türrahmen schlurfen, aus der Küche raus ins andere Zimmer und zurück. Noch ein paar weitere Stunden dem Getriebe der Stadtmaschine lauschen, fernen Stimmen nachhorchen, die kaum noch wirklich sind. Noch ein Blick auf das zersplitterte Display deines Handys, das sich wie ein Spinnennetz über kryptische Lichtschemen legt, die du schon lange nicht mehr entziffern kannst. Und noch ein Blick durch die Schlieren auf dem Fensterglas, hinauf zum bleichen Himmelsdeckel.
Und plötzlich weißt du, es geht nicht mehr.
Es ist wie ein Stück Unrat, das du ausspucken willst. Du gehst in das andere Zimmer deiner Wohnung, dort, wo du alles andere machst außer kochen und rauchen, ziehst dir mechanisch den Jogginganzug an und gehst raus. Du schließt nicht ab. Du nimmst auch nichts mit. Nicht einmal deine Schlüssel.

Du gehst die Stufen im Treppenhaus runter, vorbei an den kaputten Wänden, den zerkratzten Türen; du gehst auf die Straße, unter die grellen Leuchten, wie auf eine verdammte Bühne; beschleunigst deine Schritte, rennst weiter, dorthin, wo das Licht der Scheinwerfer vergeht, wo die Straße ins Zwielicht führt.

Und du wunderst dich, wie einfach es ist, wie glatt und frei der Weg vor dir liegt. Nichts und niemand hält dich auf. Keinen schert es. Bald hörst du das Bullern, das Rauschen. Du gehst über die Landzunge, steigst über die Steine, bis es nicht mehr weiter geht, und dann, zum ersten Mal, schaust du auf und nimmst den Fluss wahr, wie er sich machtvoll über alles hinweg wälzt, und du ahnst, wozu er fähig ist. Es macht dir Angst ... und zieht dich an. Ihm widersetzt man sich nicht. Er duldet kein Zögern. Du merkst, dass du an den Richtigen geraten bist. Hier wird es ernst. Du lauschst dem Rauschen des Wassers, dem gleichgültigen Strom, der seit Urzeiten an dieser Stelle sein Bett auswalzt. Du riechst die Kloake aus zersetzten Algen und Müll.

Dann steigst du runter. Du merkst, wie das kalte Nass in deine Joggingschuhe dringt. Fast wärst du ausgerutscht auf dem glitschigen Gestein. Du gehst weiter. Nun klebt die Hose an deinen Unterschenkeln und die Kälte umfasst deine Körpermitte. Noch nie warst du dem Fluss so nah. Du merkst, wie er beginnt an dir zu zerren, wie eine Macht nach dir greift, der du nichts entgegensetzen kannst. Noch einmal bäumt sich deine Angst auf, im Angesicht der Endgültigkeit, dann breitest du die Arme aus und lässt dich nach vorne fallen.

Du lässt dich tragen, ins Reich der gedämpften Töne. Du weißt nicht, wohin der Strom dich schiebt und dreht, aber er kümmert sich schon. Mit jedem Moment, das weißt du, entfernst du dich von den Lebendigen, von der Last, von allem. Ein Zurück gibt es irgendwann nicht mehr. Du hörst das Gluckern, das Rauschen, vielleicht ein fernes Rumpeln, ein Wimmern oder Klagen. Die Seelen der im Fluss Ertrunkenen? Ein Schauer greift dir in den Nacken. Die Klagen werden immer lauter, oder sind es Rufe? In deinem Brustkorb wird es eng. Jetzt gilt es. Das Wasser verlangt Einlass. Du öffnest die Augen. Nebel aus Schlamm. Wie tief bist du abgesunken? Wo ist oben und wo unten? Da sind sie wieder, diese Rufe, nun lauter. Du öffnest den Mund. Kälte breitet sich in deinem Hals aus, bis weit hinunter in deine Brust, wie bei einem tiefen Atemzug an einem eisigen Wintermorgen, nur erfrischt es dich nicht. Da packt dich etwas, zieht dich fort ... und du tauchst auf.

Eine Stimme, Keuchen, Gezerre an deinem Körper. Du wehrst dich nicht. Du hast dich losgelassen, gehörst dir nicht mehr. Etwas anderes hat dich übernommen. Jemand anderes. Da ist diese Stimme. Sie ruft nach jemandem, ohne ihn beim Namen zu nennen, einem, der ihr fremd ist. Sie bebt, presst Worte hervor, fleht. Dann ein Stoß, fast schmerzhaft, noch einer. Dein Körper krümmt sich hart und du erbrichst, krampfhaft. Die Schwere dieser Welt drückt plötzlich wieder in deinem Rücken, auch wenn sich deine Lungen noch weigern, Sauerstoff aufzunehmen.

Vor deinen Augen, der grellgraue Himmel eines Morgens, den du nicht mehr erwartet hast. Und das zarte Gesicht eines Jungen an der Schwelle zum Mann. Er spricht zu dir, atmet schwer. Ob es dir gut geht. Du schweigst, bist noch unter denen, die nicht mehr sprechen. Ob du verletzt bist, will er wissen. Was du dir dabei gedacht hast, fragt er, was hast du dir nur dabei gedacht? Lange sieht er dich an, dann weint er. Da bricht etwas in dir auf und auf deinen nasskalten Wangen spürst die Wärme deiner eigenen Tränen.

 

Christian Hornstein

 

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freiVERS | el menges

pool boy

erinnere
1. ein schwimmbad, das
weniger offensichtlich klafft

2. kontrolle, wenn schlaf
einen mund besitzt

3. wasser als himmel
aus zweiter hand

ein klumpen fleisch
in meinem mund pulsierend
mein mund
in einem klumpen fleisch pulsierend

wie wund meine kehle
dich benutzen lässt

am gaumen reißt
der himmel auf

vermissen, fast ein wort

 

el menges

 

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freiTEXT | blumenleere

cut

[…] mangue manguea manguea manguea
manguea mangue manguea manguea man-
guea manguea respira respira respira respi-
ra […] mangrove; moor mother

exerziere oder exorziere stellungen eingewoben
am glaskasten kribbelst durch diesen ameisenbau
du krabbelst du reachin‘ for infinite urbanisation
models ueber aufschlaemmungen grauer kadaver
krass versponnene netzwerkallueren anticipating
the moment when our words become dead meat
hinterm zenit transhumanistischer weisen lauern
klingen knirschen die uhren voll gedaechtnissand
have their holes been plugged with sad memories
entgleiten dir die bewegungen gen imaginationen
virtual spaces fernab der etymologie des zimmers
glitched deine haptik unter provokanten aktionen
wider texturen deren zweck hoechstens aeuszerst
vage an grenzen abstecken & pretending to create
nice ambiences visuelle sphaerenklaenge erinnert
total synaesthesis as a curse of bold determination
laws baustellen die in topologien uns ueberlappen
induce the need to synchronize to feel acceptance
to obey in order to fit in immerhin noch ein raum
den du einnehmen darfst auch wenn du dich dann
verformen zerreiszen neuorganisieren musst dort
wo einige andere ihre beduerfnisse stillen quellen
lippen aus subordinierten ritzen & u sing to urself
what morbid methods but maybe it‘s all about sex

 

blumenleere

 

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freiVERS | Tanna Künemund

Ich (zer)säge sie

Ich mag es
Dinge selbst zu machen
die nur ich mir zutraue
denn
oft weiß nur ich
dass ich kann
was ich kann
ohne es zu wissen
weil ich nicht darüber nachdenke
sondern beginne
zu tun
was ich tue
auch wenns kein Mensch mir zutraut
und dabei kann ich es
was ja klar ist
und mich weiterhin
nicht besonders
wundert
oder überrascht
wobei ich fühle
dass es schön ist
das zu tun
von dem vielleicht
auch ich denke
es sei fast nicht machbar
dann es aber doch zu tun
ohne zu hadern
oder zu verzagen
einfach zu starten
und weiterzumachen
step by step
et peu a peu
und mich nicht zu wundern
dass es klappt
weil ich es ja zuvor
auch nie und nicht
in Frage gestellt hatte
irgendwie doch wissend
dass ich es könnte
denn weshalb
sollte ich es nicht können
oder weshalb sollten Menschen
das nicht können?
wo sie doch noch nicht einmal
und noch nie nicht
ausprobiert hatten
ob es klappen
oder gehen könnte
ganz einfach
nur so
beginnen
und Schritt für Schritt dranbleiben
dabeibleiben
sich ran wagen
und es durchziehen
und auch an ihre
scheinbare Selbstsicherheit
über die ich doch gar nicht
nachgedacht hatte
und auch nicht darüber
ob ich zweifeln sollte
oder verzweifeln
an mir
oder meiner Schwäche
die ich gar nicht habe
außer für Dich
und die Kunst
und Erdbeeren und so
und mir so sehr
meiner Stärke sicher zu sein
als würde ich mich schon
mein Leben lang kennen
und mir vertrauen können
so ganz und gar
vertrauen
weil ich weiß
ich würde das
gemeinsam mit mir
durchziehen
und mich nicht sitzen lassen
oder im Stich lassen
sondern richtig ranklotzen
und voll powern
und mit aller Kraft
dieses Ding
durchziehen
ganz ohne
oder nein
nur mit
Vertrauensvorschuss
und ohne Handschlag
oder Vertragsabschluss
nur ganz locker geplant
starten
und dann so richtig
zu arbeiten
wie Sau
volle Pulle
und alle Muskeln zu spüren
und meinen Atem wahrzunehmen
und zu wissen
falls es Muskelkater gäbe
fänd ichs schön
doch zu rechnen
war damit
wahrscheinlich nicht
weil sich
Muskelkatzen
nur selten
bei mir einstellten
oder vor
und genau so ungeplant
starte ich
am liebsten
minimal durchdacht
und nur wenig geplant
eher spontan
und impulsiv
mag ichs
loszulegen
und die Welt zu bewegen
ohne Schutzkleidung
oder Versicherung
aber dennoch vorsichtig
und Unfälle antizipierend
nur durch meine
Aufmerksamkeit
verhütend
klettere ich
wagemutig
und kühn
ohne Leiter
die acht Meter hohe Weide hinauf
und zücke
meine kleine feine
Handsäge
und starte damit
von oben nach unten
den dicken Baum
zu stutzen
und
es klappt natürlich
und macht Spaß
obwohl sie mir leidtut
doch sie ist krank
und würde aufs Dach fallen
früher oder später
und nur so
kann ich sie retten
indem ich sie
runtersäge
was Männer mir angeboten hatten
mit Nennung ihres Stundenlohnes
doch so
wie ich säge,
kann ich sie in Stille
sägen
ohne dass Motorsägen
den Spätsommer zerschrillen
und alles zu schnell geht
wobei auch ich schnell bin
denn die kleine Säge arbeitet gut
in meiner Hand
an der sogar die Ringe glitzern
was nie sein darf
beim Arbeiten mit Werkzeug
sägen wir zusammen
dreidimensionale Keile ins Holz
die die Fallrichtung
der baumgroßen Äste
vorskizzieren
der dann das Knacken folgt
und anschließend der Fall,
wobei ich zuvor
die 8 Meter langen Weinranken
voller Trauben befreie
sodass sie die fallenden Äste
loslassen müssen
damit sie fallen können
und zu Brennholz werden
das ich auch mit Hand säge
mich fragend
warum es so sehr Spaß macht
sich anzustrengen
oder die Muskeln spielen zu lassen.

ich säge sie
und zersäge sie.
alleine.
ohne Männer.
mit mir zusammen.
mit meinen kleinen Händen
meinen zarten Armen
meiner Balance
Kraft
Ausdauer
Hingabe.

oder ich schwimme durch den See
der ein Meer ist
weil Möwen über mir fliegen.

All dies geht ja nicht immer.
Manchmal kann dieser Körper nichts starten.
Dann wiederum
bewegt er Berge.

„Er“ sollte „sie“ sein.
Sie ist kräftig
wenn sie kann.

 

Tanna Künemund

 

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freiTEXT | Camilla Lindner

Plastikhandschuhe

Wie zwei genutzte Plastikhandschuhe liegen sie da, die Hände meines Vaters. Liegen da auf dem weißen Tuch und sind ungewöhnlich hell. Ich nehme meine Hände und lege seine Hand in meine. Sie sind kalt. Dann beuge ich mich mit dem Kopf über sie, sie scheinen durchsichtig – kann ich durch sie hindurchschauen? Meine eigenen Hände werden feucht, mit dem Daumen schiebe ich die Feuchtigkeit Richtung Finger. Es ist wie Schnee vom Gehweg räumen, verbunden mit der Hoffnung, darunter etwas Neues zu entdecken und dann die Erkenntnis, wieder einmal auf Asphalt zu schauen. Ich beuge mich noch tiefer, drücke meine Augen auf die Hand meines Vaters.

Ich sehe ihn, die Hände umgreifen einen grünen Schwamm. Das Grün bewegt sich über braune Fliesen, es wischt hin und her und hin und her und hin. Grün und braun vermengen sich. Die Bewegung hat etwas Spielerisches, meine Augen folgen dem Grün und irgendwann werfe ich mich auf es, sage „ich habs“ und mein Vater zieht langsam seine Arme unter meinem Körper hervor. Er legt das Grün in einen Eimer voll Wasser, taucht das Grün hinein, wringt es aus und legt es wieder auf den brauen Boden. Hin und her und her und hin. Es kratzt leise, weiße Schaumbläschen bilden sich an der Seite des Schwamms und meine Augen folgen den Blasen.

Ich puste in meine Hände, sie sind wieder feucht geworden. Ich puste und puste und beobachte dabei die Bläschen. Mein Vater bewegt seine Hände, jetzt strömt mein Atem auf den Boden, dahin wo die Hände sich bewegen und der Atem wickelt sich um das Grün. Ein paar Bläschen lösen sich, fliegen in der Höhe. Dann lösen sie sich auf.

Ich drücke die Hände meines Vaters, lege meine Hände in seine Handfläche. Fahre die bläulichen Adern mit meinen Fingern entlang, die Adern sind endlos und verzweigt. Ich lege meinen Kopf an die Adern und höre es plätschern und rauschen. Der Eimer fällt um und das Wasser verteilt sich auf dem braunen Boden. Wir ziehen Gummistiefel an und ich bringe das Wasser zum Spritzen. Es riecht nach Chlor. Mein Vater nimmt von der Wand einen Besen, hängt darüber einen grauen Lappen und fährt mit dem Besen über die nasse Fläche.

„Schau, Papa“, sage ich und lege mich mit dem Körper auf den nassen Boden, bewege Arme und Beine vor und zurück, so wie beim Schwimmen, „schau“ rufe ich und paddle immer schneller. Die Hände meines Vaters umgreifen mich am Bauch und auf einmal ist es, als ob ich fliege, aber ich schwimme weiter und mein Vater hält mich in der Luft mit den Plastikhandschuhen und den Gummistiefeln und bald bin ich außer Puste.

Er setzt mich auf einen Holzhocker an der Wand und bewegt wieder den Besen über die brauen Fläche. Ich bleibe auf dem Hocker sitzen, wie am Schwimmbeckenrand sitze ich da, die Hände umschlingen die Beine. Ich habe Hunger.

Mein Vater stellt den Besen in den kleinen Schrank neben der Wand mit weißen Fliesen. Er zieht die Handschuhe von seinen Fingern und legt sie über den Seitenrand des Eimers. Die Handschuhfinger schauen auf den Boden. Zwei Tropfen fallen von den Spitzen.

Mein Vater geht zum Waschbecken, über dem ein Metallregal hängt und auf dem Blechschüsseln stehen. Er nimmt sich ein Seifenstück und seift die Hände ein, mehrere Minuten lang. Dann lässt er Wasser darüber laufen und es bilden sich Bläschen an der Stelle, an der das Wasser auf Haut trifft. Er nimmt das weiße Leinhandtuch zwischen die Hände und tupft sie langsam trocken, fährt mit dem Stück Stoff über Handflächen, zwischen die Finger, dann über seine Fingernägel. Er legt das Handtuch ab, zögert, dreht den Wasserhahn nochmals auf, seift die Hände wieder ein, diesmal auch die Unterarme, wäscht sie wieder ab, schüttelt das Wasser von den Fingern, trocknet die Hände. Er zeigt auf das Waschbecken, auch ich wasche mir die Hände, zweimal hintereinander, dann nimmt er meine rechte Hand in seine linke, zieht mit der rechten Hand die Türe zu. Draußen an der Türschwelle greift er in seine Manteltasche und gibt mir ein großes, weißes, rundes Brötchen. Es ist so hell wie seine Haut und ich stecke es in meinen Mund, beiße mit den Zähnen hindurch.

 

Camilla Lindner

 

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