freiTEXT | Tillmann Lösch
Rauchmelder
Das Aufstehen ist
ein Problem.
Manchmal geht es einfach nicht.
Selbst dann nicht, wenn ich auf die Toilette muss.
Hüfte, Knie – morsches Holz.
Die Frau, die zweimal die Woche klingelt, die mir die Wäsche macht, die das Geschirr aus weißem Hartplastik von der AWO rausstellt, sie würde gerne mehr helfen,
sagt sie.
Aber so viel Zeit, wie es dafür bräuchte,
hat sie nicht.
Es riecht
unangenehm.
Nein, es stinkt.
Es stinkt nach Pisse. Der Gestank ist im Bad. Hält sich im Fernsehzimmer. Im Schlafzimmer. Ich kriege ihn nicht mehr raus.
Schämte mich,
als der Schornsteinfeger ins Haus musste, um etwas abzulesen.
Die Treppe nach unten bedeutet nichts
als Schmerzen.
Am Morgen herunter und später wieder rauf. Ein Mal am Tag mache ich das. Wenn es geht, setze ich mich und rutsche herab.
Eine Stufe,
eine Pause.
Im Erdgeschoss steht mein Rollator, oben lehnen die Stöcke. Damit komme ich zurück bis zum Sessel. Noch. Aber was,
wenn ich falle?
Irrsinn sagen die Kinder. Ich sage nichts.
Sie haben sich abgesprochen. Das merke ich
daran, wie sie mir gegenübersitzen. Wie sie sich die Bälle zuwerfen. Sie reden über mich, als wäre ich
gar nicht da.
Eine Situation nennen sie es. Eine Lösung muss gefunden werden, sagen sie. Eine, die finanziell machbar ist.
Ich sage,
dass sie sich zum Teufel scheren können, dass es mein Haus ist und ich sehe,
wie sie den Kopf schütteln.
Ein ganzes Leben. Siedlungsfeste, Kegelverein, Adler Osterfeld, Kumpels von der Zeche.
Wenn ich von hier weggehe,
komme ich nicht mehr wieder.
Ein Starren ins Nichts. Mandalas und Suppe. Sie spielen Mensch ärgere dich nicht, und wenn sie würfeln, pressen sie ihre faltigen Lippen aufeinander und dann freuen sie sich, wie kleine Kinder es tun. Man hat uns eingesperrt. Man sagt es nicht, aber
es ist so.
Je länger man so lebt, desto mehr vergeht man.
Der Tod
ist allgegenwärtig,
wartet geduldig
und legt denen, die im Gesellschaftsraum singen wie die Bekloppten, bereits seine Hand auf die Schulter.
Ich ertrage es
nicht.
Ich existiere nur mehr in einem Zimmer von zwölf Quadratmetern.
Ich löse Kreuzworträtsel.
Ich schlafe.
Ich sehe aus dem Fenster in den Garten.
Durch die Vorhänge der Wohnungen gegenüber beobachte ich, wie fremde Familien aufstehen, die Kinder morgens frühstücken, bevor sie in die Schule gehen, die Eltern abends von der Arbeit kommen,
essen,
streiten,
fernsehen.
Mein Enkel war bei mir und hat grüne Hanteln mitgebracht. Ein Kilogramm pro Stück. Für die Arme meint er. Wie es mir geht, hat er gefragt, als wir uns gegenübersaßen. Ob das Essen in Ordnung ist? Ob ich mich langweile? Das Zimmer findet er ganz schön. Ein bisschen klein vielleicht, aber ansonsten doch in Ordnung? Sogar mit Blick auf den Garten. Und schön hell, wenn die Sonne scheint. Eine Ausbildung will er machen.
Schweigen.
Verabschiedung.
Die Hanteln habe ich seither nicht benutzt.
Ich sitze am Fenster und öffne die Augen. Musik. Gelächter, Alkohol und Zigaretten. Viele Gäste waren früher bei uns. Auch ein guter Bekannter aus dem Kegelverein. Einmal beugte er sich vornüber und sagte etwas zu meiner Frau. Sie sah ihn erschrocken an. Dann sah sie zu mir. Ich sagte nichts. Obwohl ich es gehört hatte, hielt ich den Mund, trank weiter und lachte mit den anderen bis zum nächsten Morgen.
Danach sah sie mich anders an.
Ich halte den Hörer fest in der Hand. Wenn ich könnte,
ich würde ihn zerdrücken.
Doch ich kann nicht. Stattdessen höre ich, was man mir mitzuteilen hat.
Viel
gibt es nicht zu sagen. Ich notiere Datum und Uhrzeit, bedanke mich und lege auf.
Bin der letzte, der noch da ist.
Der junge Pfarrer behauptet, das Leben sei ein Fluss im ständigen Wandel. Eine hoffnungsvolle Bewegung hin zu einem großen Ganzen, einem ewigen Meer, sagt er.
Eisernes Schweigen
schlägt ihm aus den müden Gesichtern derjenigen entgegen, die zur Beerdigung gekommen sind und von denen ich niemanden kenne.
Ich möchte aufstehen.
Möchte rufen, dass nichts so ist, wie er behauptet.
Weder Fluss noch Meer habe ich vor Augen. Ein Trotzen. Eine ständige Rückschau. Erinnern, vergessen. Wut und Scham über Dinge, die geschehen sind und die nachhallen. Vor allem aber ein Warten. Da ist keine Hoffnung, da ist nur Angst am Ende alleine zu sein. Das alles möchte ich ihm zurufen,
möchte ihn packen und schütteln.
Doch ich sage nichts und später nicke ich ihm zu, als er an mir vorübergeht.
In meinem Zimmer hängt an der Decke ein Rauchmelder. Ich weiß, dass er funktioniert, denn er blinkt regelmäßig fünfmal pro Minute. Ich habe gezählt. Habe den Rauchmelder angesehen und an meinen Fingern mitgezählt. Während sie draußen auf den Fluren singen, sitze ich auf einem Stuhl am Fenster
und zähle noch mal.
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freiTEXT | Clara Dobbelstein
Kerstin
Eigentlich hatte Christina den Gartenteich für die Koi-Karpfenhaltung angelegt. Sumpfdotterblumen und Schwertlilien hatte sie gepflanzt, auch Pfeilkraut und Seerosen. Sie hatte eine Terrasse mitsamt einem schmalen Steg aus Douglasienholz anbauen lassen.
Nachts durchzogen bunt gescheckte Koi-Karpfenschwärme Christinas Träume. Sie konnte die Koibabys kaum mehr erwarten, so sehr sehnte sie sich danach, die kühle Karpfenhaut unter ihren Fingern vorübergleiten zu spüren.
Doch dann kam Kerstin. Eigentlich wollte Christina sie nur vorübergehend aufnehmen. Ihre Nachbarin hatte unter Tränen darum gebeten. Kerstin sei in letzter Zeit aggressiv geworden. Sie bräuchte zumindest für ein paar Tage ordentlich Auslauf und frische Luft.
Christina hatte sich erbarmt und die verwahrloste Kreatur aufgepäppelt. Erst bei der Übergabe war ihr erklärt worden, dass es sich um eine Schnappschildkröte handele. Schnappschildkröten könnten mit einem blitzschnellen Happs einen Finger abbeißen. Deswegen solle Christina ein bisschen aufpassen.
Anfangs warf sie Kerstin nur im Vorübergehen ihr Futter ins Wasser. Ständig hatte sie das Gefühl, Kerstin liege auf der Lauer, um plötzlich hervorzuschnellen und sich in ihrem durch den dünnen Boden des Flip-Flops kaum geschützten Zeh zu verbeißen. Es war fast so, als würde sie einen Tiger halten. Christina lebte mit einer immerwährenden Bedrohung an ihrer Seite, als Herrin über ein Wesen, vor dem andere Hals über Kopf die Flucht ergriffen hätten.
Von einem Tag auf den nächsten hatte Kerstin sie zu einem besonderen Menschen gemacht. Jemand, der sich von den anderen unterschied. Jemand, dessen stilles Wasser tief war und nicht nur Seerosenstängel barg.
Christina war ihr Leben lang mittelmäßig gewesen. Es fing mit ihrem Namen an. Es ging mit ihrem Äußeren weiter. Sie war weder schön noch hässlich, weder dick noch dünn, weder groß noch klein. Sie hatte erst Prinzessin und dann Tierärztin werden wollen, um schließlich eine Ausbildung zur Bankkauffrau zu machen. Sie hatte geheiratet, zwei Kinder bekommen und sich vor fünf Jahren geschieden. Sie lebte in einem Reihenhaus und fuhr in den Urlaub nach Norderney. Sie ging zweimal die Woche ins Gym und machte einmal die Woche Rücken-Fit, seit einem Bandscheibenvorfall während Corona.
Aber jetzt hatte sie etwas zu erzählen! Etwas, bei dem nicht alle sagen konnten: „Ich versteh voll, was du meinst“ oder „Irgendwoher kommt mir das bekannt vor“. Eine Schnappschildkröte namens Kerstin hatte nicht jeder. Bald wussten alle Freundinnen Bescheid. Christina adoptierte Kerstin.
Mit der Zeit wurde Christina waghalsiger. Sie blieb neben dem Teich stehen und beobachtete, wie Kerstin ihr Futter aus Mehlwürmern und Grillen verschlang. Irgendwann überwand sie sich sogar, Kerstin am hintersten Ende ihres Panzers zu kraulen. Ihr war, als legte sie ihre Hand in ein Tigermaul.
An einem Samstagnachmittag erhielt sie den Anruf. Torsten, der älteste Sohn ihrer besten Freundin, war am Telefon. Torsten sagte, er hätte von Christinas Schnappschildkröte gehört. Ob er sie mal besichtigen und ein kleines Video drehen dürfe?
Christina fühlte sich geschmeichelt. Torsten war ein liebes Kind gewesen, aber sie hatte ihn seit Jahren kaum zu Gesicht bekommen. Umso erstaunter war sie, als ein hoch aufgeschossener junger Mann vor ihrer Haustür stand und ihr selbstbewusst die Hand reichte: „Lange nicht gesehen.“
Voller Stolz führte sie Torsten nach einer ausführlichen Gefahrenbelehrung zum Gartenteich. Sofort zückte Torsten sein Handy und filmte die über den Steg watschelnde Schildkröte. Dann ließ er das Handy sinken. Ob er das Video mit ein paar Leuten teilen dürfe? „Klar doch“, sagte Christina begeistert von seinem Interesse. Er bat sie, ein oder zwei Sätze in die Kamera zu sprechen. Aufgeregt winkte sie und sagte: „Hallöchen! Das ist meine Schnappschildkröte Kerstin und ich bin die Christina.“
Kerstin kam noch ein Stück näher. Rasch zückte Christina ein großes Blatt Wassersalat und ließ es vor Kerstins Maul pendeln, bis sie gierig danach schnappte und es einsog. Torsten schwenkte das Handy wieder auf Christinas Gesicht. „Also dann, tschüssi!“, rief sie.
Auf einen Kaffee wollte Torsten nicht bleiben. Aus der Küche sah sie, wie er beim Weggehen die Hausfassade filmte.
Eine Woche später begannen die Leute auf der Straße, ihr Blicke zuzuwerfen. Anfangs hielt sie es für Zufall, dass die Menschen die Köpfe zusammensteckten, wenn sie an ihnen vorüberging. Aber dann fragte ein Mädchen, ob sie vielleicht ein Autogramm bekommen dürfe. Sie sei doch die mit der Schnappschildkröte. Woher sie denn das wisse. Naja, wegen dem Tiktokvideo.
Drei Tage später sprach man Christina erneut an. Und dann fast täglich. Ein paar Teenager wollten wissen, ob sie mal die Kerstin streicheln dürften. Sie würden auch dafür zahlen. Ein Junge rief ihr „Also dann, Tschüssi!“ hinterher und kicherte. Auf dem Heimweg hatte sie das Gefühl, dass man sie verfolgte, und als sie sich an der Haustür noch einmal umwandte, sah sie jemanden hinter dem Brombeergebüsch verschwinden.
Christina ging immer seltener nach draußen und wenn, dann trug sie Hut und Sonnenbrille. Doch sogar in diesem Outfit erkannte man sie oft. Sie war die mit der Kerstin. Die Zoowärterin eines Promis.
Eines Tages kniete sie auf dem Steg und betrachtete ihre in der Sonne rastende Schildkröte. Kerstin sah Christina aus ihren stumpfen Äuglein an. Christina starrte zurück. Abscheu stieg in ihr auf. Plötzlich merkte sie, wie sehr sie diese Kreatur hasste, die ihr Leben auf den Kopf gestellt und ihr den Grund unter den Füßen fortgerissen hatte. Sie war die Schuldige für Christinas kollektive Verfolgung. Sie hatte ihr früheres Leben aufgefressen und sich zum Gravitationszentrum gemacht, um das Christina nun täglich aufs Neue zu kreisen hatte. Ha, sie ließ sich doch nicht von einer Schildkröte an der Nase herumführen! Sie würde ausbrechen. Christina entschloss sich dazu, Kerstin für immer in das unterste Fach des Kellerkühlschranks zu verbannen.
Am nächsten Morgen wollte Christina zur Tat schreiten und Kerstin todesmutig beim Panzer packen. Doch als sie die Terrassentür öffnete, sah sie zwei vermummte Gestalten um die Ecke huschen. Keine Kerstin gähnte ihr mehr zahnlos aus der Tiefe des Gartenteichs entgegen, solange sie auch suchte und rief. Zweifellos: Man hatte ihr die Schildkröte entführt!
Christina schleuderte vor Freude die Flip-Flops von den Füßen und tanzte barfuß über den Steg, bis sie vor Erschöpfung einschlief.
Wieder durchzogen bunt gescheckte Koi-Karpfenschwärme ihre Träume. Kühle Karpfenhaut glitt unter ihren Fingern vorüber.
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freiTEXT | Dania D'Eramo
Davor. Danach
Später werden wir alles erfahren: den Ursprung von Erschütterungen und Dröhnen im tiefen Gestein, den genauen Zeitpunkt – 2 Uhr 33 Minuten 14 Sekunden.
Davor ist es eine Nacht im September, die Süße letzter Blüten noch in der Luft. Und wir haben noch ein paar Momente des unbemerkten Lebens. Ein Leben, das wir so nie wahrnehmen, bis es nicht mehr so ist, wie es war, das vor sich hin pulsiert – durch unsere Adern, unsere Lungen, ohne scheinbare Steuerung, als gehörte es nicht uns, als wäre es von uns getrennt.
Danach ist es die Nacht des Bebens.
Stimmen aus Fernsehen und Radio erklären uns, was wir erlebt haben. Es ist eine Vermessung des Schreckens in einzelnen Fakten, in der jeder dieser Fakten einen Namen und eine Zahl bekommt. Nicht aber unser plötzliches Aufwachen, nicht das unkontrollierte Erbeben der Körper, das Barfußhasten auf unsicherem Boden. Weder unsere Rufe noch das Grollen aus der Tiefe der Erde.
Als wir dieser Vermessung zuhören, sind wir schon lange in einer Welt aufgewacht, in der nichts mehr ist, wie es eine Sekunde oder auch nur Millisekunden davor war. Einer Welt, in der Dächer in die Häuser einbrechen, Klüfte Straßen spalten, Risse durch Wände laufen wie Wunden, aus denen das Innere dringt.
Es ist eine Welt, in der am Vormittag desselben Tages – oder, so die Vermessung, um 11 Uhr 40 Minuten 24 Sekunden – unter strahlender Sonne der Schrecken nochmals an unserer Tür rüttelt und wir nicht anders können, als ihn hereinzulassen. Und dann fällt Giottos Sternenhimmel wie eine falsche Prophezeiung herab. Nun ein Meer aus Steinpulver und Lapislazuli, begräbt er Menschen unter sich. Und da steht Großmutter vor ihrem Haus und sieht es schwanken, während Großvater im Olivenhain die Erschütterung unter seinen Füßen spürt. Mit den Händen die Augen beschattend, versucht er, von dort oben das Haus im Dorf zu finden, und hofft, hofft, es nicht unter die zusammengestürzten zählen zu müssen.
Zwölf Jahre später – Großvater ist inzwischen gestorben – darf Großmutter nach dem Wiederaufbau hinein, in ihr altes Haus, das nun ihr Witwensitz ist. Zu diesem Zeitpunkt haben wir fast schon vergessen, wie der Kamin im Esszimmer riecht, wie der Kirchturm, dessen Glockenschläge sich in die Träume meiner Kindheitssommer einschlichen, vor dem Küchenfenster aufragt; wir wissen nicht mehr, wie der Blick vom Balkon die Pappeln am Fluss umfasst und wie sich ihr Wispern zusammen mit dem Rauschen des Wassers an windigen Tagen anhört. Wir versuchen, uns an all das zu erinnern, und denken an Großvater, wie er am Kamin sitzt und seine Filterlosen raucht. Dass ich hier jetzt allein leben muss, sagt Großmutter und bleibt an der Türschwelle stehen.
Und ich denke an jene Momente zurück, als es noch eine Nacht im September ist und wir in unseren Betten schlafen, als ich noch ein, zwei, vielleicht drei Sekunden habe, bevor das grausame Wiegen mir eine Stimme gibt, die aus mir kommt wie ein eigenständiges Wesen, als wäre sie von mir getrennt. Bis ich zur Magnitude der Erschütterung ganz aufwache – zur Nacht des Bebens.
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freiTEXT | Björn Potulski
Als ich diese Worte an dich las
Ihre Versuche, mich ins Wasser zu stoßen, scheiterten zumeist. Nicht jedoch immer. Mit Mühe haben sie es vor kurzem erst geschafft, mir zumindest meine neuen Schuhe zu verderben. Doch meistens schafften sie es nicht. Zu sorgfältig halte ich mich von allem fern, was Uferkanten hat, über die man stürzen könnte. Sie ärgern sich sehr über meine Vorsicht. Denn die Stadt hat Wasser! Beinahe überall. Sie hat drei Bäche, einen großen Teich im Park, zwei Flüsse und einen mittelgroßen Strom, mit dem alles dies in oberirdisch-offensichtlicher, oder wenigstens in untergründiger Verbindung steht. Also fehlte es ihnen nicht an Gelegenheiten, mich zum Wasser hinzustoßen. Und das versuchten sie, Tag für Tag. Immer, wenn ich rausging. Jetzt aber habe ich genug davon. Ich bleibe drinnen. Doch sie werden nicht von mir lassen. Immer wieder einmal schlage ich die Gardine ein Stück beiseite, gerade weit genug, damit mein Blick durch den Spalt nach draußen gehen kann: Unten stehen sie und warten. Ihre Beharrlichkeit im Warten ist dem Fluss des Wassers ebenbürtig.
Wo liegt nun meine Schuld? Liest man sie an meinen neuen Schuhen ab? – Aus braunem Leder sind sie, rundherum, die Sohlen auch, aus braunem Leder. Auch die Schnürsenkel sind braun, nicht aber aus Leder. Also gehört das nicht zur Schuld, denn die braunen Schnürsenkel sind aus Baumwolle. Baumwolle wird nass und trocknet. Auch das braune Leder trocknet. Doch es bleiben Wasserflecken.
Nach langer Zeit erst –. Nach langer Zeit erst hebt Vater seinen Blick von den Wasserflecken hoch. Und sticht mir damit in die Augen. – Nicht in die Augen, nein. Mehr in den Hals. Ja, in meinen Hals senkt Vater seinen Vorwurf ein, und das recht tief. Mir bleibt die Luft zum Atmen weg. Ist doch diese Luft seine Luft. Keine Luft, das ist wo die Schuld ist. Das ist, wo ich bin. Ich bin unter Wasser –. Flecken. Dabei – doch wollte ich es wagen, mich auch noch zu verteidigen?
Unaufhörlich dringt der Lärm der Stadt zu mir herein. Gefrorene Wasserbälle, die auf Blechdach krachen. So dringt der Lärm der Stadt zu mir herein und die Gedanken ihrer Bewohner. Ihre Selbstgespräche. Vorgehalten sind die Hände, zugezogen ist mein Fenstervorhang (und das Fenster dicht geschlossen!). – Mit der einen Hand halte ich die Gardine ein Stück offen, mit der anderen versuche ich festzuhalten, was ich draußen sehe, was ich höre. So kratzt die Feder über das Papier, das ich auf die Fensterbank lege, gehalten nur von einem rohen Stein.
Nun lässt sich nicht fortwährend hinter der Gardine stehen und zum Spalt hinaussehen. Niemand könnte das. Einige Verzagte mögen es versuchen, doch es sinkt der Arm, irgendwann, unweigerlich, es erschlafft die Hand, die den Spalt eröffnete. Zufallend werden sie gesondert, hinter dem zugehängten Fenster: sie drinnen, wo sie mit ihrer Schuld verharren, abgesondert von dem Draußen, wo man wartet, mit der Ausdauer, die das Wasser hat in seinem Fließen. Auch lässt sich nicht fortwährend schreiben, immer weiterschreiben, so sehr ich es versuche (immer, sogar dann, wenn ich nicht an der Gardine stehe). Sie, sie versuchen es nicht. Ich, ich versuche es. Und erlahme. Hebe die Feder von dem Blatt. Es stockt der Fluss der schwarzen Tinte. Und versiegt. Dann gibt es nur noch draußen sie und drinnen mich. Drinnen? –
Ich liege. Liege auf dem Grund; liege auf dem Rücken und es strömt über mich hinweg. Ein wenig nimmt es mich wohl auch in seine Richtung mit, das teilen mir die Brocken mit, die das Bett des Flusses kleiden. Mein Hinterkopf stößt an rohen Stein. Der Stein empfängt den Kopf mit dem äußersten an Sanftheit, zu dem der Stein die Möglichkeit besitzt. Das hintere meines Kopfes gleitet nicht darüber weg, solche Sanftheit liegt nicht darin – ich stoße immer wieder an, der Stoß hebt ihn ein wenig in die Höhe, bis das Hindernis überwunden ist und er wieder sinken kann, mein Kopf. Eben wollte ich mir – das Entsetzen war schon im Begriff, mich loszulassen – eben hatte ich beschlossen, mich in meiner Lage einzurichten, als ich schon wieder daraus hervor gerissen werde: Papiere treiben. In langer Kolonne treiben Sie über mich hinweg. Die Papiere überholen mich, treiben sie doch ungehindert von den Steinen und der Schwere an der Oberfläche hin, unter der ich liege. Auf dem Weißen erahne ich noch meine Hand in schwarzer Tinte. Auf den Wellen tanzt sie – für mich unerreichbar, so sehr ich mich auch danach Strecke. Und es würde auch nichts bleiben, um danach zu greifen – die Schrift beginnt schon, sich von dem Papier zu lösen. Sie geht ins Wasser über und was konnte ich da tun? Ich sog sie ein, durch meinen Mund, den ich jetzt weit aufriss. Die Schrift schmeckte scharf und bitter. Und ich sog sie durch die Nase ein – sie lässt mich husten, wie der Rauch in meinem Zimmer, den der Brand der Blätter macht, die ich beschrieben habe. Eines aber, eines sehe ich noch im Fließen, im Zerfließen, etwas kann ich wohl entziffern: „Nein“. – Und ich denke ganz bei mir, hier unten: so sehr du dich dagegen sträubst – sie greifen doch nach dir, sie kriegen dich zu fassen und sie packen dich mit ihrem festen Griff. Und sie zerren dich empor zu sich. Hinauf, an ihre Luft.
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freiTEXT | Eugen Fuchs
Das deutsche Butterbrot
Einem deutschen Butterbrot begegnete ich zuerst in der Grundschule beim gemeinsamen Frühstück. Die Eltern meiner Mitschüler waren da und belegten fleißig Brote. Egal ob mit Käse oder Wurst – zuerst kam immer die Schicht Butter. Bei uns zuhause war das anders – da kam die Wurst direkt aufs Brot.
Das nächste entscheidende Ereignis, das mich davon überzeugen ließ, dass auf einem deutschen Brot Butter zu sein hat, folgte in der Orientierungsstufe. Da machte meine Mutter mir noch das Pausenfrühstück: Geröstetes Toastbrot und immer zwei Scheiben Aufschnitt, meist Mortadella, sonst nichts. So wie wir da in der ersten großen Pause auf dem Hof standen und unsere Schnitten verzehrten, hatte einer meiner Mitschüler oft was an meinen Broten zu bemängeln. Es war ein sehr großer, dicker Junge, bereits mit zwölf hatte er am Kinn einen blonden Flaum von Bart. Seine Mutter war alleinerziehend und man wusste, dass sie wenig Geld hatte. Er schüttelte oft seinen Kopf über meine Brote.
„Zwei Scheiben Aufschnitt“, sagte er, „Wenn man Butter nehmen würde, würde auch eine reichen und besser schmecken würde es auch!“
Ich wollte aber keine Butter auf meinem Brot, ich wollte eine zweite Scheibe Wurst.
Eines Morgens, meine Eltern und ich waren zu Besuch bei Freunden, beobachtete ich am Frühstückstisch, wie unsere Gastgeber, ebenfalls Spätaussiedler wie wir, sich Butter auf ihre Brote schmierten, bevor – und da staunte ich wirklich gar nicht schlecht – sie dann auf die Butter Nutella schmierten. Meine Schlussfolgerung war, dass diese Leute unglaublich integriert sein mussten, ja, kurz vor der Assimilation standen!
Auch auf dem Gymnasium sah ich meine Mitschüler solche deutschen Brote aus ihren Tupperdosen hervorholen. Wenn man sich in der Cafeteria ein belegtes Brötchen kaufte, kam das mit Butter.
So ging ich in meine erste Beziehung mit einer sehr genauen Vorstellung vom deutschen Essverhalten.
Zuerst sah ich meine Freundin nur am Wochenende, doch bald besuchte ich sie auch unter der Woche und irgendwann verbrachte ich jeden Nachmittag und Abend bei ihr. Da man ja auch etwas essen musste, setzten wir uns schließlich zum Abendbrot mit an den Esstisch. Zuhause aßen wir zu Abend meist Reste vom Mittagessen, mal ein Tiefkühlgericht oder machten uns auch schon mal ein Brot, doch wir nannten es Abendessen. Bei meiner Freundin gab es abends in der Woche immer Brot und Tee. Schon allein der Ausdruck „Abendbrot“ sagte mir, hier wird Brot ernst genommen.
So saßen wir also das erste Mal gemeinsam am Tisch. Es war eine lange Tafel, die wir gerade mal so zur Hälfte besetzten. Am Kopfende immer der Vater, neben mir meine Freundin, ihr gegenüber die Mutter, mir gegenüber der Bruder. Die Platte reichlich gedeckt mit weißen Brötchen und Vollkornbrot, Hähnchenbrustaufschnit, Schinkenwurst, Salami, Leberwurst, einem Stück Käse, daneben ein Käsehobel, Marmelade, Nutella, Frischkäse, einer Kanne schwarzen Tee, Milch, Zucker, doch Moment mal – wo war die Butter? Auf dem Tisch stand weder Butter noch Margarine. Das erste gemeinsame Essen mit der Familie meiner Freundin löste schon genug Nervosität in mir aus, nun drohte aber mein Weltbild ins Wanken zu kommen. Alle anderen waren schon längst beim Essen und ich saß da und glotzte den Tisch an. Um so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung, griff ich zum Frischkäse und bestrich eine Brötchenhälfte damit, legte eine Scheibe Schinkenwurst darüber und biss hinein. Es schmeckte scheußlich. Ich würgte es herunter und schmierte mir noch eins. So machte ich es dann jeden Abend, Woche für Woche saß ich nervös am Tisch, sagte gar nichts, fühlte mich beobachtet und aß diese furchtbaren Brote.
Eines Abends, wir hatten gerade wieder gemeinsam gegessen, kuschelten meine Freundin und ich im Bett. Da fragte sie mich, ob ich bei ihnen auch satt werden würde und ob es auf dem Tisch an irgendetwas mangelte, das ich gern hätte.
„Weißt du“, sagte sie, „viele vermissen die Butter bei uns.“
Ich tat unbeeindruckt.
„Wir tun die Sachen so drauf“, sagte sie, „aber wenn du gerne Butter haben möchtest, Mama kann beim nächsten Einkauf gerne welche mitbringen.“
Erst jetzt wurde mir klar, dass ich nie, wirklich nie darauf geachtet hatte, was die anderen gegessen hatten. Ich war so mit mir selbst beschäftigt gewesen, hatte solche Angst gehabt, anders zu sein, dass ich völlig blind geworden war.
„Aber du tust dir ja immer Frischkäse drauf“, sagte sie, „schmeckt das denn?“
„Oh ja, ich mag das gerne!“
Viele Jahre sind seitdem vergangen. Nie wieder habe ich ein Frischkäse-Schinkenwurst-Brot gegessen.
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freiTEXT | Jakob Klein
Die Wunde
Ich löste die Spalten einzeln vom Fruchtkörper der Orange, sodass der Saft durch die Zwischenräume der Finger bis über das Handgelenk rann. Ein Tropfen floss über die Kuppe meines rechten Zeigefingers in die Wunde, die ich mir vor kurzem zugezogen hatte. Es war nur ein schmaler Streifen Hornhaut am Nagelrand gewesen, an dem ich gedankenlos gezogen hatte. Jetzt, da der Orangensaft in die Öffnung trat, spürte ich sie deutlich. So deutlich, dass ich die halbe Nacht nicht schlafen konnte.
Als ich die Wunde am nächsten Morgen immer noch spürte, begann ich mir Sorgen zu machen. Ich begutachtete die Stelle. Die Wunde war noch offen, die Haut rundherum war leicht gerötet und sie spannte ein bisschen. Ich verteilte etwas Zinkpaste darauf und umwickelte die Fingerkuppe mit einem Pflaster. Darunter spürte ich es pochen. Auf der Straße meinte ich, jeder müsste dieses Pochen hören.
Außer dass ich auf Zitrusfrüchte verzichtete, änderte sich zunächst an meinen äußeren Lebensumständen wenig. Ich turnte nach dem Aufstehen am Balkon, trank koffeinfreien Instantkaffee, nahm den Bus wie jeder andere auch. Bei der Arbeit baumelte ich im Bürostuhl und abends datete ich Tinder-Bekanntschaften. Weil ich aus Bequemlichkeit den Suchradius auf zwei Kilometer um meine Wohnung gesetzt hatte, kam es oft zu der unangenehmen Situation, dass wir im Gespräch gemeinsame Bekannte entdeckten. Meistens endeten diese Abende über einer Schüssel Wasabi-Nüsse beim Beobachten der Karaoke-Sänger. Ich musste dabei ungemein aufpassen, nicht meinen rechten Zeigefinger zu benutzen.
Trotz alledem gelang es mir, das kleine Ungemach, das mir die Wunde bereitete, zu vergessen. Eines Tages holte ich am Heimweg aus der Packstation eine Osmoseanlage ab. Ich wusste nicht, dass es so etwas überhaupt gab, geschweige denn, dass ich es bestellt hatte. Ich beschloss ab da nur noch gefiltertes Wasser zu trinken. Wieder einmal fragte ich mich, wie ich bisher überhaupt gelebt hatte. Sogar ins Restaurant nahm ich – in einem Flachmann in der Innentasche meines Parkas versteckt – eine geringe Menge davon mit. Zu dieser Zeit traf ich Marlies. Marlies war die erste Person mit Zöpfen, die ich kannte, die es schaffte, erwachsen auszusehen. Auch sie besaß eine Osmoseanlage. Als ich das herausfand, dachte ich wirklich, es könnte etwas werden. Was ich noch über sie herausfand: dass sie jeden Morgen eine Krill-Öl-Kapsel nahm. Dass sie aus Laibach kam. Dass sie in einer Bio-Schöpferei arbeitete.
„Büttenpapier bekommst du halt beim Tedi nicht.“ Marlies ließ ein Sashimistück zwischen ihren violetten Lippen verschwinden. Ich saß zu weit weg, aber ich stellte mir vor, dass sie nach Kleister roch.
„Was hast du da?“ Marlies deutete mit den Stäbchen auf meinen rechten Zeigefinger. Zunächst wusste ich nicht, was sie meinte. Da war es auch schon zu spät. Sie hielt den Finger in ihren Schöpfer-innenhänden. Ruckartig zog ich ihn zurück. Marlies sah mich an. Ich hatte plötzlich Durst und griff nach dem Flachmann. Ein Japaner mit glänzender Stirn keifte mich an. Die Wunde pochte.
„Alles ok?“ Ich nickte, konnte mich aber kaum rühren. Ich entschuldigte mich und verschwand im WC. Ich nahm das Pflaster ab und entdeckte, dass sich unterhalb der Wunde ein neuer Hautstreifen gebildet hatte. Ich zupfte daran. Mit einiger Mühe ließ er sich abziehen, wodurch sich die Wunde jedoch vergrößerte. Sie brannte; ich hatte Sojasauce an den Händen gehabt. Vor Schmerz zitternd hielt ich sie unter kaltes Wasser. Jemand kam. Hastig packte ich den Finger in Einwegtücher und ging nach Hause.
Zuhause kauerte ich mich dann mit einer Tube Zinkpaste auf mein Bett. Ich dachte daran, wie wir jetzt in Marlies‘ Küche sitzen und Wasser filtern könnten. Ich holte mein Handy heraus, setzte eine Nachricht auf, verwarf sie wieder. Auf der Website der Schöpferei bestellte ich einen Stoß Büttenpapier. In die Spalte „Spezielle Wünsche“ schrieb ich: Bitte verzeih mir. Dann wechselte ich das Pflaster. Beim Abspülen der Zinkpaste machte ich eine Entdeckung: Schorf. Ich versuchte ihn wegzukratzen. Es tat weh. Ich ließ es.
Dass ich morgen wieder arbeiten sollte, erschien mir absurd. Trotzdem kam es so.
Beim Tippen vermied ich die Tasten J, U und N. Leider war es nicht mehr Mai. Marlies schrieb nicht. Die Fingerkuppe war geschwollen. So ging es die nächsten drei Tage. Dann kam das Büttenpapier. Der Finger wurde größer. Ich ging zu meinem Hausarzt. Er nahm das Pflaster ab, spülte die Wunde und verband sie wieder. Danach schickte er mich nach Hause.
Unterdessen bereitete ich mich auf meinen Termin beim Dermatologen vor. Schon am Telefon hatte ich der Ordinationsassistentin klargemacht, dass es um Existentielles ging. In der Arbeit druckte ich – anstatt zu arbeiten – die Fotos der Wunde mit dem frischen Schorf aus. Ich vergrößerte sie und erhöhte den Kontrast, damit es unnatürlicher aussah. Ich heftete die Druckbögen zusammen, ordnete sie in eine Mappe ein und beschriftete sie mit Datum und Uhrzeit der Aufnahmen. Ich legte eine ganze Kartei solcher Mappen an. Noch nie hatte mir die Arbeit dermaßen Spaß gemacht.
Das Pflaster wechselte ich von nun an fünf Mal am Tag. Ich erinnerte die Ordinationsassistentin
mir sofort Bescheid zu geben, falls jemand ausfiel. Marlies reagierte nicht auf meine Nachrichten. Stattdessen wurden nun die Träume häufiger. In einem erklärte mir mein Hausarzt die Funktionsweise eines Beils, als wäre es eine neuartige medizinische Methode. In einem anderen rannte ich mit einem verletzten Vogel in der Innentasche meines Parkas durch eine Straße voller Schnellrestaurants. Immer wieder trat ein Japaner aus der Ladentüre hervor und keifte etwas, was den Vogel in Aufruhr versetzte. Es waren wirklich harte Nächte.
Am Morgen des Termins stand ich auf wie immer. Ich turnte, trank Instantkaffee und filterte das Wasser für den Tag. Beim ersten Wechseln des Pflasters hielt ich inne. Etwas war anders. Ich konnte zuerst nicht sagen was, also verteilte ich gewohnheitsmäßig ein wenig Zinkpaste und schnitt ein neues Pflaster zurecht. Doch etwas daran irritierte mich. Ich traf auf keine Unebenheiten auf der Oberfläche der Haut. Nach dem Abwaschen der Zinkpaste dann die Gewissheit: Die Wunde hatte sich über Nacht geschlossen…
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freiTEXT | Henni-Lisette Busch
Untersuchung des Drogenvokabulars auf sein poetisches Potenzial:
Nur das kann ich, denn ich saß am See, als sie hinter mir tanzten, oder am Feuer saßen auf der befleckten Matratze, oder im Auto auf den zurückgelehnten Vordersitzen mit Ketamin im Gehirn und tauben Synapsen. Du existierst dann nicht mehr, sagte mir einer von ihnen, nicht du, als wir auf der Matratze am Lagerfeuer saßen und du, nicht er, dich im Rausch auf meinen Schoß legtest. Du bist einfach nicht mehr da oder nur noch ein ganz kleines bisschen und das ist manchmal sehr erleichternd, sagte er. Ich legte meine Flasche Billigwein in den Rasen und kraulte deinen nicht vorhandenen Kopf. Du löst dich auf und bist an einem Ort, wo sich deine Nicht-Existenz anfühlt wie Apfelmus mit Vanillesoße und du lachtest in meinen Schoß.
Meine Hand eckte nach unten, stieß den Finger zwischen kleine, kalte Halme und kratzte in den Boden; das Stroboskop zuckte blau und weiß und grün und warf mit kantigen Schatten. Ich hielt ihm stand mit weiten Pupillen, die pulsierten wie die Bässe in der Luft aus Regen und die Musik jagte das Licht und ich saß am Feuer auf der Matratze, kopfloser Schoß.
Warum ich da war?
Kein ich, kein wir, nur atmen in Baumkronen und selbst gefühlte Unwichtigkeit. Letztendlich ist es egal, ob ich unter Schwarzlichtlampen oder in Hörsälen sitze, es ist auch egal, wie Apfelmus mit Vanillesoße schmeckt und das ist gar nicht pessimistisch gemeint, sagte ich dir in meinem Schoß, ob du existieren willst oder nicht, ist egal. Irgendwas passiert zwischen Kreißsaal und Krematorium, da hätten wir sie wieder, die Wörter mit K. Kaum kein Kind mehr, arbeitest du an deiner Karriere, bildest Kompetenzen aus, stichst Konkurrenten aus, wirst letztendlich von jeder KI übertrumpft, im Kapitalismus ist die Freizeit für Konsum und Kurzurlaube, dass Krieg herrscht und dass es sowas gibt wie Klimaerwärmung, musst du noch irgendwie deinen Kindern erklären und du musst weiterarbeiten an deiner Karriere, denn wenn du aufhörst, dich abzukämpfen, verlierst du den Anschluss, fällst erst durch Klausuren und dann auf deine Knie und zu viel Kaffee ist auch schlecht, Saufen bis zum Kotzen, Selbstzerstörung, dein Körper braucht zwar Kalorien, aber auch nicht zu viele, jemand in deiner Familie stirbt an Krebs und mit der Zeit werden deine Knochen porös und deine Kraft schwindet…
Das ist gar nicht pessimistisch gemeint und im Prinzip ist das auch nichts Neues, aber trotzdem kochst du abends, und trotzdem kannst du tanzen, und trotzdem kämpfst du weiter, weil du ein Lebenskünstler bist.
Ich wäre gerne ein Gedicht – hermetisch abgeriegelt, gegen Ks zum Beispiel, doch ich saß da unter der Schwarzlichtlampe und nahm keine Drogen, in ein paar Stunden werde ich wieder im Hörsaal sitzen und keine Notizen machen.
Den Schotterweg zu uns entlang stach das Scheinwerferlicht und dienstmüde Augen schweiften über Gesichter, bitte nur noch mit 30 bis 40 Dezibel und neben dem Deck lag was Buntes und ein bisschen Gras. Nicht-Existenzen sind lauter, als das Lärmschutzgesetz erlaubt, aber man konsumiert leise. Die Scheinwerfer stocherten durch die Dunkelheit zurück und still saß ich wieder am Feuer und dort in der Baumkrone hing das Licht.
Willst du auch?
Weiße Linie auf schwarzem Display. Später ging einer kotzen – nur wer fliegt, kann abstürzen. Ich schwenkte meine Flasche Billigwein gegen Lichtgezucke, fast leer. Auch Alkohol betäubt Synapsen. Alkohol trinke ich kaum, sagtest du, nicht mehr in meinem Schoß, sondern halb liegend neben mir. Der letzte, nachtkalte Schluck rann meine Kehle hinab und ich wendete meinen Kopf halb zu dir: wann legst du eigentlich auf, dann suchte ich mit dem Handytaschenlampenlicht einen Ort zum Pinkeln.
Solche Musik imprägniert die Seele, ich weiß nicht, ob ich tanzte, ich bewegte meinen Körper, aber vielleicht bewegte mich die Musik, Arme eckten um meinen Rumpf und meine Beine stießen in den Boden und da schoss eine Ratte zwischen zehn bis zwölf Fußpaare hindurch, oder war das nur so ein gejagter Schatten?
Weißt du, und du lehntest dich zu mir rüber, ich wäre mit meiner Musik gern wie ein Pilz, der sein Netz im Untergrund entfaltet und mit seinen Sporen ein Umdenken bewirkt, wartetest kurz nur auf meine Reaktion und gingst dann rüber zum Deck und auf dem kurzen Weg dorthin verschlangen das Bild psilocybinbedingte Muster. Ich weiß nicht, was du sahst, aber genau das sah ich.
Den Stoff, aus dem Träume gemacht sind,
stellte ich mir selber her. Beim Tanzen zu deiner Musik meditierte ich, Visuals hatte ich nicht, aber ich visualisierte und stell dir vor, traumeigene Bilder mit DMT zu kombinieren… Weder romantisiere ich, noch verpflichte ich mich zur Moral und ich muss mich nicht erst zum Dessert bekennen, um die Möglichkeiten einer Nicht-Existenz in Klammern poetisch auszuschöpfen und nicht mal lyrisch muss ich sein, wenn Prosa bunt genug ist und irgendwo im Damals und Dort tanzte ich auf Träumen…
Und dann – sah ich – am Horizont – die Sonne.
Stell den Sturm auf stumm und unmute die Musik.
Es war nach sechs, das Lärmschutzgesetz schob die Regler hoch und mit der steigenden Sonne verblasste das Schwarzlampenlicht und Gold befleckte meine Wangen. Deine Hand lag kühl auf meiner Hüfte und ich war erleichtert, kein Gedicht zu sein. Meine selbstgemachten Visuals waberten hinter verschlossenen Augen noch auf den Wellen meines Unterbewusstseins, dann und wann ein Schaumkamm, Steilküste, Blick in die Ferne, ein Schritt und du fällst in die Sehnsucht. Warst du mit deiner Musik wie ein Pilz, fragte ich dich und entnahm deinem Schweigen eine Erinnerungslücke. Nur wer schreiben will, muss sich erinnern, also: hier sind deine Gedanken, ich schenke sie dir zurück.
Der Stoff, aus dem Träume gemacht sind,
glitzerte noch im Sonnenlicht. Meine imprägnierte Seele
atmete wieder und du lehntest dich zu mir rüber, einfach so, ohne was zu sagen, wartetest auf keine Reaktion und ich weiß nicht, was du sahst, aber ich sah dort hinten auf dem Feld im Nebel einen Kranich stehen.
Willst du auch
einen heißen Tee? Du holtest die Thermoskanne aus dem Auto, während ich sitzen blieb am See, hinter mir saßen sie an der Glut auf der befleckten Matratze und als du wiederkamst, waren wir hier und meine Existenz fühlte sich an, wie Apfelmus mit Vanillesoße. Meine Hand glitt durch kleine, kalte Halme und ich blickte der Sonne entgegen mit kleinen Pupillen.
Warum ich da war?
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freiTEXT | Felix Wünsche
Kind eines Vaters
Der Wind fuhr um die Hausecke, ein wenig kühl, spielte mit unseren Haaren. „Wir waren neulich bei Bekannten zum Geburtstag eingeladen. Da waren auch zwei Paare mit Kleinkindern und der eine Vater ist die ganze Zeit mit seinem Sprössling am Boden rumgekrochen. Hat sich echt zum Affen gemacht. Bubi hier, Bubi da. Rumgekeckert mit Babystimme. Immer schön auf den Knien rumgerutscht, weißte. So richtig peinlich. Und Applaus hat er auch noch dafür gekriegt von den Mamas. Schau mal, wie der sich kümmert, lächel, lächel. So ein Mist echt mal.“ Er zog an seiner Zigarette, die in der Herbstluft rot aufglomm, aschte ab. Sachte legten sich die feinen, verglühten Tabakteilchen auf meine Arbeitshose, auf die staubigen Schuhe. Roh und unverhohlen sauten mich seine Worte ein.
Was bleibt von mir, wenn ich mit sanfter Stimme gurre? Liebkose, mein Herz verliere? Bin ich verloren? Mir die ganze Kraft, die Welt zu stemmen, entrissen, Titanentod?
„Nicht meine Art, weißte. Man muss doch 'n bisschen Selbstrespekt haben. Das Leben ist auch einfach 'n Scheißdreck.“ Daran würgte er. Spuckte aus.
Zwei Jahre her. Der Dachstuhl war gerade fertig, Richtfest gefeiert. Vorm Winter würden die Dachpfannen drauf sein. Meine Arbeit war beendet. Mit ihm hatte ich öfter mal gequatscht in den Pausen, mal ein Bierchen getrunken. Wir lehnten an der rohen Betonwand. Seine Hand zerquetschte die aufgerauchte Zigarette, Ruß, schwarze Wut auf dem makellosen, gleichgültigen Grau.
In seinen Händen zeigt sich der Mensch, sie sind es, die liebkosen, erbauen, zerstören. Seine Hände waren muskelbepackt, nicht fähig, sich Konturen weich anzupassen, gewohnt, zuzupacken, zu schleppen, zu heben, Dinge zu bezwingen, zärtlich vielleicht zu aufsteigendem Mauerwerk.
Sein Junge war ein paar Mal auf der Baustelle gewesen. Wenn seine Mutter Dienst hatte samstags und die Oma zu Freunden oder Familie verreist war. Durfte eigentlich nicht auf die Baustelle, aber der Bauleiter drückte ein Auge zu, wenn er bei den Bauwagen blieb.
Strubbliges Haar, mattblond, Augen, die auszulaufen schienen. Aufgerissen, rote Augenlider, ein bleiches Gesicht, rotfleckig, die Mimik kämpfte gegen eine stille Erstarrung.
„Willst du 'ne Cola?“ Leises Nicken. „Komm.“ Ich musste ein Telefonat machen, eine Dienstplanänderung. Er stand an der Tür, den Kopf gesenkt, in der schmutzigen rechten Hand sein Handy. Ganz fest. Er hatte Muster mit den Fingern in den staubigen Sand vor den Wagen gezogen.
„Komm rein, setz dich.“ Ich holte eine Cola aus dem Kühlschrank, goss ihm einen Plastikbecher ein, den er zögerlich, ungeschickt mit der Linken griff. Trank mit niedergeschlagenen Augen, kleckerte sich Cola auf die Jacke, scheinbar ohne es zu merken. Klein war er. Sieben, hatte sein Vater mir erzählt. Robert. Seine Füße in den Gummistiefeln baumelten sachte in einem geheimen Rhythmus in der Luft.
Die Colaflasche noch in einer Hand, streckte ich spontan die andere aus, um ihm über die Haare zu fahren. Abrupt, heftig zuckte er zurück, ließ den Becher fallen, die Cola zeichnete dunkel einen Fleck auf den Boden, der sich langsam weiter in den Staub fraß. Steinern saß er da, unter den Wimpern quollen lautlos Tränen hervor, die Kiefer mahlten sie wegzubeißen.
„Alles okay. Alles gut, Robert. Ist nicht schlimm, hörst du? Tut mir ganz doll leid, dass ich dich erschreckt habe. Wir bringen das in Ordnung. Keine Angst. Ich wische das auf und du trinkst noch eine Cola auf den Schreck. Schau, ich stelle dir den Becher auf den Tisch hier. Du kannst ihn dir nehmen. Und ich mache den Fleck weg.“ Mir klumpte der Bauch. Weich redete ich auf ihn ein, wischte die Cola auf, sprach, ohne eine Antwort zu bekommen, über den Bagger, den ich ihn hatte bestaunen sehen und den gelben Baukran.
„Erzählst du nichts meinem Papa?“ Die Stimme war schmal. Das erste Mal blickte er mich an. Schüchtern, bereit, die Flucht zu ergreifen.
„Ich erzähle nichts. Versprochen. Großes Ehrenwort.“
„Meinst du, ich kann Baggerfahrer werden? Mein Papa sagt, nur gute Jungen können Baggerfahrer werden.“
„Ich bin ganz sicher, dass du Baggerfahrer werden kannst. Absolut. Du bist ein guter Junge. Das mit der Cola kann jedem passieren, wenn man sich erschreckt.“
Stumpfe Helligkeit warf Lichtstreifen in das Wageninnere. Durch das kleine, verschmutzte Fenster und den Spalt der halb offenen Tür stach sie herein, ließ seine grüne Jacke düster erscheinen. Die Cola hatte eine schmale Spur hinterlassen, vom Kragen hinab zur rechten Tasche.
„Wirklich?“
„Ja. Komm, ich wische dir die Cola ab. Dann muss ich mal telefonieren. Du kannst aber gerne hierbleiben.“ Ich wählte, drehte mich zum Dienstplan an der Rückwand und als ich aufgelegt hatte, mich umwand, war er weg.
Danach sah ich ihn nur noch einmal, als er mit seiner Mutter den Vater abholte. In der gleichen grünen Jacke stand er neben dem Wagen. Auf mein Winken reagierte er nicht. Hob nur kurz den Kopf, schaute mich an, als er einstieg, ein Blick, der mir blieb. Sein Vater hupte im Wegfahren. Eine lange Welle Verlassenheit schwappte mit vertrauter Wucht über mich hinweg.
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freiTEXT | Sean Keibel
Meister des Heldentums
Wir bilden unsere Helden aus wie jede andere Zunft. Sie bekommen keine Sonderbehandlung, denn in Anbetracht der Bescheidenheit als höchste Tugend würde das nur ihren Charakter verderben. Ihre Berufsbekleidung, die sie auf ihrem Weg in den Betrieb meist schon am Leibe tragen, soll nicht nach Aufmerksamkeit lechzen. Hält man sie in den Straßen an, so ist ihr lächelndes Schweigen auf Anfrage – Sind Sie Held? – keine Koketterie. Ein jeder Bürger ist ausdrücklich angehalten, normal mit diesen Menschen umzugehen, auch wenn es schwerfällt, im Bruder, in der Schwester, im Onkel, in der Tante, im Schwiegervater, in der Schwiegermutter eben nicht mehr zu sehen als das; als Mitreisender im Zug muss man sich ihnen ja nicht zuwenden, aber wenn der Kontakt sich aufzwingt, darf man sich nicht blenden lassen vom strahlenden Heldentum, das einem ins Gesicht schlägt. Man darf nicht vergessen, dass sie ihre Heldenausbildung selbst gewählt haben; sich zu bewähren in der Not, sich gar aufzugeben, wenn es sein muss, und dabei ganz bescheiden zu bleiben und von sich aus niemandem von den eigenen Heldentaten zu erzählen, das bekommen sie ja im Berufsschulunterricht beigebracht, daraufhin werden sie trainiert, wie der Tischler in seinem Handwerk, wie der Maurer auch.
Wenn sie sich dann freigesprochen und frohen Mutes auf ihre Wanderschaft begeben, den Stock schwingend wie jeder andere Geselle und gehüllt in Tarnkleider, damit sie nicht auffallen, so sind sie nicht in Versuchung zu führen, keiner darf sie um Hilfe bitten, wenn Not am Mann ist, vielmehr müssen sie ihr Meisterstück von selbst erspähen und sich aus freien Stücken ohne Anleitung eines Anderen in die Aufgabe stürzen. Dies ist, offen gestanden, eine alte Sitte; später wird man ihnen genau sagen, wohin sie sich zu begeben haben und was sie dort tun sollen, was es ihnen, den Jüngeren, leichter macht Held zu sein; um die Älteren aber nicht zu brüskieren, deren Arbeitsalltag noch ganz anders war und ganz andere Qualitäten abverlangte – sie sitzen ja überdies in den Gremien, diese Älteren, und bestimmen mit über die Ausbildungsinhalte –, um sie also nicht zu brüskieren, belässt man einige der alten Sitten, damit die jungen Helden wissen, wie schwer es ihre Vorgänger einmal hatten und wie viel Respekt ihnen damit gebührt. Die Jungen nehmen es hin, sie nehmen es sogar auf und werden eines Tages vor den noch Jüngeren selbst darauf bestehen. Vorerst aber sind sie schließlich, nach sorgsam choreographierten Lehrjahren, Meister des Heldentums, die hoch gehandelt werden. Einige treten der Handelskammer bei und beteiligen sich an der Nachwuchsförderung.
Viele unserer Nachbarvölker neiden uns unsere Helden. Es sei ja alles viel zu durchorganisiert, blöken sie, eine Heldenreise könne nicht verordnet werden. In Wirklichkeit aber, da sind wir uns sicher, sind sie schon längst dabei, in aller Heimlichkeit ihre eigenen Helden zu produzieren. Freilich besorgt uns das nicht, denn wir haben den Vorsprung; was uns besorgt, betrifft unsere Bevölkerung, den einfachen Bürger, den es von allzu großer Verehrung, ja am besten jeglicher Verehrung unbedingt abzuhalten gilt, bevor er beginnt sich zu fragen: Wenn die Helden höher gehandelt werden als er selbst, weil sie sich für ihn, den Bürger, der also weniger wert ist, aufgeben würden – worin liegt ihr Wert dann eigentlich?
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freiTEXT | Tabea Baumann
Fünfzehn mal drei
Ich liebe dich
sage ich, und die Abwesenheit einer Antwort sagt mir alles. Ich nehme einen Schluck Tee, und verbrenne mir die Zunge, obwohl er schon seit Stunden in der Tasse ist.
Ich liebe dich
sagt sie, und küsst mich und für einen Moment bin ich König der unendlichen Weiten innerhalb einer Nussschale. Dann geht sie und die Nussschale schließt sich, wird wieder klein, bis ich mich nicht mehr bewegen kann und mir wünsche, eine Krähe würfe mich auf die Straße unter die Reifen eines silbernen Mercedes.
Ich liebe dich
brüllt er, und schlägt noch einmal zu, jede Silbe eingehämmert in die rötlichbräunlichgraue Masse, die einmal ein Gesicht war. Er weint dabei.
Ich liebe dich
tippt sie, und wartet darauf, dass die Ampel wieder grün wird. Sie schickt ein Herz-Emoji und fragt sich dabei, ob es ihrer Freundin auch aufgefallen ist, dass der Whatsapp-Feed nur aus Emojis und der Frage nach dem Abendessen besteht.
Ich liebe dich
flüstere ich, und denke dabei an eine andere.
Ich liebe dich
schneidet sie dem Baum in die Rinde, und verbringt dann den Rest des Tages damit, das Harz vom Messer zu kratzen. In zwei Jahren wird der Baum gefällt sein und ihre Freundin wird den Schlagzeuger geheiratet haben, über den sie sich gemeinsam lustig gemacht haben.
Ich liebe dich
denkst du, sagst es aber nicht, weil in jedem Paralleluniversum eine Version von dir existiert, die mutig ist, aber hier und jetzt gibt es nur dich.
Ich liebe dich
lacht er, und streichelt den Bauch seines Freundes, genau unter dem Nabel, wo seit einigen Wochen die ersten grauen Haare wachsen. Der Bauch ist weich und die Sonne lässt das Silber glitzern, als wäre es kostbar.
Ich liebe dich
keuchst du, und ich schaue an die Decke, die der Vormieter schlecht gestrichen hat und frage mich, warum es heute im Supermarkt keinen Fenchel gab.
Ich liebe dich
sagt der Mann am Nachbartisch zu seiner Tochter, vielleicht ist es aber auch seine Freundin. Sie lächelt ihn abwesend an und schraubt den Salzstreuer auf und zu, auf und zu, auf und zu.
Ich liebe dich
murmelt er, schon fast eingeschlafen, und wirft seinen Arm über dich, und du fühlst dich wie eine Eiche, die langsam vom Efeu erstickt wird. Dem Efeu vor dem Fenster ist das egal, der wächst weiter.
Ich liebe dich
sagt das Mädchen zu ihrer Freundin, die lacht und ihr ein Gänseblümchen in den Mund steckt, den bitteren grünen Stängel voran.
Ich liebe dich
gesteht der junge Mann der Barista, die ihn mitleidig ansieht und ihm seinen Kaffee in die Hand drückt. Er geht, und wirft den Becher vor der Tür in den Müll.
Ich liebe dich
sagt der Engel, und die alte Frau lächelt. Der Engel sieht aus wie ihr Mann, mit Flügeln aus Neonlicht.
Ich liebe dich
sage ich. „Ich dich auch“, sagst du.
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