freiTEXT | Jakob Klein
Die Wunde
Ich löste die Spalten einzeln vom Fruchtkörper der Orange, sodass der Saft durch die Zwischenräume der Finger bis über das Handgelenk rann. Ein Tropfen floss über die Kuppe meines rechten Zeigefingers in die Wunde, die ich mir vor kurzem zugezogen hatte. Es war nur ein schmaler Streifen Hornhaut am Nagelrand gewesen, an dem ich gedankenlos gezogen hatte. Jetzt, da der Orangensaft in die Öffnung trat, spürte ich sie deutlich. So deutlich, dass ich die halbe Nacht nicht schlafen konnte.
Als ich die Wunde am nächsten Morgen immer noch spürte, begann ich mir Sorgen zu machen. Ich begutachtete die Stelle. Die Wunde war noch offen, die Haut rundherum war leicht gerötet und sie spannte ein bisschen. Ich verteilte etwas Zinkpaste darauf und umwickelte die Fingerkuppe mit einem Pflaster. Darunter spürte ich es pochen. Auf der Straße meinte ich, jeder müsste dieses Pochen hören.
Außer dass ich auf Zitrusfrüchte verzichtete, änderte sich zunächst an meinen äußeren Lebensumständen wenig. Ich turnte nach dem Aufstehen am Balkon, trank koffeinfreien Instantkaffee, nahm den Bus wie jeder andere auch. Bei der Arbeit baumelte ich im Bürostuhl und abends datete ich Tinder-Bekanntschaften. Weil ich aus Bequemlichkeit den Suchradius auf zwei Kilometer um meine Wohnung gesetzt hatte, kam es oft zu der unangenehmen Situation, dass wir im Gespräch gemeinsame Bekannte entdeckten. Meistens endeten diese Abende über einer Schüssel Wasabi-Nüsse beim Beobachten der Karaoke-Sänger. Ich musste dabei ungemein aufpassen, nicht meinen rechten Zeigefinger zu benutzen.
Trotz alledem gelang es mir, das kleine Ungemach, das mir die Wunde bereitete, zu vergessen. Eines Tages holte ich am Heimweg aus der Packstation eine Osmoseanlage ab. Ich wusste nicht, dass es so etwas überhaupt gab, geschweige denn, dass ich es bestellt hatte. Ich beschloss ab da nur noch gefiltertes Wasser zu trinken. Wieder einmal fragte ich mich, wie ich bisher überhaupt gelebt hatte. Sogar ins Restaurant nahm ich – in einem Flachmann in der Innentasche meines Parkas versteckt – eine geringe Menge davon mit. Zu dieser Zeit traf ich Marlies. Marlies war die erste Person mit Zöpfen, die ich kannte, die es schaffte, erwachsen auszusehen. Auch sie besaß eine Osmoseanlage. Als ich das herausfand, dachte ich wirklich, es könnte etwas werden. Was ich noch über sie herausfand: dass sie jeden Morgen eine Krill-Öl-Kapsel nahm. Dass sie aus Laibach kam. Dass sie in einer Bio-Schöpferei arbeitete.
„Büttenpapier bekommst du halt beim Tedi nicht.“ Marlies ließ ein Sashimistück zwischen ihren violetten Lippen verschwinden. Ich saß zu weit weg, aber ich stellte mir vor, dass sie nach Kleister roch.
„Was hast du da?“ Marlies deutete mit den Stäbchen auf meinen rechten Zeigefinger. Zunächst wusste ich nicht, was sie meinte. Da war es auch schon zu spät. Sie hielt den Finger in ihren Schöpfer-innenhänden. Ruckartig zog ich ihn zurück. Marlies sah mich an. Ich hatte plötzlich Durst und griff nach dem Flachmann. Ein Japaner mit glänzender Stirn keifte mich an. Die Wunde pochte.
„Alles ok?“ Ich nickte, konnte mich aber kaum rühren. Ich entschuldigte mich und verschwand im WC. Ich nahm das Pflaster ab und entdeckte, dass sich unterhalb der Wunde ein neuer Hautstreifen gebildet hatte. Ich zupfte daran. Mit einiger Mühe ließ er sich abziehen, wodurch sich die Wunde jedoch vergrößerte. Sie brannte; ich hatte Sojasauce an den Händen gehabt. Vor Schmerz zitternd hielt ich sie unter kaltes Wasser. Jemand kam. Hastig packte ich den Finger in Einwegtücher und ging nach Hause.
Zuhause kauerte ich mich dann mit einer Tube Zinkpaste auf mein Bett. Ich dachte daran, wie wir jetzt in Marlies‘ Küche sitzen und Wasser filtern könnten. Ich holte mein Handy heraus, setzte eine Nachricht auf, verwarf sie wieder. Auf der Website der Schöpferei bestellte ich einen Stoß Büttenpapier. In die Spalte „Spezielle Wünsche“ schrieb ich: Bitte verzeih mir. Dann wechselte ich das Pflaster. Beim Abspülen der Zinkpaste machte ich eine Entdeckung: Schorf. Ich versuchte ihn wegzukratzen. Es tat weh. Ich ließ es.
Dass ich morgen wieder arbeiten sollte, erschien mir absurd. Trotzdem kam es so.
Beim Tippen vermied ich die Tasten J, U und N. Leider war es nicht mehr Mai. Marlies schrieb nicht. Die Fingerkuppe war geschwollen. So ging es die nächsten drei Tage. Dann kam das Büttenpapier. Der Finger wurde größer. Ich ging zu meinem Hausarzt. Er nahm das Pflaster ab, spülte die Wunde und verband sie wieder. Danach schickte er mich nach Hause.
Unterdessen bereitete ich mich auf meinen Termin beim Dermatologen vor. Schon am Telefon hatte ich der Ordinationsassistentin klargemacht, dass es um Existentielles ging. In der Arbeit druckte ich – anstatt zu arbeiten – die Fotos der Wunde mit dem frischen Schorf aus. Ich vergrößerte sie und erhöhte den Kontrast, damit es unnatürlicher aussah. Ich heftete die Druckbögen zusammen, ordnete sie in eine Mappe ein und beschriftete sie mit Datum und Uhrzeit der Aufnahmen. Ich legte eine ganze Kartei solcher Mappen an. Noch nie hatte mir die Arbeit dermaßen Spaß gemacht.
Das Pflaster wechselte ich von nun an fünf Mal am Tag. Ich erinnerte die Ordinationsassistentin
mir sofort Bescheid zu geben, falls jemand ausfiel. Marlies reagierte nicht auf meine Nachrichten. Stattdessen wurden nun die Träume häufiger. In einem erklärte mir mein Hausarzt die Funktionsweise eines Beils, als wäre es eine neuartige medizinische Methode. In einem anderen rannte ich mit einem verletzten Vogel in der Innentasche meines Parkas durch eine Straße voller Schnellrestaurants. Immer wieder trat ein Japaner aus der Ladentüre hervor und keifte etwas, was den Vogel in Aufruhr versetzte. Es waren wirklich harte Nächte.
Am Morgen des Termins stand ich auf wie immer. Ich turnte, trank Instantkaffee und filterte das Wasser für den Tag. Beim ersten Wechseln des Pflasters hielt ich inne. Etwas war anders. Ich konnte zuerst nicht sagen was, also verteilte ich gewohnheitsmäßig ein wenig Zinkpaste und schnitt ein neues Pflaster zurecht. Doch etwas daran irritierte mich. Ich traf auf keine Unebenheiten auf der Oberfläche der Haut. Nach dem Abwaschen der Zinkpaste dann die Gewissheit: Die Wunde hatte sich über Nacht geschlossen…
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