freiTEXT | Dania D'Eramo

Davor. Danach

Später werden wir alles erfahren: den Ursprung von Erschütterungen und Dröhnen im tiefen Gestein, den genauen Zeitpunkt – 2 Uhr 33 Minuten 14 Sekunden.
Davor ist es eine Nacht im September, die Süße letzter Blüten noch in der Luft. Und wir haben noch ein paar Momente des unbemerkten Lebens. Ein Leben, das wir so nie wahrnehmen, bis es nicht mehr so ist, wie es war, das vor sich hin pulsiert – durch unsere Adern, unsere Lungen, ohne scheinbare Steuerung, als gehörte es nicht uns, als wäre es von uns getrennt.
Danach ist es die Nacht des Bebens.
Stimmen aus Fernsehen und Radio erklären uns, was wir erlebt haben. Es ist eine Vermessung des Schreckens in einzelnen Fakten, in der jeder dieser Fakten einen Namen und eine Zahl bekommt. Nicht aber unser plötzliches Aufwachen, nicht das unkontrollierte Erbeben der Körper, das Barfußhasten auf unsicherem Boden. Weder unsere Rufe noch das Grollen aus der Tiefe der Erde.
Als wir dieser Vermessung zuhören, sind wir schon lange in einer Welt aufgewacht, in der nichts mehr ist, wie es eine Sekunde oder auch nur Millisekunden davor war. Einer Welt, in der Dächer in die Häuser einbrechen, Klüfte Straßen spalten, Risse durch Wände laufen wie Wunden, aus denen das Innere dringt.
Es ist eine Welt, in der am Vormittag desselben Tages – oder, so die Vermessung, um 11 Uhr 40 Minuten 24 Sekunden – unter strahlender Sonne der Schrecken nochmals an unserer Tür rüttelt und wir nicht anders können, als ihn hereinzulassen. Und dann fällt Giottos Sternenhimmel wie eine falsche Prophezeiung herab. Nun ein Meer aus Steinpulver und Lapislazuli, begräbt er Menschen unter sich. Und da steht Großmutter vor ihrem Haus und sieht es schwanken, während Großvater im Olivenhain die Erschütterung unter seinen Füßen spürt. Mit den Händen die Augen beschattend, versucht er, von dort oben das Haus im Dorf zu finden, und hofft, hofft, es nicht unter die zusammengestürzten zählen zu müssen.
Zwölf Jahre später – Großvater ist inzwischen gestorben – darf Großmutter nach dem Wiederaufbau hinein, in ihr altes Haus, das nun ihr Witwensitz ist. Zu diesem Zeitpunkt haben wir fast schon vergessen, wie der Kamin im Esszimmer riecht, wie der Kirchturm, dessen Glockenschläge sich in die Träume meiner Kindheitssommer einschlichen, vor dem Küchenfenster aufragt; wir wissen nicht mehr, wie der Blick vom Balkon die Pappeln am Fluss umfasst und wie sich ihr Wispern zusammen mit dem Rauschen des Wassers an windigen Tagen anhört. Wir versuchen, uns an all das zu erinnern, und denken an Großvater, wie er am Kamin sitzt und seine Filterlosen raucht. Dass ich hier jetzt allein leben muss, sagt Großmutter und bleibt an der Türschwelle stehen.
Und ich denke an jene Momente zurück, als es noch eine Nacht im September ist und wir in unseren Betten schlafen, als ich noch ein, zwei, vielleicht drei Sekunden habe, bevor das grausame Wiegen mir eine Stimme gibt, die aus mir kommt wie ein eigenständiges Wesen, als wäre sie von mir getrennt. Bis ich zur Magnitude der Erschütterung ganz aufwache – zur Nacht des Bebens.

 

Dania D'Eramo

 

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