freiTEXT | Clara Dobbelstein
Kerstin
Eigentlich hatte Christina den Gartenteich für die Koi-Karpfenhaltung angelegt. Sumpfdotterblumen und Schwertlilien hatte sie gepflanzt, auch Pfeilkraut und Seerosen. Sie hatte eine Terrasse mitsamt einem schmalen Steg aus Douglasienholz anbauen lassen.
Nachts durchzogen bunt gescheckte Koi-Karpfenschwärme Christinas Träume. Sie konnte die Koibabys kaum mehr erwarten, so sehr sehnte sie sich danach, die kühle Karpfenhaut unter ihren Fingern vorübergleiten zu spüren.
Doch dann kam Kerstin. Eigentlich wollte Christina sie nur vorübergehend aufnehmen. Ihre Nachbarin hatte unter Tränen darum gebeten. Kerstin sei in letzter Zeit aggressiv geworden. Sie bräuchte zumindest für ein paar Tage ordentlich Auslauf und frische Luft.
Christina hatte sich erbarmt und die verwahrloste Kreatur aufgepäppelt. Erst bei der Übergabe war ihr erklärt worden, dass es sich um eine Schnappschildkröte handele. Schnappschildkröten könnten mit einem blitzschnellen Happs einen Finger abbeißen. Deswegen solle Christina ein bisschen aufpassen.
Anfangs warf sie Kerstin nur im Vorübergehen ihr Futter ins Wasser. Ständig hatte sie das Gefühl, Kerstin liege auf der Lauer, um plötzlich hervorzuschnellen und sich in ihrem durch den dünnen Boden des Flip-Flops kaum geschützten Zeh zu verbeißen. Es war fast so, als würde sie einen Tiger halten. Christina lebte mit einer immerwährenden Bedrohung an ihrer Seite, als Herrin über ein Wesen, vor dem andere Hals über Kopf die Flucht ergriffen hätten.
Von einem Tag auf den nächsten hatte Kerstin sie zu einem besonderen Menschen gemacht. Jemand, der sich von den anderen unterschied. Jemand, dessen stilles Wasser tief war und nicht nur Seerosenstängel barg.
Christina war ihr Leben lang mittelmäßig gewesen. Es fing mit ihrem Namen an. Es ging mit ihrem Äußeren weiter. Sie war weder schön noch hässlich, weder dick noch dünn, weder groß noch klein. Sie hatte erst Prinzessin und dann Tierärztin werden wollen, um schließlich eine Ausbildung zur Bankkauffrau zu machen. Sie hatte geheiratet, zwei Kinder bekommen und sich vor fünf Jahren geschieden. Sie lebte in einem Reihenhaus und fuhr in den Urlaub nach Norderney. Sie ging zweimal die Woche ins Gym und machte einmal die Woche Rücken-Fit, seit einem Bandscheibenvorfall während Corona.
Aber jetzt hatte sie etwas zu erzählen! Etwas, bei dem nicht alle sagen konnten: „Ich versteh voll, was du meinst“ oder „Irgendwoher kommt mir das bekannt vor“. Eine Schnappschildkröte namens Kerstin hatte nicht jeder. Bald wussten alle Freundinnen Bescheid. Christina adoptierte Kerstin.
Mit der Zeit wurde Christina waghalsiger. Sie blieb neben dem Teich stehen und beobachtete, wie Kerstin ihr Futter aus Mehlwürmern und Grillen verschlang. Irgendwann überwand sie sich sogar, Kerstin am hintersten Ende ihres Panzers zu kraulen. Ihr war, als legte sie ihre Hand in ein Tigermaul.
An einem Samstagnachmittag erhielt sie den Anruf. Torsten, der älteste Sohn ihrer besten Freundin, war am Telefon. Torsten sagte, er hätte von Christinas Schnappschildkröte gehört. Ob er sie mal besichtigen und ein kleines Video drehen dürfe?
Christina fühlte sich geschmeichelt. Torsten war ein liebes Kind gewesen, aber sie hatte ihn seit Jahren kaum zu Gesicht bekommen. Umso erstaunter war sie, als ein hoch aufgeschossener junger Mann vor ihrer Haustür stand und ihr selbstbewusst die Hand reichte: „Lange nicht gesehen.“
Voller Stolz führte sie Torsten nach einer ausführlichen Gefahrenbelehrung zum Gartenteich. Sofort zückte Torsten sein Handy und filmte die über den Steg watschelnde Schildkröte. Dann ließ er das Handy sinken. Ob er das Video mit ein paar Leuten teilen dürfe? „Klar doch“, sagte Christina begeistert von seinem Interesse. Er bat sie, ein oder zwei Sätze in die Kamera zu sprechen. Aufgeregt winkte sie und sagte: „Hallöchen! Das ist meine Schnappschildkröte Kerstin und ich bin die Christina.“
Kerstin kam noch ein Stück näher. Rasch zückte Christina ein großes Blatt Wassersalat und ließ es vor Kerstins Maul pendeln, bis sie gierig danach schnappte und es einsog. Torsten schwenkte das Handy wieder auf Christinas Gesicht. „Also dann, tschüssi!“, rief sie.
Auf einen Kaffee wollte Torsten nicht bleiben. Aus der Küche sah sie, wie er beim Weggehen die Hausfassade filmte.
Eine Woche später begannen die Leute auf der Straße, ihr Blicke zuzuwerfen. Anfangs hielt sie es für Zufall, dass die Menschen die Köpfe zusammensteckten, wenn sie an ihnen vorüberging. Aber dann fragte ein Mädchen, ob sie vielleicht ein Autogramm bekommen dürfe. Sie sei doch die mit der Schnappschildkröte. Woher sie denn das wisse. Naja, wegen dem Tiktokvideo.
Drei Tage später sprach man Christina erneut an. Und dann fast täglich. Ein paar Teenager wollten wissen, ob sie mal die Kerstin streicheln dürften. Sie würden auch dafür zahlen. Ein Junge rief ihr „Also dann, Tschüssi!“ hinterher und kicherte. Auf dem Heimweg hatte sie das Gefühl, dass man sie verfolgte, und als sie sich an der Haustür noch einmal umwandte, sah sie jemanden hinter dem Brombeergebüsch verschwinden.
Christina ging immer seltener nach draußen und wenn, dann trug sie Hut und Sonnenbrille. Doch sogar in diesem Outfit erkannte man sie oft. Sie war die mit der Kerstin. Die Zoowärterin eines Promis.
Eines Tages kniete sie auf dem Steg und betrachtete ihre in der Sonne rastende Schildkröte. Kerstin sah Christina aus ihren stumpfen Äuglein an. Christina starrte zurück. Abscheu stieg in ihr auf. Plötzlich merkte sie, wie sehr sie diese Kreatur hasste, die ihr Leben auf den Kopf gestellt und ihr den Grund unter den Füßen fortgerissen hatte. Sie war die Schuldige für Christinas kollektive Verfolgung. Sie hatte ihr früheres Leben aufgefressen und sich zum Gravitationszentrum gemacht, um das Christina nun täglich aufs Neue zu kreisen hatte. Ha, sie ließ sich doch nicht von einer Schildkröte an der Nase herumführen! Sie würde ausbrechen. Christina entschloss sich dazu, Kerstin für immer in das unterste Fach des Kellerkühlschranks zu verbannen.
Am nächsten Morgen wollte Christina zur Tat schreiten und Kerstin todesmutig beim Panzer packen. Doch als sie die Terrassentür öffnete, sah sie zwei vermummte Gestalten um die Ecke huschen. Keine Kerstin gähnte ihr mehr zahnlos aus der Tiefe des Gartenteichs entgegen, solange sie auch suchte und rief. Zweifellos: Man hatte ihr die Schildkröte entführt!
Christina schleuderte vor Freude die Flip-Flops von den Füßen und tanzte barfuß über den Steg, bis sie vor Erschöpfung einschlief.
Wieder durchzogen bunt gescheckte Koi-Karpfenschwärme ihre Träume. Kühle Karpfenhaut glitt unter ihren Fingern vorüber.
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freiVERS | Clara Dobbelstein
Das Nest
Sogar in meine hellsten Träume
Wirfst Du Dein grünes Schattenbild.
Und Deine Hände fahren durch das Laub
Wie früher – (damals beinah zärtlich) –
Durch Hecken meines Haargeästs.
Dein Griff wiegt schwer auf Lorbeerhaut,
Umschnürt wie Efeutaue meine Zweige,
Drückt mir die Luft aus den Organen.
Dein Kuss versickert als ein Bach
Im Labyrinth der Rindengänge.
Du warst schon immer halb ein Specht.
Doch als ich noch kein Lorbeer war,
Da ließ ich Dich in meinem Mund
Und meinen angewärmten Worten
Auch manchmal wie in einer Heimat nisten.
Ich baute Dir den Unterschlupf,
Die Welt blieb hinter einem Vorhang.
Durch meine Blätter blickst Du nicht
Nach draußen in die weite Ferne.
Du wartest immer weiter auf den Einlass.
Du pochst beharrlich, flehst und bittest –
Doch diesmal gibt es keine Tür für Dich.
So richte Dich im Schweigen ein
Und spanne Deine Blicke bis zum Morgen.
Vermische Deinen Schatten mit dem grünen Tag,
Und nicht mit mir und meinen hellen Träumen.
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