9 | Katharina Forstner

Ich zähle die Wände um meine Stunden
Eine Wand hat ein Fenster hinunter zur Straße
Ich würde hinausgehen hätte ich einen Grund
Eine Wand ist löchrig von meinen Fäusten
Ich würde sprechen wüsste ich zu wem
Eine Wand mahnt wir alle hätten zu tragen
Die Zimmerdecke oder den Zusammenhalt
Eine Wand schmiegt sich an meine Schulterblätter
Sie zeigt mir wie man versteinert

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Katharina Forstner

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8 | Martina Berscheid

Deadline

Arnes Bett knarrt leise, als er sich aufsetzt. Er schlüpft in seine Hausschuhe, sie quietschen auf den Fliesen. Ich zähle die Schritte, die sich vom Bett entfernen. Acht.

Als Arne die Tür schließt, atme ich auf. Drehe mich auf den Rücken. Starre an die Decke, als stünde dort geschrieben, was ich tun soll.

Endlich rapple ich mich auf. Ich muss es hinter mich bringen, bevor er das Haus verlässt.

Ich ziehe mich hastig an, gehe die Treppe runter, den Geräuschen aus der Küche entgegen. Arnes Summen zur Radiomusik. Dem Pfeifen des Kessels. Dem Schmatzen der Kühlschranktür.

Arne lächelt mir entgegen, als ich die Küche betrete. „Bist ja schon wach. Hab ich dich geweckt?“

Er kommt auf mich zu, streicht mir eine Haarsträhne aus der Stirn. Nach zehn Jahren bringt er mir noch immer eine Zärtlichkeit entgegen, als wären wir erst kurz zusammen.

Das macht es noch schwerer.

Er sieht frisch aus, dafür, dass er erst um zwei Uhr ins Bett gekommen ist. Sein Gesicht spiegelt Zufriedenheit.
Ein Kälteschauer huscht mir über den Rücken.
Ich schüttele den Kopf. Wortlos fällt mir das Lügen leichter.
Er dreht sich um, holt eine Tasse aus dem Schrank, die er mir zum Nikolaustag geschenkt hat. Lieblingsmensch steht darauf.

Er gießt Kaffee ein und reicht mir die Tasse. Ich achte darauf, dass sich unsere Finger nicht berühren. Damit er nicht merkt, wie kalt meine Hände sind.

Ich zucke zusammen, als zwei Brotscheiben aus dem Toaster springen. Arne nimmt sie heraus, legt sie auf einen Teller. Er hat wie immer für mich mit gedeckt. Obst geschnitten, das ich morgens gerne esse. Zwei Kerzen auf dem Adventskranz angezündet.
Er ist ein guter Mann.

Der schlechte Dinge tut.
Ich schlucke schwer an der Wahrheit. Trinke Kaffee, als könnte ich sie in den Magen spülen, wo sie sich zersetzt, in besser verdauliche Bestandteile.

Arne dreht sich um. Sein Lächeln verrutscht. Er sieht mir an, wenn etwas nicht stimmt.
„Mach dir keine Sorgen. Du kriegst das hin!“
Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich verstehe, dass er die Deadline eines Artikels meint, den ich heute abgeben muss. Ich nicke und trinke einen weiteren Schluck.
„Setz dich doch.“ Er deutet auf den Stuhl ihm gegenüber. Sein Lächeln verströmt Wärme.

Sie verfliegt auf dem Weg zu mir.

Ich nehme Platz. Sehe ihm zu, wie er Margarine auf eine Toastscheibe schmiert, einen Klecks Orangenmarmelade darauf verteilt.
„Du wirst sehen, dein Chef wird begeistert sein.“
Er redet immer noch von dem Artikel.

Ich schaue zur Küchenuhr. In zwanzig Minuten muss er los. Wenn ich es jetzt nicht anspreche, muss ich warten, bis er nach seiner Arbeit nach Hause kommt.

Aber ich höre mich sagen: „Wann bist du heute Abend da?“

Er zögert. Was ihn verrät, ist sein Blinzeln.
„Kann spät werden. Ich wollte noch Buchhaltung machen.“
Bist du sicher?, will ich ihn fragen. Oder willst du wieder mit einer Fackel in der Hand vor den Häusern unbescholtener Menschen Parolen skandieren? Brüllen, dass sie nicht in dieses Land gehören?
Seit wann denkst du so?, will ich ihn fragen. Wieso habe ich das nicht gemerkt, wer hat dir das eingeflüstert, einer deiner schwarz gekleideten Kumpanen? Woher kennst du die?

Hast du geglaubt, ich werde nicht misstrauisch, wenn du plötzlich ständig länger arbeiten musst, obwohl im Geschäft so wenig los ist? Bist du nie auf die Idee gekommen, ich könnte dir nachgehen, und sehen, mit welchen Leuten du dich triffst? Hören, welche Worte ihr brüllt, die an eurem Hass keinen Zweifel lassen?
Ich öffne den Mund, aber keins der Worte schafft es nach draußen. Sie prallen gegen eine unsichtbare Wand, wo sie sich auftürmen, und ich schlucke und schlucke, bis mir der Kaffee hochkommt.

Ich springe auf, stürze aus der Küche ins Gäste-WC und spucke braune Brühe ins Waschbecken.
„Isabelle? Alles in Ordnung?“

Arne steht im Flur. Ich spüre seine Anwesenheit durch den Spalt der Tür. Muss erneut würgen.
„Hey.“
Er kommt herein. Der Raum ist zu klein für uns beide. Vielleicht nur dieser, vielleicht auch unser Beziehungsraum.
Er fasst mich an der Schulter, dreht den Wasserhahn auf. Mit einem Waschlappen fährt er mir über die Stirn, über den Mund. Dann drückt er mich an sich.

Er riecht gut, wir er immer gerochen hat, nach einer frisch geheizten Backstube, das habe ich tatsächlich mal gedacht.
Er ist derselbe Mensch.

Er ist mir vertraut.
Er ist mir fremd.

„Du hast immer brillante Texte abgeliefert. Auch der wird brillant sein. Ich fahre jetzt, und du kannst in Ruhe arbeiten und die Deadline einhalten. Okay?“
Ich sehe ihn an, sehe an ihm vorbei. Sehe dem Zeitpunkt nach, dem richtigen, wie er verstreicht, sich in meiner Sprachlosigkeit auflöst.

Arne führt mich in die Küche, kocht Tee, die Tasse ist schlicht, weiß, unbeschriftet.

„Bis heute Abend.“ Er lächelt, er küsst mich.

Wie jeden Tag.
„Bis heute Abend“, antworte ich und stelle die Tasse auf den Tisch.

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Martina Berscheid

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7 | Anna-Katharina Kürschner

ice

Ich sitze im Zug auf dem Weg nach Hause und mein einziges Gepäckstück ist ein mittelgroßer Rucksack, in den meine Querflöte, der Laptop und Klamotten für drei Tage passen. Der ICE ist leer, es war die günstigste Fahrt an einem Montagvormittag, ich war flexibel: Querflötenunterricht erst um 14 Uhr. Ankunft in Frankfurt 12:54 Uhr. Es bleibt genug Zeit, selbst bei Verspätung. Die Landschaft draußen ist eis-hell und gleichförmig und lullt mich ein.

Ich sitze unbequem. Meine Füße sind trotz der schweren Winterboots kalt und so zieh ich sie aus, winkle die Beine an und stecke meine Zehen unter den neben mir stehenden Rucksack. Ich lehne mit dem Rücken am Fenster und knülle mir meine Jacke zum Kissen an den Sitz. Ich habe einen Tischplatz gewählt, mein Laptop bleibt trotzdem im Rucksack. Der Zug ruckelt und ich bin müde. Ich schlafe ein.

Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe, aber mein Mund muss leicht offen gestanden haben, denn meine Zunge fühlt sich taub und trocken an. Ich schlucke. Im Schlaf hat sich mein rechtes Bein aus der angewinkelten Position gelöst und ist gegen die Tischplatte geklappt, ich spüre den Abdruck der Kante an meinem Oberschenkel. Ich reibe über mein Gesicht, versuche zu lokalisieren, wo wir inzwischen sind. Ich will aus dem Fenster des Vierers gegenüber schauen. Während ich den Blick hebe, sehe ich einen Penis. Ich schaue weg, und bin mir sicher, mich geirrt zu haben. Ich muss blinzeln. Ich schaue wieder hin. Der Penis ist fleischrot und auf mich gerichtet, schräg vor mir, unter dem gegenüberliegenden Vierertisch. Eine gelbliche Hand, nicht weniger fleischig, reibt unbeirrt auf und ab.

Mein Blick schnellt hoch, in sein Gesicht, bevor ich es verhindern kann. Da ist kein Handy, keine Zeitung. Der Mann schaut mich an, direkt, ein leichtes Lächeln auf den schmalen Lippen. Ich denke, dass das gerade nicht wirklich passiert. Ich weiß nicht wohin. Ich senke den Kopf. Ich weiß nicht, ob Zeit vergeht. Ich bewege mich nicht. Ich starre auf sein Ding. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich fühle nichts.

Mir direkt gegenüber sitzt ein Anzugträger und klappert auf seinem Laptop. Er hat noch nicht einmal aufgeschaut, seit wir gemeinsam eingestiegen sind. Ich hätte ihm Bescheid sagen können, das Zugpersonal rufen. Ich hätte aufstehen und gehen können. Ich hätte, ich hätte und ich hätte.

Ich will ein Foto mit dem Handy machen. Heimlich. Unauffällig. Ich prüfe vorher mehrfach, dass ich mich nicht mit einem Blitzlicht oder dem Fotoklickgeräusch verrate. Das Geräusch imitiert die Verschlussblende einer Analogkamera aus einem vorherigen Jahrtausend, ist völlig unnötig, und nur zu hören, wenn das Telefon laut gestellt ist. Meines ist stumm. Der Blitz deaktiviert. Ich mache ein Foto, ich verwackle es leicht. Ich will ein zweites machen, aber meine Arme heben sich nicht mehr.

Die Fahrkarten wurden bereits kontrolliert, aber ein Kaffeemann kommt, ein Bahnangestellter sammelt den Müll aus unseren Tischabfalleimern, alle haben es eilig. Ich bin stumm. Ich könnte gehen, jemanden suchen. Aber ich habe kaum einen Beweis, nur einen vier Pixel großen, fleischroten Penis. Ich will nicht mit diesem Mann konfrontiert werden. Wenn ich ihn beschuldige, muss ich mit ihm reden. Er wird sagen, dass es nicht stimmt und dann stehe ich da.

In die Winterboots bin ich längst wieder eingestiegen. Die Dreiviertelstunde bis der Zug in Frankfurt hält, sitze ich starr und kerzengerade auf meinem Platz. Mein Blick in meinem Handy. Ich überlege, jemandem zu schreiben, aber ich kann nicht. Ich muss still sein, hören, wie Stoff an Hand an Haut reibt. Ich zwinge meinen Blick nach unten. Ich will nichts hören, nicht seinen Atem, nicht das Kramen in seiner Jacke, nicht das Aufreißen der Taschentuchpackung. Aber noch immer sagt der Zugchef nichts von unserem nächsten Halt. Ich stehe sieben Minuten zu früh auf. Ich laufe durch den ganzen Zug nach vorne. Ich drehe mich nicht mehr um, dann renne ich zur U-Bahn.

Im Querflötenunterricht denke ich plötzlich: Es ist ja auch eine enganliegende Jeans. Ich habe im Schlaf die Beine auseinander klappen lassen. Ich habe mich beinahe angeboten. Das ist lächerlich. Habe ich mich etwa angeboten? Ich möchte duschen, aber ich möchte nicht nackt sein. Ich war still. Ich war feige. So ein Schwein. Ich schweige. Ich spiele schlecht. Meine Professorin sagt: „Sie haben ja noch ein paar Wochen.“ Was kann ich tun?

Mir passiert so etwas nicht. Ich bin so nicht. So stumm. Ich habe keine Angst, im Dunkeln nicht und auch nicht davor, nachts mit der U-Bahn nach Hause zu fahren. Ich mache keine Umwege für belebtere Rückwege.

Nach der Stunde setze ich mich mit meinem Rucksack auf dem Schoß auf die Treppe. Ich google. Ich finde widersprüchliche Informationen. Für das Wort Exhibitionismus brauche ich die Autokorrektur. Ich werde wütend. Ich google: Nächste Polizeiwache. Ich presse meine Oberschenkel fest zusammen.

Ich mache das, damit sich vielleicht irgendwann richtig anfühlt. Ich kenne mich damit nicht aus. Ich wurde nicht ja verletzt und es hat mich ja auch keiner angefasst.

Ich stehe mitten auf der Zeil. Aus dem Backshop links von mir riecht es nach Treibmittel und warmen Brötchen. Aus der Eisdiele rechts von mir dudelt italienische Popmusik. Die Tür vor mir ist eine Front. Die ganze Hausfassade ist eine verspiegelte Front, so hoch, dass ich ihr Ende nur mit in den Nacken gelegten Kopf erahne. Ich lege den Kopf in den Himmel, damit ich im verspiegelten Metall meine verzerrte Silhouette nicht sehen muss. Ich atme mehrmals. Ich will nicht. Ich will nach Hause. In mein Bett, in mein Kissen. Mir ist nichts passiert.

Es geht mir gut. – Mir geht es nicht gut. Ich gebe mir einen Ruck. Mein oberstes Zeigefingergelenk drückt sich durch, als ich auf den Messingklingelknopf drücke. Wenn mir das beim Querflöte spielen passiert, beschwert sich meine Professorin sofort. Meine Fingergelenke müssen stark und beweglich sein, aber bei diesem Klingeln schnappt das Gelenk und biegt sich durch.

Erst passiert nichts, ich denke, ich gehe wieder, ich habe es ja versucht, ich kann gehen.

„Polizei?“

Die Stimme aus dem Lautsprecher neben der Klingel knistert männlich und angespannt. Ich schweige.

„Hallo? Hier ist die Polizei. Was gibt es?“

„Ich“, es klingt viel brüchiger als meine eigene Stimme, „möchte Anzeige erstatten.“

Italienische Popmusik. Jemand hätte gern eine Kugel Stracciatella-Minze. Die verspiegelte Hausfront sagt:

„Um was geht es dabei?“

Ich denke: Das ist nicht sein Ernst. Ich stehe doch noch auf der Straße. Ich denke: Wie schwer kann man es jemandem machen. Mitten auf der Zeil. Jemand will drei Kugeln im Becher. Ich muss etwas sagen, jetzt zu gehen, geht nicht mehr. Wer weiß, sonst kommen die mir noch nach? Ich kratze einen Klumpen Mut zusammen:

„Könnte ich das vielleicht in einem etwas –", ich stocke, „intimeren Rahmen –" Meine Stimme bricht weg und lässt Tränen vorbei. Jetzt? Tränen, die ich nicht will, die ich nicht fühle, die völlig deplatziert sind.

Die Tür summt, ich trete ein. Ich sehe nur orangene Plastikschalstühle, die direkt mit der Wand verschraubt sind, ich sehe durch eine Plexiglasscheibe Männerbeine in Uniformhosen und Sicherheitsschuhen. Waschbeton auf den Böden, Waschbeton an den Wänden. Sie stehen beieinander und reden. Ich will ihnen nichts erzählen. Die Hässlichkeit der Umgebung ist bedrohlich. Ich habe nichts falsch gemacht, oder? Ich friere, dränge meine Tränen zurück. Ich zwinge mich, meinen Kopf so weit zu heben, dass ich an einen Schalter mit einem spinnennetzförmig gebohrten Lochmuster im Plexiglas treten kann und dem Beamten, der davor sitzt, ins Gesicht sehe. Ich kann nicht sprechen. Endlich sagt er: „Möchten Sie das vielleicht mit einer Kollegin besprechen?“ Etwas in mir schmilzt, möchte als Tränen herauskommen, ich stoppe es und nicke hektisch. Er ruft in einen Raum hinter sich, den ich nicht einsehen kann, ich senke meinen Blick wieder und schlucke hart.

Bewegung unter den Sicherheitsschuhen. Eine doppeltgesicherte Tür, die von außen keine Klinke hat, wird geöffnet und ich werde eingelassen. Dann steht vor mir eine Frau mit hellblond wippendem Pferdeschwanz und teichgrünen Augen. Als hinter uns die Tür zufällt und wir allein in einem Büro sind, laufen meine Augen über. Ich komme mir lächerlich vor. Ich will nicht weinen. Mir ist doch gar nichts passiert, sie muss denken… Unter Schluchzen sage ich zuerst:

„So schlimm ist es eigentlich gar nicht.“ Und dann: „Ich weiß auch nicht, warum ich jetzt so weine.“

Die Polizistin nickt. Dann erzähle ich ihr, was passiert ist. Sie muss nachschauen, um welchen Tatbestand es sich handelt: Solange er mich nicht berührt hat, ist es nur Erregung öffentlichen Ärgernisses. Exhibitionismus, habe ich selbst schon gegoogelt. Das erzähle ich ihr auch. Ich zeige ihr auch das Foto. Ich soll es ihr per Mail schicken. Sie schreibt einen Bericht. Ich fülle ein Formular mit meinen Personalien aus. Die grauen Kästchen, immer nur groß genug für einen Buchstaben, beruhigen mich. Sie liest mir noch einmal vor, wie ich ihr die Ereignisse geschildert habe. Ich unterschreibe.

Während sie weiter mit ihren Teichaugen den Bildschirm bearbeitet, versuche ich mich damit abzulenken, meine Personalausweisnummer auswendig zu lernen. Meine Nase ist verstopft. Ich suche in meinem Rucksack umständlich nach einem Taschentuch. Sie fügt das Foto der Akte als Anhang hinzu. Sie meint: Ihn darüber zu schnappen ist nahezu unmöglich, aber wenn der sowas noch einmal macht, kriegt man ihn vielleicht. Ich fühle mich trotzdem leichter, als ich mit ihr und trockenroten Augen durch den Waschbetoneingang wieder nach draußen gelassen werde.

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Anna-Katharina Kürschner

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6 | blumenleere

in memoriam auf repeat

jahr fuer jahr ruecken wir ihm ferner
jenem griswald-weihnachts-slapstick-
horror den wir einst ja als blaupause
unserer eigenen festtage betrachteten
unsere winterbaeuche zum erbrechen
mit plaetzchen gefuellt quasi auf hold
sozusagen abruf erwarteten wir dann
die action den trubel eines aufgeregt
irren familienfestes voller ereignisse
bis in die knochen rein tragikomisch
genug irritationen um uns nachhaltig
stoff fuer gespraeche & alptraeume
zu bescheren nun ein sehr sonderbar
anmutendes relikt aus einer fremden
aera weil wenn wir jetzt vernetzter
feiern konzentrieren wir uns gleich
von anfang an aufs kommunizieren
eines sorgsam aufgearbeiteten plots
mit snapshots & comments garniert
unsre faden existenzen meliorierend
statt uns hilflos & ziemlich isoliert
kategorischer auf uns allein gestellt
dem monstrum perfider traditionen
ausgeliefert zu sehen & es dennoch
letzten endes heldenhaft zu besiegen
da uns was andres nicht uebrig blieb

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blumenleere

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5 | Dana Schällert

Die Frau mit den Locken

Ich hab die Frau oft zufällig gesehen. Kannte sie nicht, kenne sie nicht. Wiedererkannt hab ich sie stets an ihrer altmodischen Lockenfrisur, die mich an die Achtziger erinnert. Wer trägt heute denn noch sone Frisur? – hab ich gedacht. Wer kann die einem heutzutage überhaupt noch machen? Einfach aus der Zeit gefallen, jedes Mal hab ich das gedacht, aber es gibt so Leute, die bleiben halt irgendwann modisch stehen, vielleicht bleiben sie auch insgesamt stehen – und das hat mir bisher immer irgendwie leidgetan. Stehengeblieben in jener Zeit, die für sie irgendwie besonders … glorreich war. „Glorreich“, denke ich und muss selbstironisch grinsen, bin wohl auch aus der Zeit gefallen. Wer gebraucht denn heute noch das Wort „glorreich“. Wobei ich schon weiß, wie ich gerade jetzt auf diesen Begriff komme … Egal, ich meine jedenfalls, eine Zeit, in der man irgendwie für sich das Gefühl hatte, dass man in ihr besonders richtig war. Auf seinem Zenit stand. Wo die Welt besonders in Ordnung war. Vielleicht war das bei der Frau in den Achtzigern. Nee, kann eigentlich nicht sein, dann müsste sie ja schon um einiges älter sein als ich. Ist das möglich? Ich denk das zwar jetzt gerade, aber ich glaube, das ist irgendwie eine Gedankenschleife, in der ich schon öfter festhing, jetzt halt auch, wo ich die Frau sehe. Unerwartet. Aber irgendwie nicht … unverlangt.

Verfange mich immer wieder und ständig in ihren Locken, in denen ich mich in endlosen Loops drehe. Diese Frau jedenfalls, die arbeitet in einem Supermarkt, da habe ich sie an der Kasse gesehen, oft schon, und auch gelegentlich, wenn sie nicht im Dienst war, in irgendwelchen anderen Läden. Als wär sie vor einem anderen Hintergrund als dem eines Ladens nicht denkbar. Das Gesicht kenn ich eigentlich kaum (vielleicht auch daher die übertriebene Fixierung auf ihre Frisur), kannte ich eigentlich kaum, weil sie mir bisher immer nur mit Mundschutz begegnet ist. Auch neulich eben, also, vor einem Monat oder so, beim Friseur – ist ja auch ein bisschen was wie ein Laden. Das war schon witzig, als ich da reingegangen bin, wollte mir ne Balayage färben lassen, und da saß sie mir auf einmal schräg gegenüber, die Frau mit der komischen Achtzigerfrisur, saß da, ganz vertieft, unter soner Trockenhaube, wo ich dachte, die gibt es auch gar nicht mehr, schaute in irgendsone Zeitschrift, mit ganz wichtiger Miene, die massiven Augenbrauen extrem hochgezogen, und ich starrte sie zwischen den Spiegeln hindurch an und fühlte mich, als wäre ich dabei, ein Rätsel zu lösen. Und auch als man anfing, mir Farbe in die Haare zu pinseln, da guckte ich rüber, glotzte, als wäre die Haube ne Zeitmaschine wie in „Zurück in die Zukunft“, deren Geheimnis ich ergründen wollte. Als die Haube weg war und die Friseurin dann an den merkwürdigen Lockenwicklern rumfummelte, da dachte ich, dass dieses Geheimnis irgendwas mit der Vergangenheit und mir selbst zu tun hatte, aber so recht kam ich nicht drauf. Ich sah meine Mutter genussvoll im Bad stehen, Stunden vor dem Elternabend im Kindergarten, auf den sie gehen würde, als sei es sowas wie ein Mütterball und sie wolle Ballkönigin werden oder den Prinz heiraten. Sie drehte sich die merkwürdigen silbernen und grauen Rollen verschiedener Größen raus, die ich gern heimlich befühlte, weil sie so lustige Borsten und Zacken hatten, oder wo ich meine Finger durchsteckte, dass meine Hände ganz lustig aussahen. Und als ich nun sah, wie die Friseurin jetzt in den Haaren der Frau wühlte, da war richtig so etwas wie ein schmerzhaftes Ziehen in meiner Brustgegend, aber vielleicht war das auch nur, weil ich die ganze Zeit schon so schräg saß, um am Spiegel vorbeizuspinxen, auf die Lockenfrau, deren Blick noch immer mit dem Ausdruck, sich gerade über äußerst wichtige Dinge zu informieren, in die Illustrierte gerichtet war. Meine Friseurin hatte mich schon an die zehn Male wieder in eine einigermaßen aufrechte Position geschoben, die ich dann doch immer wieder, unwillkürlich, verließ.

Die ganze Zeit schon übrigens hatte sich meine Friseurin mit der anderen, der von der Frau, unterhalten. Um Autos war es gegangen, wie schwer es gerade war, an einen neuen Wagen zu kommen wegen der Lieferengpässe und der deswegen auch angespannten Situation auf dem Gebrauchtwagenmarkt. Meine Friseurin hatte irgendwas mit den Zündkerzen gehabt und musste jetzt schon längere Zeit Radfahren. Es war inzwischen aber November geworden, bald würde es zu kalt sein. Danach waren die Heizkosten drangewesen. Die explodierten Preise. In naher Zukunft würde man sicher auch im Salon sparen müssen, momentan ließ man die Heizungen zu Hause noch aus und behalf sich mit Wärmflaschen, hatte meine gesagt. Sie würde dieses Jahr auf die Weihnachtsbeleuchtung verzichten, hatte die andere berichtet. Und ich erinnere mich noch genau – in diesem Moment kam Leben in die Frau mit der Lockenfrisur, die bis dahin ausgesehen hatte wie irgendsone Schaufensterpuppe innem Museum übers letzte Jahrhundert. Sie sog stark Luft ein, ihre Maske zog sich intensiv zusammen, als wollte die gesamte Frau implodieren, und dann sprach sie mit einer tiefen Stimme, die ich ihr nicht zugetraut hätte: Alles mach ich mit, seit Jahren nun schon, trag diese Dinger im Gesicht, die meinen Lippenstift jedes Mal verwischen, mach mich arm, wenn ich einkaufen geh wegen dem russischen Gas und was, ess für den Klimawandel und wegen Antibiotika und Tierhaltung und alles weniger Fleisch, aber das … nein, das: Meine Weihnachtsbeleuchtung, die kriegt keiner, dann trag ich lieber fünf Pullover übereinander! Die mach ich an! So! Die leuchtet wie jedes Jahr. Vielleicht ein, zwei Stunden weniger, mit nem Timer. Aber die läuft! Die wird leuchten! Immer wird die leuchten, wenn es draußen dunkel wird! Und sie hat das gesagt mit einem Nachdruck, so als wärs ne politische Ansprache oder so, da waren die beiden Schnattertanten plötzlich ganz ruhig, bis dann die eine sagte: So ist richtig. Irgendwann ist auch gut.

Und als sie das gesagt hat, die Frau mit den Achtzigerjahrehaaren, da hab ich wieder daran gedacht, wie es damals gewesen ist und wie es auch sonst war: mit den Lichtern in den Fenstern (auch wenn wir nie ne große Festbeleuchtung nach amerikanischem Vorbild hatten) und drumrum oder wie es aussah, wenn wir am zweiten Weihnachtstag am späten Abend von meiner Oma über Land nach Hause fuhren und die Fenster und Häuser und Bäume haben in allen Orten geblinkt und geglüht, da hab ich sowas wie Ruhe und Frieden gespürt und so eine richtig tiefe Freude daran, am Leben zu sein. Und wie ich jetzt hier stehe und daran denke, dass die Frau das gesagt hat, bei dem Friseur vor nem Monat, ich hatte das ganz vergessen, da fällt mir das alles wieder ein, dieses Gefühl aus meiner Kindheit, und ich merke, dass es auch jetzt wieder da ist, wo ich dieses Haus sehe, weswegen ich überhaupt erst wieder an die Angelegenheit denke.

Es ist heute der fünfte Dezember und ich habe ein paar Süßigkeiten für die Nikolausstiefel der Kinder gekauft, bin durch deutlich dunklere Straßen gegangen als sonst um diese Zeit, hab mich ein bisschen traurig gefühlt deswegen, ein bisschen bitter, und hab gedacht, dass das Jahr zu Ende geht, wie es aufgehört hat, mit vielem, was schwerer geworden ist, mit viel Hoffnung, die getrübt wurde, mit viel Glauben, der zusehends verblasste, und dieser Gang aus dem Supermarkt zurück nach Hause, wo wir nur noch alle zwei Tage das Wasser erhitzen, heute war der Tag zum Haarewaschen, der hat sich dieses Jahr so stumpf und hohl und schematisch angefühlt. Ich habe da ein Häuschen gesehen, auf einmal, nicht weit weg, es hat so hell geleuchtet, dass es mich erinnerte an das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten, obgleich ich schon ahnte, dass es kein Räuberhaus wäre, in dem ein Braten auf mich warten würde, nachdem ich nur die Räuber vertrieben hätte, und ich bin hingegangen zu dem Häuschen, das zwischen seinen nur spärlich mit Lichterbögen versehenen Nachbarn leuchtete wie eine Offenbarung, mit zwei flimmernden Tannen davor, das Sims mit funkelnden Eiszapfenketten geschmückt, ein Weihnachtsmann mit Rentieren in der Mitte. All die Jahre hatte ich die Augen verdreht über diesen übertriebenen Beleuchtungshype, all den Kitsch, aber nun hat es mich dorthingezogen, nur einen kleinen Moment schauen, so tun, als sei es wie früher, ein kleines bisschen Helligkeit, ein kleines bisschen Leichtsinn, ein kleines bisschen irriger Glauben, ich könnte mich an den LEDs wärmen, als wäre die Welt in der Vergangenheit stehengeblieben irgendwie. Und nun, wo ich dort steh, vor dem Haus, da seh ich nämlich in all der leuchtenden Pracht, hinter einem der Fenster, sie sitzen, die Frau mit der blonden Achtzigerfrisur, seh sie da sitzen wie einen Weihnachtsengel, wie sie verträumt nach draußen schaut, und dann sieht sie auch mich und strahlt, in all dem Plunder, mit einem verklärten Gesicht wie ein Kind, das den ersten Blick ins Weihnachtszimmer wirft oder wie das Mädchen mit den Schwefelhölzern, das im Flammenschein für Momente Hoffnung und Wärme spürt. Und ich lächle zurück, denn ich fühle das auch, und ich denke: Naja, die Achtziger sind ja auch so langsam wieder im Trend. Alles kommt, alle Jahre, wieder.

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Dana Schällert

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4 | Yvonne Koval

winterschlaf

heute geht's mir nicht so gut
die nabelschnur zieht an mir
zieht mich runter, macht mich
rund & unerträglich, ewig
bis der winter vorrüber

also sag wenn du alleine
wenn du unter menschen
punsch & geschenke
& spaß haben willst

dann können wir mich einpacken
mir ein kleines nest bauen
wo ich winterschlaf halte
während deiner freude
& drei jahreszeiten lang

so warte ich, & kann die zeit
an zwei händen abzählen
bis du zurückkehrst
& mich auspackst
als ob ich zerbrechlich
& all das da drinnen

nach einem winterschlaf
das sagt die forschung
geht es tieren gar nicht gut
ihre hirnaktivität
sei dann gleichsam der
nach tagelangem schlafentzug
(ich hoffe, es geht schnell zum schluss)

nur dazwischen ganz unscheinbar ein widerspruch
mein winterschlaf : ein schlafentzug
(ich dachte, eines folgt dem anderen)
hauptsache ist wohl, dir geht's gut

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Yvonne Koval

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3 | Sarah von Lüttichau

Ein Tag im Dezember

„Kennst du die Serie mit dem Drachen, wo …“

„Ich mag diese Drachengeschichten nicht, Drachen sind doch immer nur Stellvertreterprobleme, da macht man sich was vor, ganz klar.“

Das Wetter ist schon wieder auserzählt und ein anderes Thema will mir nicht einfallen, ich schweige, mache mich klein, ziehe die Schultern hoch, die Arme dicht an meinen Körper und beiße in den Apfel, den ich schon seit einer Weile in der Hand halte. Es dämmert bereits. Wir sitzen immer noch auf der Schaufensterbank, unsere Rücken jetzt kalt im Neonlicht. Und er tut mir leid. Ich werde gleich aufstehen und nicht wieder kommen. Manchmal ist es zu schwer, eine Idee in die Wirklichkeit zu holen.

Auf der gegenüberliegenden Straße hat sich eine Plane vom Baugerüst gelöst und flattert im Wind, schlägt gegen das Eisengerüst. Er umschließt seinen Pappbecher mit beiden Händen, atmet schwer und ich frage mich, ob er das auch merkt, dass es da nichts gibt zwischen uns. Ich kann seine Gesichtszüge nicht lesen, nicht mehr. Die Falten, die grauen Haare, es ist immer noch merkwürdig, ihn so zu sehen.

Die Linden haben längt keine Blätter mehr, mit ihrer dunklen Rinde zeichnen sich ihre Umrisse klar von den umstehenden Altbauten ab. Eine Elster schreckt auf, ruft schnalzend laut und wir drehen synchron die Köpfe.

Dann wird es Zeit. Ich beuge mich nach vorne und werfe den Rest vom Apfel in den Mülleimer neben uns und wische meine klebrigen Finger an meiner Jeans ab.

„Ok“, sage ich und er nickt.

„Du hast ja meine Mail Adresse“ und ich frage mich, warum ich das sage, nur um irgendwas zu sagen. Er nickt und schaut noch mal kurz hoch, nickt zum Abschied, wie ein Fremder.

Ich gehe die Straße runter. Die Autos sind so dicht geparkt, dass ich kaum hindurch passe, um die Straßenseite zu wechseln. Ich verstehe, warum das so ist, dass es in der Stadt immer zu wenig Platz gibt und ärgere mich trotzdem. Um mir eine Packung Lakritz zu kaufen, gehe ich in den nächsten Kiosk. Die Verkäuferin ist freundlich, sie wünscht mir einen schönen Abend, lächelt und ich lächle auch. Die Sonne verschwindet zwischen den Häuserschluchten, die Luft wird kalt und klar. Ich setze mich auf die Bank an der Bushaltestelle und reiße die Verpackung auf. Das Lakritz klebt sofort zwischen meinen Zähnen und ich versuche mit der Zunge die Stückchen zu lösen. Mein Telefon vibriert in der Tasche.

EVA: Und wie war es?

          DU: Ach, wie immer :(

EVA: :(

          DU: Dann halt nicht, ist auch nicht schlimm

EVA: Bist du sicher

          DU: ja, schon

EVA: Väter halt …

          DU: Lass uns später telefonieren

          DU: ?

EVA: !

          DU: jetzt Bahnhof, melde mich später

Ein Plastikgeräusch lenkt mich ab. Neben mir eine junge Frau, die umständlich ihre vollen Einkaufstaschen von der einen in die andere Hand manövriert, um ihr Portemonnaie aus der Tasche zu holen. Der Bus kommt.

Wir steigen ein und die Busfahrerin hat tatsächlich so eine rote Mütze auf. Ich frage mich, ob sie dass muss, ob das vorgeschrieben ist. Ich zeige ihr meine Fahrkarte und setze mich auf einen Platz am Fenster. Es ist dunkel und die Weihnachtsdekorationen leuchten in den Schaufenstern des gegenüberliegenden Einkaufszentrums. Menschen in viel Kleidung und mit vielen Taschen schieben sich aneinander vorbei, wollen rein, wollen raus. Mein Atem kondensiert an der Glasscheibe, verzerrt die Lichter und ich wische mit dem Ärmel meiner Jacke darüber. Ich suche die Packung Lakritz und esse weiter. Als der Bus anfährt, lehne ich meinen Kopf an, schließe die Augen. Dann fällt mir auf, dass es das erste Mal seit Jahren ist, das mich das alles nicht traurig macht, dass da nichts ist und ich muss lächeln.

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Sarah von Lüttichau

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2 | Georg Großmann

Mühlviertler Nacht

ich befinde mich in den
gestapelten, fest
verzahnten
polyedern, bin
im haus, draußen;
der dreikant-hof, huf-
schläge, leere, die weite,
der wald, der den hof nachts
belauert

drinnen; das wasser, der
saugmund der
abwasch, das
spülkasten-rauschen

draußen; das gluckern der jauche
im hochbehälter, die sprache des blasenschlagenden
dunkels

draußen läuft mein drinnen
mein kochwasser
mein zahnpastaschaum
meine ausscheidung in
den gärenden teich
während sich jemand daneben
versteckt hält und atmet und
hört und weiß, dass ich
da bin, im haus und mich sieht
in den fenstern
und lächelt

und hechelt
und herschleicht
und blicke von draußen
nach drinnen wirft
aus dem weiten
dunkel heraus in die aus-
geleuchteten polyeder

auf mein bildschirm-
beflimmertes
gesicht

.

Georg Großmann

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1 | Avy Gdańsk

Wortgewand

Alle Wangen sind mit Aufregung bemalt. Ich stecke im Atemgefieder der Menschen fest, es ist zu warm, ich kann mich nicht bewegen. Der Bus ist ein Schiff, die Straße schwappt darunter hinweg. Wir schwanken, der Seegang wirft uns alle aus der Bahn. Quer durch die Sitzreihen segeln Gespräche, eine Gruppe verstreut auf getrennten Plätzen. Zersprengt in Einzelheiten. Ich weiche den zungrigen Mündern aus, ihrem groben Gelärm auf dem Gang, schlage den Kragen ums Kinn. Unsere Köpfe und Schultern im Spiegel, wir sind ein Renoir auf den Scheiben. Die anderen Busse kurze Raupen mit stämmigen Fühlern, die Straßenbahn eine singende Nacktschnecke. Immer wieder fahren sie an uns vorbei und wir passieren lichtgefüllte Fenster, Lebensraum. Das Murmeln der Menschen ein Bienenstock. Mein schwerer Kopf versinkt im Summen wie in einer Kissenhülle. So sprechen die Dämmermenschen: vorbei an den Herzkapillaren. Eine nadellose Sprache, untauglich zum Blutgewinn. Ich wetze meine Worte, will zur feinsten Ader.

Immer weiter geht die Fahrt, immer mehr Ummantelte stürzen heraus, nur ein Falter steigt zu. Unter den wartenden Laternen schwebt eine milde Abendkälte, bei jedem Öffnen der Türen huscht davon etwas herein, ein kühlender Streif über Augen und Wangen, ein Spätherbstschweif. Er fächelt mir Erinnerung um die Nasenflügel, bald ist es Zeit, Endhaltestelle. Ich stehe allein im Bus, Stiefel fest auf dem Boden, die Teerwellen reitend. Wir gleiten durch die Kurven, im Bauch der Schlange bin ich ein schlingernder Schatten in lichttriefenden Innereien, ein Dunkelförmiges unter zuckendem Glas.

Mit Wucht spuckt sie mich aus, ein Ruck brusteinwärts, mein Fuß setzt sich auf unbekanntes Land. In meinen Schritten weiß ich zu gebieten, laufe mal wie Herrin, mal wie Herrscher, die Straßen voll von nichts als meinem Trittlaut. Frei ist nur, wer kein Wohin erfragt.

Das Blattgold der Alleen schimmert auf der Straße, ich schleiche nun, werde zu Lautlosem, bin ein Wanderer zwischen den Fenstern, der sich in der Nacht versteckt, sich anpasst an die Vorwelt – die Gegend vor verschlossener Tür. Auch ein anderer streift durch die Vorwelt, ein Jäger, der Fallen aufgespannt hat in den Lücken zwischen den Mülltonnen, unter den Außentreppenstufen, in den Gittermustern der Gartentore: Netze aus Schwärze, in denen sich jeden Abend ein paar Blicke verfangen, ein paar Unglückliche in den Abgrund fallen mögen. Füllen sich die Netze mit dem Sehnen der Menschen, nährt er sich davon, liefert er das Eingesammelte irgendwo ab? Oder breitet sich die Schwärze in ihnen aus, füllt sie an wie melancholische Plätzchenformen? Was auch immer sein Zeil ist, nie mangelt es ihm an Beute, denn die Augen treibt es nach draußen. Keiner kann es lassen, den Blick auf Wanderschaft zu schicken, weit fort aus dem Gefängnis des Schädels. Die Sehnsucht hört nie auf, immer suchen die Menschen die Welt mit den Augen, und was sie sehen, gibt ihnen Bedeutung, zeigt eine Lesart der Welt. Wie außen, so innen. Aber wenn alles nur ein Spiegel ist – ich passiere eine Tür mit einem Schild in Fraktur, „Familie ist die Heimat des Herzens“ – dann Gnade den Dämmermenschen. Jemand, der sich so an vermeintlich bedeutungsschwere Worte klammert, weil er selbst der Tiefe entbehrt, dem ist auch das Meer nur ein blauer Streifen, ein Urlaubsmotiv, und selbst das muss er nachbearbeiten, damit es den Anschein von etwas erweckt – etwas, das ihm fehlt, das er sucht und das er niemals finden wird.

„Ja, ein unerträglicher Gedanke – die armen Menschen.“

Ich fahre herum und neben mir steht der Jäger, deutet auf das deprimierende Schild, entfaltet ein weiteres Netz. Das spannt er zwischen den Grashalmen des Vorgartens, ein verschachteltes, viellagiges Leporello, das unbemerkt den Garten ziert, der ausartend mit Schildern dekoriert ist.

„Menschen, die Sprüche wie Schutzschilde aufstellen, empfinden einen großen, wenngleich dumpfen Seinsmangel.“

Er pocht gegen ein Blechschild mit der Aufschrift „Mein Haus, meine Regeln“.

„Jeder klammert sich an Worten fest, an irgendwelchen Zitaten, die einen an etwas erinnern sollen oder in etwas bestätigen. Sinnstiftung eben.“

Wieder holt er ein Netz aus der Tasche und beginnt es zu ziehen und zu formen, dehnt das unendliche Nichts.

„Aber wer die Worte noch nie verstanden hat, für den bleiben sie tot, und das ist wirklich allein. Siehst du?“

Erneut zeigt er auf ein Schild neben einem Vogelhäuschen, unter dessen Vordach er sein Netz anbringt. Geknicktes Origami, vernetzte Vorwelt. Seine geschickten Finger spannen das Netz von dort unter dem Schild weiter, zwischen dem bedruckten Holz und dem Baumstamm dahinter, schnippen prüfend mit dem Mittelfinger dagegen, es federt sacht. Das Holz des Schilds ist noch nass von vergangenem Regen, unter der industriell aufgedruckten Schnörkelschrift „A house is made of walls & beams - A home is made of love & dreams“ klaffen die Risse immer weiter auseinander.

„So viel Fremdsprachen, besonders bei Leuten, die keine beherrschen“, sagt er, in seinen Taschen nach neuen Netzen wühlend. „Weiter weg kann man von der Welt nicht sein. Wer nicht mal die Worte richtig kennt, die sie beschreiben – selbst, wenn es nur Plattitüden sind – an dem treiben die Füllhörner vorbei, ohne ihren Reichtum auszuschütten.“

Mit niedergeschlagenen Lidern fingert er ein weiteres Netz aus der Tasche, macht sich unter einem letzten Schild zu schaffen, hier ist die Leere richtig angebracht. Schlicht „Happiness“ auf einer spiegelglatten Oberfläche.

„Ein Wunsch, eine Bitte, eine Beschwörungsformel? Glauben die Leute, wenn sie sich so ein Wort in den Vorgarten stellen, werden sie glücklich? Und was für eine Art Glück soll das sein?“ Er beäugt das Schild neugierig, bringt seine formbare Falltür an. „Wer zaubern mag, muss Opfer bringen. Wer die Welt aufschließen will, muss die Wünschelrute ins eigene Herz stechen.“

Wir treten zurück, bestaunen das Werk von der Straße aus. Ich staune, der Jäger begutachtet vielmehr. Die taschenbesetzten Lagen seiner Überhänge flattern, als der Nachtwindhund vorbei prescht. Er wirft uns aus dem Gleichgewicht, so wenig Halt ist in den blättrigen Schlaufen der Herbstluft – beide landen wir auf den Hosenböden. Mantel und Überwürfe breiten sich um uns aus, wir überdisteln das Grau des Asphalts.

Durch meine fransigen Knie hindurch setzt sich gleichmütig der Bürgersteig fort, zwischen den Gittern des Gullis verschwinden weitere Netze in der Tiefe. Das ganze Gebiet ein fallengespicktes Revier, zappendustere Lauerbeutel überall. Meine Finger spitzen sich ihnen zu, wollen in den Strudel tauchen, nach dem Nichts greifen. Ich drücke sie gegen den rauen Boden und frage den Jäger, wie viele der Schildbürger ihm ins Netz gehen.

„Nicht viele“, meint er mit halbgesenkten Lidern, unter denen die Pupillen klaffen wie zwei Schlüssellöcher. „Sie sehen nichts. Wer Hände hat, der koste, wer Lippen hat, der taste, habe ich jedes Mal in den Abend geflüstert. Man kann das auf viele Weisen verstehen, und jede davon ist nützlich. Aber sie verstehen gar nichts.“

Mit scheuchenden Bewegungen streift er sich den Staub von den Beinkleidern, macht aber keine Anstalten aufzustehen. Ob es ihm gefällt, am Boden zu sein? Auch ich bleibe sitzen. Welche Leute ihm denn dann in die Blickfalle tappen, will ich wissen. Er erwidert: „Was denkst du?“

Weil ich nicht weiß, wohin die Fallen führen, was dort gefangen und eingesammelt wird, kann ich keine Antwort sagen.

„Übergehende Augen aller Art“, beginnt der Jäger, „fallen dort hinein. In meinem Netz entspinnt sich die Welt, die diesseits davon nicht möglich ist, aber mit allen Fäden fest an der hiesigen hängt. Ein Quallenstoff, ein Schwebeteil mit hundert lockenden, hundert begierigen Armen.“

Seine Beschreibung gibt mir Rätsel auf, und er fragt mich verstohlen: „Willst du einen Blick hineinwerfen?“

Ich biete ihm an, ihn stattdessen beim Wort zu nehmen, beim zottigen Wortpelz, sein flackerndes Fell zu halten und ihm nachzusteigen in den goldenen Mund der Morgenstunde, hinter die Mauer aus sonnigen Zähnen.

Doch er verneint – noch brauche er mich hier – und hängt mir den Mond an, eine fliegende Fußfessel, damit mein Schritt schleppend wird und er mich langsam leuchtend erblickt, sobald ich näherkomme. Ich aber, Gestirnshäftling, entsinne mich meiner Zungenspitze und steche eine Silbenader an. Die Blätter steigen vom Boden wie Nebel, heben sich hundertfach empor, ein fuchsschnäuziger Schwarm nach Norden. Die Luft eine bauchige Laubstaude, Dächer stoßen sich an der Errötung. Wie singende Schnabelschuhe tragen mich die Blätter, von meinen Lippen tropft das Zauberwort. Horchte jemand hin, so könnte er es hören.

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Avy Gdańsk

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24 | Verena Dolovai

Fischköpfe rollen nicht

Tagwache 6.00. Den Sekt und das Bier einkühlen. Die Kartoffeln aufsetzen. Kaffee im Stehen. Keine Zeit verlieren.

Zeit zum Fischmarkt zu fahren. Sich um kaltes Wasser scharen. Sich drängen. Einen schweren Plastiksack entgegennehmen.

Er tropft. Es riecht. So wie wenn Mutter die Tage hat.

An einem Tag werden 2 Millionen Tiere in Deutschland geschlachtet.

Zu Hause den Fisch mit Salz und Kräutern einreiben. Ihn im Keller kaltstellen.

Die Hände sind kalt. Sie riechen nach Fisch. Die Hände einseifen. Happy Birthday singen. Dann sind die Hände wieder sauber. Sich gut abtrocknen.

Ins Schlafzimmer gehen. Die Hände fischen ein Spannleintuch aus dem Kleiderschrank. Falten es auseinander. Überziehen das Bett, das kein Gästebett ist, mit dem Leintuch. Streifen es glatt für die Verwandtschaft.

Die Verwandtschaft braucht Platz. Platz machen.

Die Kinder wandern in den Keller. Breiten Matratzen aus. Machen ein Lager aus Decken, Pölstern, Stofftieren. Die Katze drängt sich zwischen die Stofftiere. Legt sich hin.

Den Christbaumschmuck aus der Kiste holen. Den Nadelbaum vollhängen.

Nadeln im Wohnzimmer. Nadeln im Schlafzimmer. Nadeln in der Küche. Nadeln im Bad. Nadeln im Klo.

Es dämmert. Das Nachbarskind bringt das Friedenslicht. Es brennt.

Im Ofen verbrennt das erste Keksblech.

Die Verwandtschaft läutet zu früh an der Tür.

Schnell den Tisch decken. Den Salat anrichten. Die Getränke bereitstellen.

Hektik.

Die Geschenke heimlich einpacken. Das Tixo ist aus. Das Papier mit einer Schnur umwickeln. Namenskärtchen einklemmen.

Sich duschen. Die Dusche ist verstopft.

Sich schön machen.

Sich festlich anziehen.

Sich besinnen.

Alexa, spiel Weihnachtsmusik! Kinderchöre.

Heute nicht streiten.

Zu streiten beginnen.

Wann kommt endlich das Christkind?
Wann ist das Essen fertig?
Warum hast keinen Weißwein eingekühlt?
Wo sind die Sektgläser?
Hast keine Servietten gekauft?
Wer hat den Saft ausgeleert?
Warum ist der Kamin nicht eingeheizt?
Hat jemand die Katze gesehen?

Wer hat die Kellertür offengelassen?

Die Katze ist im Keller.

Die Katze schiebt den Fischkopf mit der Pfote vor sich her. Zieht Fettschlieren am Boden.

Stille Nacht.

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Verena Dolovai

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