19 | Marlene Schulz

Kompa, Frau Mirjami und Herr Ernst

Ich bin Kompa und eine Katze. Mein Herr, er hört auf den Namen Ernst, nennt mich so. Seine Frau, Mirjami, hat den Namen für mich ausgesucht, als sie noch in unserem Haus wohnte. Sie fand mich auf dem Kompost als meine Augen noch geschlossen waren – daher mein Name – und fütterte mich.

Ja, Sie haben recht, ich habe eine schwierige Kindheit hinter mir, aber ich habe es geschafft, wie Sie sehen.

Herr Ernst redet sehr viel – er unterrichtet in der Schule – und Frau Mirjami hatte eines Tages genug davon. Jetzt redet Herr Ernst mit sich und seinen wechselnden Besuchen. Manchmal setzt er sich neben meinen Schlafplatz, wenn ich ruhe, und beginnt zu sprechen. Das ist mir äußerst unrecht und mir bleibt nichts anderes übrig, als aufzustehen und meine Ruhestätte zu wechseln.

Herr Ernst redet wirklich sehr viel an einem Tag und auch noch, wenn es dunkel wird. Er gibt sich bei einem Thema, das er begonnen hat, selbst Stichworte für das nächste, das er direkt anschließt. Seine Besuchsmenschen, ich habe das mehrfach beobachtet, sind auf der Lauer und warten auf eine Pausierung in Herrn Ernsts Gespreche, um auch etwas sagen zu können, aber den wenigsten gelingt das. Sie müssten unhöflich sein und ihre Worte über seine legen, aber die meisten wollen das nicht. Herr Ernst hat zu allem etwas zu sagen.

Er ist vielseitig begabt. Er wäre gerne ein ruhmreicher Maler. Handwerklich begabt ist er durchaus, auch an seinem Fahrrad kann er Kleinigkeiten selbst reparieren und bei der letzten Wahl hat er sich für eine Partei aufstellen lassen, die wie eine Farbe heißt, und wurde zu meiner großen Überraschung gewählt. Ich hätte ihn, das sage ich nur Ihnen, nicht gewählt. Herr Ernst hat zu zu vielen Dingen eine Meinung. Dennoch: Ich bin überzeugt, dass sein Wissen zwar breit ist wie ein Ozean, dafür aber nur tief wie eine Pfütze.

Ich habe beobachtet, wie er das mit dem Sprechen regelmäßig mit seinen Besuchsmenschen macht. An einer Stelle ihres Redebeitrages gibt er ihnen recht, nickt sogar auffällig stark, und setzt dann seine Referate an.

Was Herr Ernst nicht macht, ist kochen. Das hat er an ungefähr 260 Tagen im Jahr Frau Mirjami überlassen und weitere 105 Tage waren sie zum Essen ins Restaurant oder zu anderen Menschen in deren Wohnung oder Haus gegangen. Für einen konservativen Menschen stellt das keine Ungewöhnlichkeit dar, aber Herr Ernst möchte gerne ein fortschrittlich denkender, emanzipierter Mann sein. Sie könnten Frau Mirjami befragen, was diese dazu sagt, oder es sich selbst zusammenreimen. Für so klug halte ich Sie.

Herr Ernst hat durchaus liebens- und lobenswerte Seiten. Er reinigt den Ort meiner Hinterlassenschaften regelmäßig, gut, gelegentlich dürfte es gründlicher und häufiger sein, aber ich möchte nicht kleinlich sein. Für meine Mahlzeiten sorgt er ebenfalls, bürstet mein Fell, was eine Wohltat ist, vor allem, wenn ich haare, und er nimmt mich sogar mit auf Reisen. Er besitzt ein Haus in den Bergen. Wir fahren drei bis vier Mal im Jahr dort hin. Eine mehrstündige Fahrt ist von Nöten, die er abends zuvor mit Nahrungsentzug für mich ankündigt. Er möchte, dass ich die Fahrt möglichst gut ertrage und keine Übelkeit aufkommt. Mir wäre es lieber, er würde nicht so viel herumüberliegen, stattdessen etwas zügiger fahren und Zeiten hohen Verkehrsaufkommens meiden. Das nimmt er sich zwar jedes Mal vor, sagt so etwas wie: Morgen fahren wir noch vor Anbruch des Tages los, aber dann muss er noch dringend Dinge erledigen, die schon seit Wochen, gar Monaten liegen und es wird – so bin ich es von ihm gewohnt – doch Mittag, bis wir loskommen.

In den Ferien liest mir Herr Ernst häufig aus den Büchern vor, die er liebt. Sachbücher über Bienenzucht oder Hühnerhaltung – die soll ja jetzt wieder zunehmen – auch Ausstellungskataloge, Bildbände, Kunstkritiken zu berühmter Malprominenz, Reisebücher sind auch dabei. Und dann sagt er so etwas wie: Ach, Kompa, schau dir diese Landschaften an und stell dir vor, wie ich sie male. Er verspricht dann, mir auch ein Plätzchen darin einzuräumen. Bis jetzt hat Herr Ernst sein Versprechen noch nicht halten können.

Das Fahrradfahren liebt er ebenso und ich bin sehr beglückt, dass er mich auf diesen Fahrten nicht mitnimmt. Frau Mirjami hat einmal mit ihm zusammen die Alpen auf dem Zweirad überquert. Kurz danach zog sie aus und weg. Ihr neuer Wohnort entzieht sich meiner Kenntnis. Glauben Sie mir: Zu meinem großen Bedauern.

Herr Ernst spricht noch mehr, wenn er am Abend beginnt zu trinken. Ich habe beobachtet, dass er bei einer bestimmten Menge mehr redet. Wenn diese Menge noch größer wird und er beispielsweise für einen Entleerungsgang den Raum verlässt, kommt er deutlich ins Schwanken. Nimmt er dann noch mehr alkoholisches Getränk zu sich, wird er stumm, seine Haltung am Tisch wirkt labil, sein Kopf fällt zur Brust und er beginnt zu weinen. Er weint einige Zeit für und vor sich hin bis sein Kopf auf den Tisch fällt, er die Arme darunter überkreuzt und beginnt mit offenem Mund zu schlafen. In solchen Momenten schwanke ich, ob ich wirklich bei Herrn Ernst bleiben mag. Sein Selbstmitleid kann abstoßend sein.

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Marlene Schulz

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18 | Carolina Reichl

Die Wunschlosen 

Du sagst, es ist spät. Ich schaue auf die Uhr, die du mir vor Jahren geschenkt hast, auf der Innenseite hast du mir was eingravieren lassen. Numquam retro. Niemals zurück.

Es ist nachts, zwei Uhr einundzwanzig. Meine Augen sind ausgetrocknet, zu lange habe ich auf den Bildschirm geschaut. Fünf Stunden, 39 Minuten, um genau zu sein.

Ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht, darauf zu achten, wie viel Zeit ich für was brauche. Sechs Stunden Schlaf, 43 Minuten im Bad (morgens und abends zusammen), zehn Stunden in der Arbeit. Die restliche Zeit kümmere ich mich um deinen Kater Morli, in der Hoffnung, dass er sich irgendwann von mir berühren lässt, und gehe zu deinem Grab. Mindestens zweimal die Woche pflege ich es. Die Leute sollen schon von der Ferne sehen, dass dein Grab am schönsten ist, damit sie merken, dass du wichtig bist.

Ansonsten habe ich keine Hobbys, ich mache den Haushalt und bereite meine Patientengespräche vor.

Ich bin effizient.

Wenn ich mich entspanne, fühle ich mich faul.

Nur wenn ich nach Hotels schaue, kann es passieren, dass ich mich für Stunden verliere. Ich plane eine Weltreise, darunter ein zweiwöchiger Aufenthalt in Peru. Ich recherchiere nach den besten Unterkünften, Ausflügen, Lokaltipps und Reiserouten, bis ich so erschöpft bin, dass ich nicht mehr kann. Ich schließe den Laptop, ich bin voller Adrenalin. Ich stelle mir vor, wie das wohl sein wird. Peru, Island, Litauen, Japan, Indonesien, Australien, Hawaii, L.A., New York. Wissend, dass keiner von diesen Urlauben jemals für mich stattfinden wird.

Aber warum, du würdest doch gerne verreisen, sagst du. Es hätte nichts geändert, wenn du bei mir geblieben wärst.

Mein Handy vibriert.

Unsere ältere Schwester Katrin schreibt, ob ich nächsten Samstag zu ihr komme.

Wegen Weihnachten.

Ich seufze.
Schön wieder ein Jahr vergangen.

Katrin hält den Gedanken nicht aus, dass ich den 24. Dezember alleine verbringe oder so wie vor zwei Jahren den ganzen Tag an deinem Grab stehe. Zu groß das schlechte Gewissen. Beim Weihnachtsfest selbst will sie mich aber nicht dabei haben, nicht dass ich die Stimmung runterziehe, ich soll am Vormittag kommen.

„Till ist mit den Kindern einen Baum aussuchen“, sagt sie. Sie öffnet einen Prosecco. Wie eine Sanduhr bei einem Saunadurchgang markiert die Flasche unser gemeinsames Zeitfenster, das anzeigt, wie lange ich noch durchhalten muss, bis ich wieder verschwinden kann.

Ich schenke ihr eine Orchidee, Pralinen und ein Buch, das sie vermutlich niemals lesen wird. Sie sagt, das wäre nicht nötig gewesen. Es ist nicht leicht, jemanden zu beschenken, der schon alles hat.

„Für dich“, sagt sie und hält mir einen Reisegutschein entgegen. Letztes Jahr Wizz Air, dieses Jahr Tui. Ich bedanke mich, doch ich greife ihn nicht an.

„Freust du dich nicht?“, fragt sie.

„Doch. Ich kann ihn nur nicht annehmen.“

„Warum nicht?“
„Du weißt doch, dass ich Morli nicht alleine lassen kann.“

„Er kann bei mir bleiben.“
„Die Kinder würden ihn stressen. Außerdem muss ich auf meine Patienten schauen. Mir wäre nicht wohl dabei, ein Wochenende nicht erreichbar zu sein.“

„Du arbeitest zu viel.“

Sie hat recht, meinst du. Ich schüttle den Kopf.

„Wann warst du das letzte Mal auf Urlaub?“
Ich zucke mit den Schultern, als wüsste ich es nicht. Es sind drei Jahre, elf Monate und zwei Tage, seitdem du tot bist.

„Hast du kein Fernweh?“

„Ich glaub, ich brauch das Reisen nicht mehr“, sage ich.

„Blödsinn!“, ruft Katrin. „Mit ihr wolltest du noch eine Weltreise machen! Du warst immer so gern unterwegs und jetzt dreht sich alles nur noch um deine Psychopraxis!“

Katrin hält nichts von Psychotherapie. Sie glaubt, dass das Geldabzocke ist, dass die Leute nur an ihren Profit denken, wenn sie sich am Leid der anderen bereichern. Sie findet, mit seinen Problemen muss jeder selbst fertig werden; es bringt nichts, seine Sorgen immer wieder durchzukauen. Man muss weitermachen, sich auf das Gute konzentrieren, dann wird das schon.

„Und sonst?“, fragt Katrin. „Hast du irgendwas vor? Irgendwelche Pläne für die Feiertage?“

Ich schüttle den Kopf.

„Ich bin wunschlos.“

„Aber glücklich bist du nicht.“

Katrin trinkt den Prosecco aus und spricht mit ernster Stimme weiter: „Ich mach mir Sorgen um dich.“

Sie will wissen, was mich hier hält.

Ob es wegen dir ist?
Warum ich nicht loslassen kann?

Ihre Lippen bewegen sich weiter, aber ich höre nichts. Ich sehe deinen ausgetrockneten Mund, Katrin, wie sie dir den Speichel weg tupft. Ich sehe mich dir winken, euch sagen, ich hätte einen Notfall, einer Patientin geht es nicht gut. Ich verlasse das Krankenhaus, steige in ein Taxi und fahre zum Flughafen, ohne Gepäck buche ich dort den nächstbesten Flug, es geht nach Athen. Ich steige in den Flieger, ich komme an, ich lasse mich in einen Klub bringen, ich trinke, bis ich nicht mehr gerade stehen kann. Ich unterhalte mich, ich lache, ich tanze, ich mache alles, was du nicht mehr machen kannst. Ich habe Spaß, ich denke nicht an dich.

„Geht’s dir gut?“, fragt Katrin.

Mein Gesicht ist nass und salzig. Meine Haut glüht. Ich dachte, ich würde um dich trauern und dann würde es mir besser gehen, doch stattdessen bekomme ich jedes Jahr einen neuen Reisegutschein, den ich verfallen lasse und anstatt dem Rauschen der Wellen höre ich immer wieder die dröhnende Partymusik des Klubs und Katrin, die mich am nächsten Morgen anruft und sagt, du wärst friedlich eingeschlafen.

„Was ist?“
Ich kann nicht antworten, nicht denken, ich habe das Gefühl zu zerfallen, ich falle –

„Du warst sicher zehn Minuten weg.“

Katrin sagt, dass ich zu viel alleine bin und mehr auf mich schauen muss. Sie hätte mich mehrmals gerüttelt und meinen Namen geschrien, ich wäre am Boden gelegen und nicht ansprechbar gewesen.

Ich soll mir die Feiertage nehmen und mich entspannen, meinst du.

Ihr übertreibt.

Nach den Feiertagen gehe ich wie gewohnt zur Arbeit.

Numquam retro.

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Carolina Reichl

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17 | Silke Gruber

Landvermessung

Dein Blick
spuckt grobe
Gebirgskettensilhouetten
aufs offene Gelände

Meiner schlägt
statt Grenzpflöcke
seine erbärmlichen Haken
ins längst vermessene Feld

Vor Freunden
sprechen wir synchron
von: Lot, Kataster,
Waffenruhe

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Silke Gruber

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16 | Anne Büttner

Ein Recht schaffender Mensch

„In der Tat würde ich es begrüßen, würde man Sie überfahren." Sowas! Kein verkehrstaugliches Rad, geschweige denn reflektierende Kleidung, aber bei Rot über die Ampel brettern! Als würden Lichtsignalanlagen nur zum Spaß aufgestellt. Leider ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Raser wie gewünscht überfahren würde, um diese Uhrzeit nicht gerade hoch. Tatsächlich ist sie wohl ähnlich gering, wie das Risiko, aus dieser Entfernung von ihm erfasst zu werden. Trotzdem will er sich darauf nicht verlassen. Denn wenn es dann mal kracht, erwischt es ja doch meist die Falschen. In diesem Fall also ihn: Herbert Marotzke.

Eigentlich ist Herbert Marotzke kein Schwarzmaler. Aber in Anbetracht seiner ordnerfüllenden Aufzeichnungen über Fehlverhalten seiner Mitmenschen, scheint ein rücksichtsvolles Miteinander ja kaum mehr möglich. Würde ihn nicht wundern, würde das komplette Wertesystem in 20, 30 Jahren wegen Nichtgebrauchs gestrichen. Sollten sie doch alle machen, dann. Dann wäre er sowieso nicht mehr und es ihm auch egal. Aber bis es soweit ist, denkt er nicht daran, Einschränkungen seiner Lebensqualität hinzunehmen. Weder durch Mensch, noch durch dessen Getier. Wie etwa dem Vierbeiner im Nachbarhaus: Statt der zu duldenden 15 Minuten täglich, kläfft das Tier in Summe ordnungswidrig oft doppelt so lang, wie das detaillierte Protokoll belegt, das Marotzke hierzu seit Wochen führt. Sicher kann auch er sich Schöneres vorstellen, wie er seinen wohlverdienten Ruhestand verbringen könnte. Aber früher oder später würden sich seine Mühen auszahlen. Was Recht ist, muss schließlich Recht bleiben. Man stelle sich nur mal vor, was das gäbe, wenn alle machten, wie sie wollten. Nichts Gutes gäbe das, soviel steht mal fest. Ob nun wirklich jedes Regulativ sinnvoll ist, ließe sich sicher diskutieren. Aber solang es sie gibt, hat man sich eben daran zu halten. Punkt!

Er weiß, dass so viel Konsequenz nicht immer auf Gegenliebe stößt. Häufig noch nicht mal auf Verständnis. Wer wird schon auch gern auf eigenes Fehlverhalten hingewiesen? Etwa darauf, dass sich die behördliche Genehmigung für eine Sitzreihe vor dem Café eben auch nur auf eine Sitzreihe vor dem Café erstreckt und nicht auf einskomma. Oder darauf, dass Parken bei abgelaufener Parkuhr vielleicht nicht ihn, den arglosen Fußgänger Herbert Marotzke interessiert, sicher aber das von ihm darüber informierte Ordnungsamt. Oder das innerstädtische Alkoholverbot: Wer mag schon daran erinnert werden, dass auch ein „Prüfung-bestanden-oder-Antrag-angenommen-oder-abgelehnt-Sekt“ nichts anderes als Alkohol ist und damit ebenso unter dieses Verbot fällt. Oder wer wird schon gern belehrt, dass das Bedienen an über fremder Leute Zaun hängendem Obst ebenso wenig erlaubt ist, wie das Pflücken steuerfinanzierter Anpflanzungen im öffentlichen Raum. Wenn das alle machten. Dann sähe das hier aber ganz schnell ganz anders aus. Und ganz sicher nicht schöner. Mit dieser geht-mich-nichts-an-Mentalität ist doch niemandem geholfen.

Herbert Marotzke jedenfalls ist nicht bereit, solche Missstände hinzunehmen. Auch nicht die weniger offensichtlichen, wie Laubvorkommen auf dem Gehweg, wo, anders als oftmals angenommen, die Räum- und Verkehrssicherungspflicht eben nicht erst bei Schnee und Eis greift. Warum ausgerechnet er angegangen wird, wenn er entsprechendes Tätigwerden empfiehlt, noch häufiger ausdrücklich erbittet, ist Marotzke unbegreiflich. Wehe, es stürzt wirklich mal wer. Die will er sehen, die dann noch immer meinen, er übertreibe oder solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern.

Dabei sind diese Angelegenheiten ebenso seine, wie sie die der anderen sind. Schließlich ist auch er Fußgänger, ist Nutzer öffentlicher Räume und Verkehrsmittel, ist Steuerzahler, ist Verbraucher, ist Bürger, Einwohner, Anwohner, ist statistisch geführter Pro-Kopf-Haushalt, ist Kunde, Patient, Entleiher, Mieter, Nachbar, Gefährdeter, Betroffener, Parzellenbesitzer, ist Mitmensch und vor allem nicht bereit, vermeidbare Abstriche an seiner Lebensqualität zu dulden. Oder an der Lebensdauer, wie es wegen des Radrowdys von eben zu befürchten stand.

Diesmal würde sich das Amt nicht aus der Verantwortung stehlen können. Mit Beschwerden oder Anregungen allein brauchte man denen ja nicht kommen. Wollen die gar nicht hören. Können die nichts mit anfangen. Das kennt Marotzke schon: Zu abstrakt wären seine Schilderungen. Da seien ihnen die Hände gebunden oder der Ermessenspielraum zu weit oder zu knapp oder der Feierabend zu nah oder oder oder. Selbst Untätigkeitsklagen beeindrucken da niemanden. Zumindest hatte keine der bisher von ihm angestrengten etwas bewirkt. Dieses Mal aber führte an einem Tätigwerden kein Weg vorbei. Schließlich handelte es sich dieses Mal um eine ganz konkrete Gefahr für Leib und Leben.

Sobald er ein Lineal zur Hand hat, wird Herbert Marotzke seinen Aufzeichnungen eine Spalte „Fortbewegungsmittel ohne Motor“ hinzufügen und dann multiplizieren, was zu multiplizieren war. Da kam einiges zusammen. Allein im letzten Monat war an selber Stelle im Zeitraum zwischen 23.30 und 3 Uhr, bei gleichbleibender Anzahl an Fußgängern (1 Herbert Marotzke), ein eklatanter Anstieg motorisierter Fahrzeuge zu verzeichnen. Sein Risiko, wochentags bei einem nächtlichen Rundgang erfasst zu werden, lag hier inzwischen um ein 0,8faches höher, als zu Beginn seiner Erhebungen. Und jetzt dieser radelnde Rowdy. Herbert Marotzke würde den neu berechneten Gefährdungsfaktor farbig markieren - in Hypertonierot.

In vier Stunden öffnet die Straßenverkehrsbehörde. Keine Minute später stünde er bei Frau Kutschera auf der Matte, um ihr seine aktualisierten Aufzeichnungen vorzulegen. Vier Ordner umfasst die Causa Schlönzdorfstraße 7a mittlerweile:

Ordner I mit Inhaltsverzeichnis, Sachverhaltsdarstellung, Flurkarte, Skizzen, Fotos. Ordner II und III mit sämtlichen hierzu von ihm angefertigten Protokolle, Tabellen, Diagramme, Auswertungen sowie Prognosen und Ordner IV mit einem Konzept zur Verkehrsberuhigung sowie dem Sachwortregister, das er noch um notwendige Einträge (unmotorisierte Gefährder, leiser Tod, Dunkelziffer) ergänzen würde.

In Anbetracht der Lage bliebe Frau Kutschera gar keine andere Möglichkeit, als unverzüglich tätig zu werden und das Verfahren für die Umgehungsstraße einzuleiten, die, neben dem Missachten von Parkmindestabständen im Kreuzungsbereich, der Mängelleistung der Straßenbeleuchtung in der Friedhofsgasse und dem Stutzen des Straßenbegleitgrüns auf ein ansprechendes Maß, eines seiner meistvorgetragenen Anliegen war. Jedenfalls in diesem Quartal.

 „Herr Marotzke, so früh schon. Guten Morgen.“ Dass man an der Pforte seinen Namen gleich parat hat, überrascht ihn. Schließlich war er zwei Wochen nicht mehr hier gewesen und sein letzter Anruf auch schon ein paar Tage her. „Sie wollen sicher zu Frau Kutschera. Da muss ich Sie enttäuschen. Sie ist heute nicht im Haus.“ „Dann melden Sie mich bitte bei Herrn Bedrich. Der ist doch noch Frau Kutscheras Vertretung?" „Das tut mir leid, Herr Marotzke, Herr Bedrich ist ebenfalls nicht ..." „Ja dann melden Sie mich eben bei der Person, die in einem solchen Fall die Vertretung übernimmt. Frau Gwisdek? Herr Kuperny?" Kopfschütteln. „Hören Sie, Herr Marotzke. Ich würde Sie bitten, einfach nächste Wo ..." „Nein, Herr Marotzke hört jetzt nicht. Herr Marotzke wird auch nicht einfach nächste Woche wiederkommen. Ich sag Ihnen, was Herr Marotzke wird: Herr Marotzke wird jetzt hier Platz nehmen und solang sitzen bleiben, bis er mit einer zuständigen Person gesprochen hat." „Aber, Herr Marotzke, das bringt doch nichts." „Das sehen wir ja dann."  Heute würde er sich nicht wieder vertrösten lassen. Die Aktenlage duldete keinen weiteren Aufschub. "Entschuldigung? Herr Marotzke?" Herbert Marotzke kennt den Mann nicht, der vor ihm steht. „Und Sie sind?" „Die Pforte hat mich informiert. Herr Marotzke, ich möchte Sie bitten, am Montag wiederzukommen. Sie werden heute hier kein Glück haben." „Hören Sie, Herr ...", Herbert Marotzke wirft einen Blick auf das Namensschild und die Funktion des ihm Unbekannten. "Hören Sie, Herr Schulz. Zum einen hatte ich hier bisher noch nie Glück, sonst würde ich mir wohl kaum noch Weg und Mühe machen müssen. Zum anderen hatte ich ausdrücklich um ein Gespräch mit einer zuständigen Person und nicht mit dem Wachdienst gebeten." „Wie gesagt, Herr Marotzke. Wegen eines Seminars zum Umgang mit schwieriger Kundschaft ist heute hier nur Notbesetzung."

Ein Seminar zum Umgang mit schwieriger Kundschaft? Ja, wunderbar! Endlich würde sich all den uneinsichtigen Verbotsmissachtenden und Genehmigungsausnutzenden mal angenommen. Offensichtlich hatte sein Engagement, hatten seine Eingaben, seine Beschwerden und Rundschreiben, sein Sich-nicht-abwimmeln-lassen, seine lückenlose Dokumentation, seine Untätigkeitsklagen, und ja, auch sein Lautwerden hin und wieder, doch etwas bewirkt oder zumindest angestoßen.

"Gut, dann komme ich Montag wieder. Punkt acht Uhr bin ich da." „Natürlich sind Sie das." Herbert Marotzke nickt. Natürlich ist er das. Vorausgesetzt, dass er in Anbetracht der akuten Gefährdungslage dann noch ist.

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Anne Büttner

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15 | Jens Röhling

Schnee

Ich habe Pfeifen aus Weidenästen geschnitten
habe Brücken und Dämme gebaut
bin über Gräben gesprungen
habe auf Blumenwiesen getanzt
ohne Angst vor Zecken
Ich habe Spielkarten gegen Fahrradspeichen schlagen lassen
und bin damit durch die Siedlung gefahren
Bin über Baustellen geschlichen
und habe einen Hammer geklaut
der unachtsam im Kellergeschoss vergessen gewesen
Bin von Bäumen gefallen
und in Brennnesseln
mit Loch im Kopf beim Arzt gesessen
und doch wieder heraufgeklettert

Und all das habe ich vergessen

Ich habe Bier getrunken
das achtlos am Kiosk verkauft
und Grashalme geraucht
Salpeter mit Zucker vermischt und
im Erdhügel brennen lassen, dass es schien wie ein Vulkan
Ich bin heimlich auf dem Güterzug mitgefahren
und habe mich von meinen Eltern wieder abholen lassen
zweihundert Kilometer entfernt
Ich habe einen Bergbach gestaut, der drei Tage
danach bei Unwetter über die Ufer getreten ist
und die Straße weggespült hat, auf der ich
5 Minuten zuvor noch gefahren bin
und mich lange gefragt, ob es meine Schuld war.

Und all das habe ich vergessen

Ich bin in der Dunkelheit durch glitzernde Wellen geschwommen
nackt, mit den anderen, die ich seit zwei Stunden kannte
habe mit dem Mädchen geschlafen am Strand
das mich in die Arme geschlossen und geküsst hat
bis wir untergingen
und weiter
durch den Sand gewälzt, dass wir wie panierte Backfische
glücklich nebeneinander lagen
um uns ein letztes Mal in die Augen zu schauen
und uns nie wieder zu sehen
Ich bin stehen gelassen worden wegen einer Runde Schnaps
und saß lange enttäuscht in Dünen
bis zum Morgengrauen einsam sehnend
nach diesen grünen Augen.

Und all das habe ich vergessen

Nach und nach hat sich meine Sprache verloren
Worte abgetrennt wie Gliedmaßen
zunächst nur die Nägel
in mechanischer Geste, gar nicht wahrnehmend
dann Fingerkuppen, Unterarme
jetzt schmerzhaft aber unausweichlich
Bis zuletzt nur ein Torso aus Pragmatik
ganz zu Staub zerfiel
die Asche verwehend
um die Frage nach mir
im Raum stehen zu lassen

Ich greife in den dreckigen Schnee
knete daraus einen Ball
und werfe ihn gegen das Schild am Straßenrand
Ich treffe nicht
und weiß doch noch, wie es war.

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Jens Röhling

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14 | Lea Menges

tektonik

 

i.

beschreibe einen aufbruch
es zieht die watte im magen zusammen
braut dumpf

raufasertapete und hirnrinde und verbinde augen mit
welche furchen im sehfeld
wie man nachfahren soll

 

ii.

die angst verlassen zu werden
ein windhund mit silberaugen

striemt mir wie styropor über die haut
steckt mir morgens in den knochen
wie mohn

 

 

iii.

bedecke abweichendes innenleben
knie aufschlagen statt adern
von der kamera geschluckte mondstrukturen
auf meine knie abgepaust
was es heißt, ebenen zu verschieben

schleckt luft über die pupille
rauschen taubenfedern ins zimmer
aus körpern gelöst
aus haut gepickt vor dem spiegel
quetsche ich talg und trauma aus meinen poren
betrachte meine eltern beim schlafen
in der wangentasche ein gefühl dabei
man kann kein ultraschallbild der lage machen
man kann nichts durch die bauchdecke wenden

den kreisläufen trotzen wie moos auf schnee

 

iv.

eine liste eingetretener veränderungen
die dinge auf lunge tun
ins atmende brennen
eine möglichkeit aus dem eigenen fleisch schnitzen

in der zukunft liegt
der feine ascheschleier
der mich nachts
mit den zähnen knirschen ließe
trüge ich keine spange

 

v.

meine stirn patrouillieren lassen es eitert
aus der achsel als ob es provisorisch wäre
zu schorf werden eine andere form von bleiben
ein erschrecken vor dem eigenen abheilen
das zu sichtbar ist das ich von meinem rücken kratze
knochigknotig unter fingerkuppen

öffne rippen wie hände die perlen ab
knackende wirbel säure tritt aus
der versuch reibungsfläche zu minimieren
scheitert der schmerz liegt längst im anatomischen grab
und da war nie fläche die mich deckte nur eine hand
der himmel kann sich selbst nicht gleichen

darunter ein körper es krampft ihn noch
zwischen beiden bald spanne
bald stand

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Lea Menges

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13 | Mario Schemmerl

Alles Frisch

Vor wenigen Wochen hast du dabei geholfen die Wände der Wohnung deines Vaters für Nachmieter zu weißeln. In einem der Zimmer hast du ein paar Jahre gewohnt. Eine Spanne wie ein Strich, abgehakt kurz. Während der Ausmalarbeiten hast du ein zwei Sätze darüber gesagt und gleich bemerkt, dass dein Vater keine Erinnerung daran besitzt wie schwer er dir damals dein Leben gemacht hat. Vor einiger Zeit hast du einmal damit angefangen, einfach losgeredet, weil du dir sicher warst, dass es für euch beide wichtig ist. Er sah auf selbstschuldige Weise betroffen aus, sagte nichts und wechselte bald das Thema. Du warst immer nachsichtig mit ihm. Immerhin hat er ein Kind verloren, deinen Zwillingsbruder. Und du wusstest ja auch nicht wie das geht, ohne Zwillingsbruder zu leben. Mit einem Vater in dessen Versteck, in dessen Höhle zu vegetieren, dass weißt du, das hast du gelernt. Mit deinem Auszug stand dein Zimmer für ein paar Jahre beinah ungenützt leer. Seine einzige Funktion war es als eine Art Wäschekammer zu dienen. Von den meisten Dingen hatte er zu wenig, aber zwei aufgeklappte Wäscheständer hatte er. Immer waren sie aufgestellt und immer hängte was auf ihnen. Beim Ausmalen machte ein dunkler Abdruck auf der Wand Probleme. Der Fleck stammt aus dir. Er ist das Werk deiner Einsamkeit. Dein Abdruck liegt wie einer der Schatten von Pompeji im Zimmer. Dort bist du gewesen. An dieser Wand gelehnt, nicht in Pompeji. Dort warst du nie. Das ganze Zeugs was tief in deiner Brust existierte, pulsierte und raus wollte, schlief immer wieder ein, wachte immer wieder auf und endete dann dort an der Wand. Nach dem Auszug hast du lange gelitten ohne zu wissen wie es anders geht als sich dabei wegzusperren. Vater wollte mit der Pension eine Veränderung. Fand sie mit einer neuen, kleineren Wohnung. An seiner Art des Verbergens hat sich nichts geändert. Es ist wie damals, nur ohne diesem Zimmer an dem dein Abdruck klebt.

Gestern. Eine Freundin befindet sich zurzeit in einer Rehabilitationsklinik für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Es war dir und deiner Freundin wichtig sie zu sehen, mit ihr zu sprechen, ihr zu zeigen, dass sie ein paar Stunden Fahrt wert ist. Am Hinweg, auf der Autobahn, wart ihr plötzlich in den Totenwinkel eines anderen Autos gerutscht um gleich wieder daraus zu entgleiten. Deine Freundin wachte aufgrund des kleinen Lenkmanövers auf. Du hast nur gesagt: ‚Kein Problem. Ich sah das Kommen.‘  Und  ‚Ich werde sehr alt werden. Ich weiß nicht warum, aber das spüre ich schon lange.‘

Du wohnst mit dieser Frau zusammen. Zuhause musst du sie immer wieder darauf hinweisen, sie solle die Kerzen auspusten wenn sie den Raum verlässt. Sie vergisst das oft. Was die beiden Katzen betrifft glaubst du, dass sie euch ansehen als würdet ihr ihnen was bedeuten. Dabei habt ihr sie von ihren Müttern getrennt. Eiskalt sind wir.

Was wird dich begleiten, was wird man vergessen, was macht dich glücklich?

Du weißt gar nicht was du heute tun sollst. Einfach weiter machen, denkst du. Niemand weiß wie das geht. Bis sich die Sache mit dem Glücklich-Sein wieder einstellt. Für einen Moment. Das reicht.

Mit aller Frische denkst du dann, ja so war es.

Abends. Fast in der Badewanne ausgerutscht.

Dein Herz schlägt wie wild.

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Mario Schemmerl

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12 | Dorothee Krämer

aus zwei rudern

ich bin aus zwei rudern geboren sie fuhren
mit mir übern see
am morgen war das wasser eisblau und klar
am abend ein sumpfiges grün
die ruder steckten im moorigen grund
wir schlugen leck
ich kletterte an land
hinter meinem rücken hörte ich das
krachen der hölzernen ruder
sie rissen eine wunde in den see
übers land verteilten eidechsen
ihre bewegungslosigkeiten
in meinem rücken waren holzsplitter
jetzt trug ich einen eidechsenrücken

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Dorothee Krämer

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11 | Leonie Höckbert

Der letzte Gang

Zu Weihnachten gab es in ihrer Familie traditionell sehr viel Essen und noch mehr Bemerkungen darüber, wie schlecht so viel Essen ist. Mit etwas Glück gab es für Louisa auch den ein oder anderen ganz persönlichen Kommentar über ihr diesjähriges Weihnachtsgewicht. Wie bei der Gans, nur andersrum. Man wartete offenbar auf die mageren Jahre.

Ihre Kindheit war glücklich gewesen, glaubte sie, aber durch die letzten Jahre des ersten Erwachsenenalters fraß sich die wachsende Vermutung, dass sie bei damaligen Familienfeiern nur durchs Kindsein geschützt worden war vor den verstecken Spitzen und offenen Attacken der Verwandten. Sie saß zwischen den Beinen des Couchtischs und den Beinen der Großeltern auf dem Boden und was gesprochen wurde, ging buchstäblich über ihren Kopf hinweg. An die Weihnachtsfeste dieser Jahre dachte sie mit einem kerzenwachsweichen Gefühl zurück. Der Geruch der Tanne und des Parfüms ihrer Mutter und der von Holz, das im Kamin verbrannte, das alles gehörte so sehr zum Damals, dass Louisa es jetzt unpassend fand, an diesem Weihnachten, wo der Kamin genauso brannte und ihre Mutter dasselbe Parfüm benutzte und Tannen so rochen, wie sie es immer tun würden.

Louisa war in diesem Jahr aus Weihnachten rausgewachsen. Wie für jede Jahr buchte sie ein Zugticket nach Hause, wo ihr Vater sie mit jährlich müderem Gesicht abholen würde. Vor dem Kleiderschrank hatte sie ängstlich überlegt, welche Bemerkungen ihre Kleiderwahl provozieren könnte, und hatte dann direkt unterm Brustbein eine kleine Wut über diese Sorge entdeckt. Ein kleiner bitterer Zorn, den sie später in Ruhe genauer betrachten wollte. Sie spürte die Last der Vorweihnachtszeit, die man von Kindern fernhält. Die vielen Stunden auf der Suche nach passenden Geschenken, die sie sich leisten konnte, erschöpften sie und vom Plätzchenbacken bekam sie Rückenschmerzen. Niemand hatte sie nach ihrer Wunschliste gefragt. Weihnachten zehrte ihren Dezember auf und Louisa betrank sich zum Ausgleich mehrfach am Glühweinstand. Während sie schwallweise Glühwein erbrach, dachte sie daran, wie grotesk es war, nach inneren Blutungen auszusehen, aber nach den Gewürzen des Dr. Oetker Aktions-Aufstellers zu riechen.

Erst im Zug zu ihrer Familie fiel ihr die kleine Wut wieder ein. Sie war noch da. Louisa schaute durch ihr Spiegelbild im Zugfenster hindurch und wunderte sich. Sie freute sich nur auf ihren kleinen Neffen. Dem könnte sie im passenden Moment beiläufig die Ohren zuhalten, wenn sich die Erwachsenen als Komplimente getarnte Beleidigungen ins Gesicht sagten.

Abgesehen von ihren Eltern gab es für sie eigentlich kaum einen Grund, jedes Jahr wieder mit wachsenden Heiligabendbefürchtungen in den Zug zu steigen, dachte sie. Der Gedanke zog zusammen mit den Lichtern der Vorstadt an ihr vorbei. In ihrem Koffer fielen die Plätzchen mit den Streuseln im Zuckerguss durcheinander und brachen den Zimtsternen die Ecken ab. Ihr Ankommen wurde etwas leichter, als ihr Vater sie schon im Festtagshemd am Bahnsteig umarmte und nach demselben Rasierwasser roch wie vor zwanzig Jahren. Er sah nicht bedeutend müder aus als bei ihrem letzten Besuch. Weihnachten hatte keine Vorboten gesandt.

Der erste Gang bestand aus Salat und noch vergleichbar frischer Wiedersehensfreude. Selbst enge Verwandte haben sich alle paar Monate nochmal für eine Stunde etwas zu erzählen. Der Salat war sehr gut. Ihre Cousins waren sehr witzig und erzählten viele Geschichten aus ihrer neu gegründeten Firma. Als sie erzählten, dass sie und die meisten Mitarbeiter oft von zu Hause arbeiteten, sagte ein Onkel, zu seiner Zeit hätte man noch richtig gearbeitet. Ein Salatlöffel wurde vielleicht strategisch laut zurück in eine Schüssel fallen gelassen. Louisa leerte ihr vom Anstoßen übriges Glas Sekt, ihre Mutter war ihr schon eins voraus.

Im Anschluss gab es Tomatensuppe. „Ich liebe Tomatensuppe“, sagte Louisa, und setzte ihrer Suppe eine Schlagsahnehaube auf. Ihre Tante lachte und sagte, so würde sie Suppe auch lieben. Sie hatte keine Sahne genommen. Louisas Mutter, die Köchin, schwieg auf ihren Teller. Ihr Vater sagte, „du hast als Kind Tomatensuppe schon geliebt, weißt du noch? In der Schublade unterm Herd war immer eine Dose Tomatensuppenpulver“. Sie wusste es natürlich noch ganz genau. Manchmal hatte sie heimlich das Pulver pur genascht. „Suppe aus Pulver?“, fragte ihre Oma. „So Instantzeug ist aber nicht so gut für das Kind“. Ein Cousin sagte, „naja, das waren die Neunziger“. Das Gespräch wand sich dem Mauerfall zu. Über Ossi-Witze konnten noch immer alle gemeinsam lachen.

Zwischen zwei Gängen wurden die Gläser wieder aufgefüllt und der kleine Neffe herumgereicht. Seine Mutter beantwortete Fragen dazu wie er schlief, wie er aß, für welche Kita er vorgemerkt werden sollte. Louisa ging ins Bad und wünschte sich, jemand würde sie etwas fragen. Sie war erst vor weniger als zwei Jahren zu Hause ausgezogen. Es war ihr erstes Weihnachten ohne ihren Exfreund, den ihre Familie gut gekannt hatte. Als sie sich die Hände wusch, sah ihr Spiegelbild über dem Waschbecken etwas selbstgerecht aus. Sie übte ein Lächeln für den Rückweg zum Tisch. Da stand schon der Hauptgang bereit. „Und“, sagte ihre Oma zu ihr, als sie sich wieder setzte, „wann bringst du auch noch jemanden mit“, und nickte in Richtung des Babys auf dem Schoß seiner Mutter. „Na vorerst wohl dann erstmal nicht“, sagte Louisas Opa, ehe sie selbst antworten konnte. Louisa sah auf und ihm ins Gesicht, ihr Opa sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, als würde er um seine Augen herum Platz machen wollen für das daraus sprechende Urteil über Louisas Beziehungsscheitern. Die Mutter ihres Neffen fragte, ob man ihr die Kartoffeln reichen könnte und ordnete sie dann neben dem Gemüse an, das sonst ihren Teller füllte.

„Isst sie noch immer kein Fleisch?“, fragte Louisas Opa ihren Bruder. „Nein, ich esse noch immer kein Fleisch“, antwortete seine Frau selbst. „Ich esse selbst kaum mehr welches“, sagte Louisas Bruder, auf dessen Teller drei Stücke Braten von Soße unförmig gebadet wurden. Ihr Onkel machte einen Vegetarierwitz, den er im Internet gelesen hatte. Die Frau ihres Bruders lachte nicht mit und Louisa versuchte ihren Blick zu fangen, aber sie schien Verschwörung nicht nötig zu haben. „Mir liegen Tiere eben zu sehr am Herzen“, sagte sie fast unbeeindruckt. Man war sich einig, dass das ja jeder halten könne, wie er wolle, so lange sie nicht versuchten, den Kleinen zum Vegetarier zu erziehen.

Glücklicherweise sagte in diesem Moment Louisas Tante zu ihrer Mutter, „wie machst du das nur, dass das Fleisch so zart wird, das zerfällt ja richtig“. Ihre Mutter lächelte aufrichtig und sagte, „freut mich, dass es dir schmeckt, das ist gar nicht schwer, sondern nur eine Frage davon, wie lange man den Braten im Ofen lässt“. „Ah ja“, sagte ihre Tante, „deine Zeit zum Kochen immer hätte ich ja mal gerne“. Für eine Weile sagte niemand mehr etwas und Louisas Mutter leerte das Glas und ließ daneben ihren Teller halbvoll.

Als sich kleinere Gespräche zwischen Sitznachbarn entspannen und auch Louisa sich etwas entspannte und in ihr Weinglas starrte, fragte ihr Cousin neben ihr, wie zu jeder Familienfeier seit fast zwei Jahren, „was studierst du nochmal?“ Und sie hatte nicht übel Lust, zu lügen. „Kulturanthropologie“, sagte sie trotzdem. „Ach das“, sagte ihr Cousin. „Warum studierst du mit deinem super Abi nicht eigentlich was Richtiges?“, mischte sich ihr anderer Cousin ein. Sein Bruder sagte, „ach komm, sie ist doch schön genug, um mal jemanden zu heiraten, der Geld verdient“. „Danke“, sagte Louisa tonlos in ihr Weinglas und stand abrupt auf, um ihrer Mutter beim Abräumen zu helfen. In der Küche sortierte sie Bestecke in die Besteckschublade der Spülmaschine, eine Arbeit, die ihrem Bedürfnis, etwas irgendwo rein- oder draufzuknallen, nicht gerecht wurde. Ihre Mutter nahm derweil viele Glasschälchen aus dem Kühlschrank, von denen sie die Frischhaltefolie zog. An der Folie hatten sich Kondenswassertropfen gebildet und Louisa musste hörbar Schlucken. Ihre Mutter strich ihr mit etwas ungezielten Bewegungen liebevoll über den Nacken. Als Louisa von der Spülmaschine aufsah, noch immer nicht ganz weggeblinzelte zornige Tränen im Augenwinkel, lächelte ihre Mutter sie für einen Augenblick ganz sanft und gerührt an. „Louisa“, sagte sie dann, „kannst du noch Getränke aus dem Keller holen? Nüchtern erträgt man das hier ja alles nicht“. Sie wies auf einen Sechser-Getränketräger aus Plastik neben der Tür.

Im Keller war es angenehm kühl nach der Hitze von Essen, Alkohol, Gesprächen und Kerzen, aber wie immer dämmrig. Die Glühbirnen hier unten hielten vermutlich schon seit den Achtzigern durch und schafften es nicht bis in die letzten Winkel des kleinen, dunkel gestrichenen Raums unter der Treppe, in dem die Getränke gelagert wurden. Sie füllte den Plastik-Träger nicht sofort mit Wein aus den Regalen und Sekt aus dem kleinen Kühlschrank, sondern lehnte sich einen Moment lang mit dem Kopf gegen die kalte Wand. Der Rauputz bohrte sich in ihre Stirn. Hier im Getränkekeller roch es schon immer viel mehr nach Keller als in den Räumen daneben. Der Geruch selbst war kalt, nicht direkt modrig, aber auch nicht frisch, als würden dort viele ungewaschene Äpfel lagern, die bei Minusgraden durch den Winter gebracht werden sollten. So lange Louisa sich erinnern konnte, hatte ihre Familie nie Äpfel im Keller gelagert. Sie lehnte an der Wand und drückte den Kopf dagegen, bis ihre Stirn brannte, und lauschte dem Gluckern der Wasserrohre. Als Kind war sie nie tief in den Raum hineingegangen und auf der Flucht vor unklaren Bedrohungen immer die Treppe so schnell es ging wieder hinaufgerannt. Sie dachte an das gemeinsame Auspacken im Wohnzimmer gleich und versuchte sich vorzustellen, wie sich zum Beispiel ihr Bruder über ihr Geschenk freute.

Aber an das in ihr vergrabene Weihnachtsgefühl kam sie nicht mehr dran und sie hatte die wachsende Wut der letzten Wochen nicht vergessen. Sie sagte sich, dass auch da noch das Kind in ihr lebte, der trotzige Anteil eines egoistischen Mädchens, das gerne beachtet werden wollte. Die geraubten Kindheitsgefühle würden weder der Weihnachtsbaum noch das Kaminfeuer im Wohnzimmer zurückbringen. Die vielen kleinen Verletzungen des Abends würden nicht zurückgenommen werden und sich zu denen der letzten Jahre gesellen. Geschenke auspacken konnte man aber ja trotzdem. Sie nahm den Kopf vom Putz und rückte ihren Gesichtsausdruck zurecht. Mit sechs vollen Flaschen im Träger machte sie sich wieder auf den Weg die Treppe hoch. Oben warteten sie schon mit dem letzten Gang. Auf dem Heimweg würde die Keksdose leer unnötig viel Platz in ihrem Koffer wegnehmen, zu Hause würde sie die letzten verlassenen Zimtsternecken rausschütteln und die Dose ganz oben auf einen Küchenschrank schieben und nicht an sie denken, bis wieder Dezember wäre.

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Leonie Höckbert

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10 | Manon Hopf

Wir sind drei oder vier. Am Meer fällt kein Schnee, wir pusten ihn aus den Feldern, wechseln unsere Verortung. Wir sind ein Wald, in unserem Blick wohnt ein Kreis. Dort fällt eine Flocke, landet. Auf der Zunge ist sie nichts. Auf der Haut, im Fell bleibt sie als Zuneigung. Als Menschen stehen wir ungerade, haben einen Hang zur Erde.  Als Tiere sind wir gleichauf, wie überliefert, weithergebracht. Sind eine Erzählung, ihre Worte lecken wir uns ins Fell. Da überwintern sie.

Wenn eine ausfällt trauern wir. Dann ist wir eine weniger. Dann suchen wir uns etwas aus. Es gibt ein Spiel, das heißt, uns einen Schatten holen. Der Schatten wächst. Wenn er größer wird als wir, dann müssen wir ihn abhängen. Das heißt, wir rennen davon. Teilen ihn auf. Wir teilen uns nie, aber der Schatten wird kleiner, wenn er zerrissen ist. Bleibt hängen im Gestrüpp. Von dort zieht er in Fetzen in die Erde.

Einmal im Jahr kommt der Schnee. Wenn er nicht kommt, werden wir nicht älter. Älter werden heißt, Schatten im Boden vergraben. Dann legt sich der Schnee darauf und man vergisst. Wir vergessen nicht. Wir haben gelernt, dem Schnee zu danken. Danken heißt, etwas zurückzugeben. Einmal im Jahr bleibt eine liegen. Einmal im Jahr kommt der Schnee. Wenn er nicht kommt, liegt eine umsonst.

Umsonst ist immer zu wenig. Zu wenig heißt, dass man sich etwas nehmen muss. Wir nehmen uns etwas vom Mann. Es geht immer sehr schnell. Etwas Lebendes bleibt in den Händen, wenn man es hat. Dann schieben wir es uns in den Bauch, setzen uns fest. Wunden lecken heißt auch, die große Narbe trösten, wenn sie weint. Dann kommen wir aus uns selbst.

Wie es ist, sich selbst im Arm zu haben. An den Brüsten. Wir jaulen, wenn wir Hunger haben. Wer Hunger hat der isst. Was essen, wenn es nichts gibt als uns selbst. Am Waldrand stehen Augen. Ein andres Spiel heißt, wer sie schneller schließen kann. Liderlecken, unter den Lefzen Träume. Der Schlaf kommt immer aus dem Bauch.

Sich nur den halben Schlaf holen. Ein Auge immer halbauf. Das hat der Mond uns ins Gesicht gemalt. Wir lecken ihm ein Loch in die Stirn. An irgendwas muss er sich aufhängen können. Wie wir, wir hängen in den Bäumen. Die am längsten hängt, verliert. Es kracht wenn man sich an die Beine hängt, wie Äste. Ein Baum hat mehr als ein Genick.

Wie schwer der Schnee im Rücken liegt, das weiß der Frühling. Wie wenn man aus der Erde kommt, nur blau. Mit blauen Lippen kann man besser singen, sagen wir. Wir schütteln unsere Wörter ab wie Schnee. Mit vollen Händen trinken wir sie wieder auf. Stecken uns Zapfen rein. Was kalt auf der Zunge liegt, stillt einen Durst. Ob er gelöscht wird liegt an unseren Worten.

Was sprechen, wenn der Durst nicht sterben will beim Trinken. Wie nennt man eine Angst die nicht vergeht, wie ein Verlangen. Wir sagen nichts, wir gehen durch die Zeit. Kann süß sein, das kann Nacken brechen. Die Zeit findet in uns dann einen Ort, sie findet statt. Wir wissen zu vergehen. Vor Hunger, Kälte, vor Wald. Wir wissen auch, wie man sich weitergeben kann, verwandeln. Einmal im Jahr kommt der Schnee. Wenn er nicht kommt, werden wir kälter.

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Manon Hopf

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