23 | Martin Peichl

wenn jemand stirbt, soll man alle Spiegel verhängen,
damit sein Geist nicht gefangen wird im Glas,
dann bleiben sämtliche Uhren im Haus stehen,
die Zeiger und die Ziffern zucken, schweigen,
man soll die Fenster weit aufmachen, auch im Winter,
der Beginn einer langen Reise, wenn jemand stirbt

im Kühlschrank liegen jetzt andere Produkte,
ist nichts mehr am selben Platz, und die Zimmer
sind ein paar Zentimeter nach außen gewachsen.
wenn jemand stirbt, wird es Zeit für neue Rituale:
am Fünfundzwanzigsten lege ich den Adventskranz
auf dein Grab und wenn genug Schnee liegt,
schaut nur mehr die höchste der vier Kerzen raus.
jemand wird vorbeigehen, ein Foto machen,
eine Geschichte dahinter vermuten, vielleicht

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Martin Peichl

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22 | Gundula Schiffer

Der Sonnenmann

Unten auf dem Trottoir stand ein Mann
in der als Lenz getarnten Wintersonne.
verstand, dies ist sein Kairos: genieße,
vielleicht schon morgen bist du traurig
und Regen befällt dich.
stibitzte ihn mir, schloss die Faust darum.
ihr kennt die alte Dichtersünde. pinselte, dass
meine hebräischen Verse sich zerzausten.
wo er wie ein Satzzeichen säumte,
von Strahlen sanft durchbohrt.
als ich aufschaute, auf das Straßentheater, hatte
er seinen Platz verlassen, war die Glut gedimmt.
leuchtete meine Kladde auf: voll neuer Zeichen,
in jener Sprache, die’s mir abschließt:
glänzende Euphorie.

 

Dem deutschen Gedicht liegt eine erste hebräische Version zugrunde.

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Gundula Schiffer

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21 | Sigune Schnabel

Hausordnung

Du sollst die Treppe nicht anfassen
mit deinen schmutzigen Schuhen,
Gedanken, Kopfstein-
pflastern über den Wunden.
Die Stunden der Nacht ausdehnen,
aber dich nicht daran anlehnen
in gesperrten Augenblicken.
Nicken musst du dem Nachbar zum Gruß
und leiser atmen,
immer ganz still-
stehen. Kein rasselnder Husten
im Brustkorb. Halte dich
an die Schweigepflicht
der Bronchien, Nasenflügel,
Luft in den Lungen.
Du sollst keine Menschen berühren.
Deine Haut ist eine dünne Wand,
dahinter ein Schrank mit Astlöchern.
Zerbrich die Jahresringe, sie wachsen
sonst über dich hinaus.

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Sigune Schnabel

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20 | Harald Brier

Auf den Wassern

Der auf den Wassern reist
ist heimatlos im Grund
und voller Sehnsucht

Tief im Blau zuhause
und blind und mutig,
zum Fliegen noch zu stark

Seine Füße
zu zart für harten Fels
Sein Herz
verloren hinter dem lichten Horizont
Seine Augen
gerichtet auf die weiße Wolke

Er setzt Schritt vor Schritt
auf seinem Weg
zum Himmel

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Harald Brier

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19 | Christian Bauer

Der Schieber

Unerbittlich fraß sich der Schieber in den Berg aus Kartoffelbrei. Raubbau war das, aber es ging nicht anders. Oben, in luftiger Höhe, dampfte der Buttersee, eine Lake Unheil für die Bewohner im Tal. Ist es die Schwerkraft oder die dämonische Bosheit der Lava, die den Tod bringt? Ich war mir nicht sicher. Sicher war nur, dass der Berg abgetragen werden musste.

Und so geschah, was unvermeidlich war. Sturzbäche rieselten über die gelbe Klippe und ertränkten die sturen Männer, die ihre Häuser im Schatten des Berges errichtet hatten. Mein Schieber, das war der überdimensionierte Dreizack Poseidons, Herr der Fluten, Herr über Leben und Tod. Und ich? Ich war der Gott des Meeres und grub meinen Schieber in den Berg, mit klobigen, kleinen Händen, aber präzise, selbst ganz ausgeliefert an den Zweck der Zusammenkunft, mein Schöpfertum gekettet, letzten Endes: Was auf den Tisch kommt, wird aufgegessen.

Einmal die Woche gab es Kartoffelbrei mit Buttersee, an Sauerkraut und Würstchen, und ich beging unzählige Massaker. Ich freute mich diebisch auf diese Montage – Möhrchen, Spinat oder geschnittene Spaghetti ließen sich zwar schieben, aber hielten nicht die Form, zerbröselten. Und natürlich fehlte die Lava.

Dann zogen wir um. Ich half beim Packen: Meine Kuscheltiere, der Game Boy in Styropor und mein Schieber. Meine kleinen, klobigen Hände wickelten ihn in Zeitungspapier. Seite 3: Vulkanausbruch in Indochina, 700 Menschen unter dem glühenden Strom begraben. Jede Hilfe zu spät.

Die Umzugsfirma verlud die Kartons, die Möbel, dazwischen mein Schieber irgendwo und ich auf dem Rücksitz unseres Ford Scorpio. Wir tuckerten dem Umzugswagen hinterher, wahrscheinlich sangen die Stones im Radio. In meinem Kopf wummerten die Ideen eines jähzornigen Gottes. Sie haben Atlantis neu gebaut, aber was nützt es, wenn sie weder ihren Gott besänftigen noch Berge versetzen können?

Die neue Wohnung warf ein Echo. Bald schon wurden die Teller, das Kaffeeservice und endlos viele Gabeln, Messer und Löffel aus Zeitungspapier gewickelt. Seite 20, Lokales: Schieber vermisst. Einiges sei verloren gegangen, hieß es. Die Umzugsfirma, das waren Ganoven. Sonst fehlte aber nichts.

Ich führe die Gabel zum Mund. Montag. Wo ist euer Gott jetzt, fragt ein Ketzer die Bewohner. Recht hat er: Was ist Poseidon ohne seinen Dreizack? Was ein Buttersee; nur flüssiges Fett in einer Mulde. Und überhaupt: War ich nicht grausam gewesen, so voller Vorfreude auf die Qualen der mir Übereigneten?

Vielleicht ist es das Schicksal grausamer Götter, irgendwann durch eine Lappalie alles an Ansehen zu verlieren. Oder es gibt noch grausamere Götter im Universum. Damals wusste ich nichts von anderen Göttern. Ich wusste nur, mit Poseidon war es aus.

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Christian Bauer

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18 | Sarah Rinderer

fern-orten

schläfst du?
frage ich nachts
das displayleuchten

tagsüber
stillelos
schuh an fastinselspitze
höre ich
            mit den steinen auf

fern-orte
fingernagelgroße schiffe
im horizontbereich

gefrorener mehl
             schnee staub
meersalzschuppen
auf der haut

auf dem gischtrauen verputz
des leuchtturms
von kindern gemalte tiere

eine möwe
trägt ein krokodil
fünfzehn seemeilen in die weite

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Sarah Rinderer

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17 | Dillen Pauli Niedert

Südhalbkugeltag

Die Kirche brannte nieder, aber
ohne Schneespur fand ich eh nicht
zum Gebet. Draußen hingen die Kugeln
im Plastik. Es schneit nicht
in M. an Weihnachten
und wenn es brennt, brennt
alles, zu heiß
für Kerzen in Bäumen, Palmen, Kirchen.

Seit Tagen presste ich die Zähne
zusammen, nur zusammen
liefen andere Tourist*innen
um mein Bett
und ich stand abends alleine auf,
um zu singen mit A.
und mit meinem Akzent, der allen
irgendwas sagte außer mir. Wir redeten
fast nie, das Wörterbuch
machte peinliche Längen.

Schnee rieselte aus dem Telefon
und aus dem Paket aus dem
Tannenwälderland. Ich streute
ihn aufs Festessen einer fremden Familie,
saß zwischen ihnen als Puppe, damit
A. nicht ohne Freundin sitzen musste
und ich nicht ohne Familie.

Am Bahnsteig später
ein unwahres see ya. Ein Pinguin
winkte am Strand,
ich fragte, wieso ein Pinguin
nach M. gehen würde an Weihnachten.
Und A. fragte, ob es wirklich
schneien würde an Weihnachten
im Tannenwälderland.

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Dillen Pauli Niedert

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16 | Suse Schröder

Deswegen

Die Ausflüge mit Vater kann ich an zwei Händen abzählen, die die ich genossen habe, an einer. Der, an den ich mich am deutlichsten erinnere, gehört zur einen Hand. Zu diesem trug Vater einen Anzug. Seit diesem vermeide ich Rummelplätze, obwohl sie zu meinem Familienerbe gehören und ich mich zu ihnen hingezogen fühlen sollte.

Vater war grob und groß. Hätte ich mich als Sechsjährige auf Mutters Schultern gestellt, hätte er mich auf die Stirn küssen können.

Er wollte eine wilde Tochter, eine Starke, die zupackte, Dinge weiß und klarkommt. So konnte ich mit fünf Jahren einen Reifen flicken, eine Schubkarre voller Mist zum Kompost fahren und auf die höchsten Bäume klettern. Aber vor Achterbahnfahrten graute mir und das wusste er. Das wollte er nicht akzeptieren, dass es etwas gab, wovor ich Angst hatte.

An einem Winternachmittag nahm er meine Hand in seine, zog mich zum Auto und fuhr mit mir zur Festwiese. Von Weitem grüßte uns das Riesenrad.

Ich seufzte glücklich, als Vater sagte: „Wir machen alles, was du willst, aber am Ende fahren wir Achterbahn.“ Ich schluckte, hörte aber schon den Losbudenbesitzer plärren und sah die Liebesäpfel glitzern. Vom Autoscooter schallte Haddaways What is Love? Und mir zuckten die Beine. Ich biss mir kurz und kraftvoll in den Handrücken, bevor ich fragte: „Alles was ich will?“

„Ja“, sagte Vater ohne zu überlegen und da willigte ich ein. Vom Bratwurststand aus verschafften wir uns einen Überblick. Fett tropfte vor uns auf den dürren, ausgetretenen Rasen. „Dann los!“, sagte ich mit vollen Backen und wir schlenderten zum Kettenkarussell. Danach mit Lebkuchenherz vor der Brust zum Autoscooter, wo wir uns ein wildes Duell lieferten und das „Bitte keine Frontalzusammenstöße“ aus dem Lautsprecher überm Kassenhäuschen überhörten. Mehrmals knackte mein Nacken beim Zusammenstoß, die ganzen zwei Minuten über kicherte ich, dass mir der Bauch schmerzte. Am Süßigkeitenstand ordneten wir unsere Glieder und ließen unser Lachen verebben. In Vaters Bart verfing sich Zuckerwatte unterm Kondenswasser, mir klebte Liebesapfelrot am Kinn, als ich ihn zur Ponymanege zog. „Nein“, entfuhr es Vater, „bitte nicht.“

„Du hast es versprochen“, sagte ich siegesgewiss und zwinkerte der Ponyfrau zu.

„Außerdem… bin ich zu schwer.“
Da trat die Frau mit einem struppigen, gescheckten Pony an seine Seite: „Rudi schafft das“, sagte sie und übergab Vater das Pony. Aus seinen Nüstern stob weißer Dampf gegen die Kälte an. Ich schwang mich auf den Rücken von Lena und wir drehten unsere Runden im Oval. Andere Mädchen schleppten ihre Eltern zum Gatter, baten und bettelten ihre Väter an auch eine Runde mit ihnen zu drehen, als die Ponyfrau Rudi einen Klaps auf den Hintern gab und er einen Sprint hinlegte, bei dem es Vater fast aus dem Sattel warf. Mit zerzausten Haaren und einem Entsetzen im Gesicht warf er sich seitwärts ab und landete auf den Knien. Ich lachte scheppernd. Die Ponyfrau hingegen half Vater auf: „Sie haben sich wacker geschlagen!“

Er richtete sich auf, klopfte den Matsch in seiner Anzughose fest und deutete auf mich: „Heute bestimmt sie, aber am Ende fahren wir Achterbahn.“

Ich schluckte und hielt Ausschau nach einem weiteren Fahrgeschäft, einer weiteren Leckerei. Die Rummelplatzbahn, die sich durch die Stände und Fahrgeschäfte schlängelte, fiel mir noch ein. Als wir die Strecke abfuhren, wurden die Lichterketten und Lampions angeknipst. Verwunschen leuchteten die Plastikgeschenke, Losbudenpreise, Karusselle.
„Schießbude“, sagte ich nach dem Ausstieg, aber der Besitzer schüttelte den Kopf. „Erst ab acht, Mädchen ab zehn.“ Wütend tippte ich mir an die Stirn. Vater schlug Entenangeln vor, aber es gab nur Aale zu greifen. Tatsächlich gelang es mir, zwei glitschige Aale aus dem Becken zu werfen. Wie ein Rosenbouquet muss ich sie im Arm getragen haben, so stelle ich mir das heute vor. Danach drehte ich mich einmal langsam im Kreis herum, wollte das Ende hinauszögern. Vater zündete sich eine Zigarette an: „Komm“, sagte er. Er hatte ja recht. Ich kniff die Augen zusammen und hielt die Luft an als er zum Kassenhäuschen trat. „Ich kann nicht“, sagte ich und presste mir meinen Unterarm in den Bauch, im anderen Arm die zappelnden Aale. „Komm, versprochen ist versprochen.“

„Und Angst ist Angst“, schluchzte ich lauter. Vater motzte und meckerte, löste dann einen Jeton für sich und bretterte die Strecke mit Loopings und Schrauben entlang. Begeistert, mit roten Wangen und einem breiten Grinsen entstieg er seinem Waggon. Danach erst erfuhr ich, dass mein Großvater zum fahrenden Volk gehört hatte. „Bei einer Testfahrt, sie hatten es bis nach Budapest geschafft, ist er mit seinem Waggon aus den Schienen gerasselt. Er verstarb noch im Krankenwagen. Deswegen!“, sagte Vater und wischte sich das Grinsen aus dem Gesicht. Schweigend fuhren wir hinter beschlagenen Scheiben zurück in die eigenen vier Wände. Seitdem stelle ich weiterhin unbeantwortete Fragen zu jeder Familienfeier, den Geburtstagen und beim Weihnachtsschmaus und bleibe Dauergästin in Archiven. Von einem Achterbahnunfall in Budapest lässt sich nichts finden.

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Suse Schröder

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15 | Valerie Zichy

hast dich /
davongestohlen /
schleichende finger / zitternder mund /
hast dein lächeln zerschnitten /
die schnipsel auf das fensterbrett gelegt /
abschiedsbriefe mit zähnen aus papier /
davongeflüstert / davongeweht /
eine stille die sich die finger bricht /
im türspalt /
eine stille die schreit / schreit / schreit /
jemand beißt sich die zunge /
ab /
du bleibst /
trotzdem /
anderswo /

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Valerie Zichy

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14 | Elia Aubry

Wolken, fett wie Kühe…

Der Ausgangspunkt sei gleichgültig, man kehre ohnehin zu ihm zurück, las ein Schreibender in einem wichtigen Buch, Kopfhörer in den Ohren, Musik und umso mehr die Frage: wie beginnen?

Vielleicht mit Gleichgültigkeit… ja.

Etwa so als wirkten die verschiedensten Kräfte in demselben Raum, ohne sich gegenseitig zur Veränderung ihres Zustandes zu veranlassen.

Etwa so wie hundert Luftballons in einem grossen Raum unbewegt daliegen, bis jemand den Raum betritt, um die Luft, die das Einzige ist, was die Ballons voneinander trennt, durch seine blosse Anwesenheit zu verdrängen, dass alles in Bewegung gerät.

Zu Beginn ist also alles gleich, gleich gültig.

Die Zeit.
Der Raum.
Seine Höhe und Breite.
Seine Bewegung.
Alles einerlei.
Auch die Aussicht, vorbeiziehend, die Frau, die ihr nachschaut, den Blick erneut ansetzt und...
Überhaupt der Inhalt.
Der Kellner durch den Raum schauend.
Die Schaffnerin, ihn grüssend.
Das Bier.
Der Wein.
Die Gäste.
Ihre Geschichten.
Heute.
Morgen.
Gestern.
Und die Durchsage: Nächster Halt...
Alles gleich, alles gleich unwichtig.
Alles bedeutsam.

Und es ist auch gleich, ob ich sage: Es gibt Augenblicke, da liebe ich meine Entschlossenheit oder meine Entschlossenheit wird zeitweilig von mir geliebt.

Die meiste Zeit aber verachte ich sie und um sie zu erschöpfen, gebe ich mich der Gleichgültigkeit hin, die mich in eine neutrale Mitte zwischen Gegensätzlichem befördert, die meine Aufmerksamkeit befähigt, eine andere Wahl zu treffen als jene auf die sich ohnehin alles zubewegt.

Oder:

Ich entnehme meiner gewölbten Hand eines von sieben zusammengeknüllten Papierchen, öffne es, nehme die darauf stehende Zahl zur Kenntnis, setze mich in Bewegung, betrete das Perron mit ebendieser Nummer, sehe einen einfahrenden Zug, der zum Stehen kommt, betrete ihn und stehle mich, von einer auf nichts zielende Lust beschlichen, davon.

Und dann?

Dann setzte sich der Zug in Bewegung.
Und der Kellner schaute immer noch durch den Raum.
Und die Frau setzte ihren Blick auf ein weiteres an.
Und die Gäste tranken immer noch Wein und Bier.
Und die Schaffnerin.
Und Morgen.
Und Gestern.
Und...

Gleichgültigkeit also?

Oder der Reisende, der eben den Zug bestiegen hatte, sich mit dem Rücken zur Wand ans Fenster setzte, um das Ganze zu sehen (ja immer das Ganze) ist einer, der von sich selber keine Ahnung hat und diese Ahnungslosigkeit anhand der Dinge, die er betrachtet rechtfertigen möchte, indem er allem die gleiche Bedeutung beimisst.

Doch irgendwann wird immer ein Urteil gefällt.
Über alles.
Und alle.
Zumindest im Traum hatte der Reisende die gleiche Landschaft oder deren stellvertretendes Abbild, das sich nun gemächlich, beinahe schadenfroh an ihm vorbeischob, als hässlich empfunden.

Er bestellt ein Bier.
Und ein Apéro Plättli für vierzehnfrankenpunktvierzig.
Verschlingt es in folgender Reihenfolge:

  1. Grüne Olive
  2. Salametti
  3. Grüne Olive
  4. Sprinzwürfel
  5. Sprinzwürfel
  6. Salametti

Und dann,
ja dann,
endlich und plötzlich, während er (der Schreibende) diese Zeilen schreibt, ragt in die Lücke zwischen seinem Kopf und dem Schreibheft das eingefallene Gesicht einer alten Frau, die Gesprochenes richtungslos in den Raum wirft. Ja, wirklich, selbst jetzt, beim Schreiben von: „Ja, wirklich, selbst jetzt, beim Schreiben von:", dringen, wenn der Schreibende den Kopf aus der Senke seines Schreibheftes in die Horizontale legt, die sprachlichen Willkürlichkeiten der noch halbwegs funktionierenden Wahnsinnigen ungewollt in sein Hörapparat und alles was daran hängt.

Unweit daneben sitzen zwei weitere Mitmenschen, die ebenfalls in einer unverständlichen Sprache plaudern, eine fremde Sprache – Lautgespräche also, die Absurdität des Übersetzungsprozesses: Kopf-Stimmbänder-Luft-Kopf wunderbar verdeutlichend.
(Wie gerne würde ich (also der Schreibende) meine (seine) Muttersprache zeitweilig nicht verstehen.)

Der Schreibende muss schmunzeln, als die Alte erneut Sprache ausstösst und ihre Augen sich dabei unmöglich verdrehen.
Die Alte bemerkt und bekundet, das Gesicht verzerrend, ihren Überbiss ostentativ hochziehend mit nun gespitzten Augen eine ungewollte Sympathie.

Vorausweisend bedeckt der Schreibende seine Augen mit einer Sonnenbrille, worauf die Lippen der Wahnsinnigen der Schwerkraft anheimfallen und sich nach unten verkrümmen.

Der Schreibende schmunzelt nun noch stärker, senkt langsam die Sonnenbrille und streckt der Alten die Zunge heraus.

Die Alte lacht.

Wohlwollend.

Am linken Fenster zieht ein Kühlturm eines Kernkraftwerks vorbei, grauer Dampf ausspeiend, geradewegs Richtung Himmel, so als wolle eine Technologie, die Atome spalten kann, ihre Göttlichkeit markieren. In den gegenüberliegenden Fenstern spiegeln sich die Gäste.

Die Schaffnerin betritt erneut den Raum.

Sie findet die Frage blöd/ zu oft gestellt/ redundant/...
ob sie's nun lieber möge die Billets zu scannen als zu knipsen,
(wie früher).
Mit der 2019er Statistik über Personentodesunfälle versucht sie ab- oder umzulenken.
0.941 Menschen pro Tag,
gemeinjährlich,
(es soll vorkommen, dass sogar die Betreuer der ungefragt Verwickelten betreut werden müssen – dann nehme es kein Ende).

Und draussen:
Schoben Hügel Hügel
verschoben Berge
schoben Zacken
stiessen Zeiten
an den Rand

Und Wolken, fett wie Kühe bildeten eine Herde.

Manchmal kam dem Reisenden das Schreiben wie Schach spielen vor.
Das Schreiben verlangt eine gewisse Begabung im Vorausdenken und das Vorausdenken wiederum eine gebündelte Konzentration.
Und Schach spielen konnte er schlecht,
der Schreibende,
und überhaupt, auf was sich konzentrieren, wenn alles gleich gültig ist?
Wenn man nicht bereit ist mit sich selbst und seinem Urteilsvermögen mit zu machen, seinem inneren Auge zu folgen, wenn man sich resolut distanziert hat von jeglichen Vorstellungen, die direkt aus der eigenen Existenz aufsteigen.
Auf was seine Aufmerksamkeit hinsteuern, wenn man das dafür nötige Ruder mit einem breiten Grinsen über Bord geworfen hat?

Wohin also?

Ja, wohin mit ihm, dem Schreibenden,
dir und mir?

Die alte Frau lachte erneut.

Unterdessen sassen auch Kinder im sich bewegenden Raum. Ihnen wurde erklärt,
dass sie erst zuhause sein werden, wenn der grosse Zeiger den kleinen überholt haben wird.
SIE VERSTANDEN NICHT,
und hielten ihre Hände vor die Augen.
Einige forderten eine Geschichte.

Die alte Frau begann:

Es gab einmal Menschen die lebten in der Zwischen-Zeit,
zwischen Herbst und Winter,
zum Beispiel,
oder zwischen messbaren Anhaltspunkten.
Es gab einmal Ereignisse,
Gegenstände,
Personen,
die hatten keine messbaren Anhaltspunkte.
Es gab einmal Menschen, keine Personen. Es gab einmal Menschen, die hatten...

Die Alte versuchte die Menschlichkeit einzukreisen.
Es gelang ihr aber nicht.
Die Kinder VERSTANDEN IMMER NOCH NICHT
und schoben ihre Finger in die Ohren.

Der Schreibende blickte in den Horizont.
An der linken Seite wähnten sich vereinzelte Bergspitzen im ausgehenden Licht in Geborgenheit. Auf der rechten Seite zogen dunkelgraue Wolken in einer martialisch inszenierten Ankündigung ihres Stattfindens über die zitternde Erdkrümmung.
Auf die Blitze folgte ein ungeheuerlicher Donnerschlag – es sah sehr überzeugend aus.

Die Alte erzählte weiter.
Und die Gäste tranken weiter Bier und Wein.
Und der Raum.
Und die Geschichten.
Und Heute und Morgen.
Und der Schreibende schob seine Kopfhörer in die Ohren
und legte erneut Musik auf.
Für sich und dich
und mich.

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Elia Aubry

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