freiTEXT | Stefanie Adamitz

Unter der Haut

 

Ein Unfall ist wie durch ein unsichtbares Tuch gleiten, sagte Susa.
Jedes Mal wieder.
Du siehst es nicht, aber wenn es sich auf deinen Körper presst,
erschrickst du so sehr, dass es dir vorkommt, als sei es aus Blei,
als seien Nägel draufgesteppt,
so sehr schmerzt es auf der Haut, so sehr drückt es dir auf Leib und Gemüt.
Du bist so verletzt und wund in dem Moment,
wo du nichtsahnend den Weg lang spazierst und wieder
verwirrt und verwickelt
in einem solchen Tuch gelandet bist.

 

Gestürzt sind sie erst, als es wieder schön war,
als sie so entspannt waren wie seit Monaten nicht mehr.
Den Blick auf die Felder, den Kanal.
Keine Autos, nur ein Dorf,
so schön.
Die fremde Frau hatte ihre Hand gehalten, bis der Krankenwagen kam,
Engel hat sie sie genannt.
Auf französisch alle Körperteile benennen, die wehtun.
Ellbogen heißt coude lernt sie, auch was Fuß und Speiche und reingesteckt heißen.
Tausendmal hat sie‘s ihrem Kind gesagt, tausendmal, doch sie flucht nicht,
sie hofft nur, dass es dort, im anderen Krankenwagen bei ihm,
ihrem zarten kleinen Kind,
keine Überraschungen geben wird.

 

Jedes dieser Tücher wird weicher, während du hindurchschreitest.
Aus Blei wird blau, es färbt dein Gesicht, deine Knie.
Aus spitz wird stumpf, du schläfst nicht, du weißt noch nicht, wie es weitergeht.
Aus dem Schreck kämpfst du dich stoisch durch jeden Tag
die Fortschritte in der Ferne sichtend.
Fast durchsichtig sind die Tücher dann,
du denkst vielleicht, du bist längst durchgeschritten,
und du denkst, das, was dich noch hält, sind nur noch
die letzten Tuchreste auf deiner Haut.

 

Sie heilen, sie beide, und sie fahren weiter,
dahin, wo alles anders ist.
Die blauen Flecken sind fast verschwunden,
die Wunden im Gesicht und am Fuß
nur noch rote frische Haut, die in der Sonne glänzt.
Die Leute starren nicht mehr,
beinahe sieht sie wieder aus wie irgendein Mensch.
Da fängt das Beben an, das sie nicht zuordnen kann.
Ihr Körper hält sie nicht mehr,  aufgebracht und müde, will sie schlafen, aber rennt durch die Wohnung.

 

Susa sagt, die Tücher wandern weiter,
unter die Haut,
sie müssen einmal durch dich durch.
Du schaust sie fragend an.
Du verstehst nicht.
Sie sagt, der bleierne Schlag und seine blaue Erinnerung,
der Durchmarsch ins Mark und der Weg dort hinaus,
das ist der ganze Weg und er muss gegangen werden.

 

Tuchteilchen unter ihrer Haut, sie treiben und triezen.
Inkognito, mit fremdem Namen,
reisen sie in ihr versteckt.
Außen normal und im Innern der Schreck.
Sie sprechen nicht, sie sind nicht aussprechbar.
Niemand sieht sie, doch sie spürt sie wandern,
sie spürt sie klopfen.

 

Einmal durch dich durch, komplett,
hat Susa gesagt. Und,
dass sie sie jetzt sehen kann,
sie sitzen in deinem Psoas und trinken Kaffee.
Morgen gehst du zu ihnen, sagt Susa.
Sagst danke und tschüss
und jagst sie hinaus.
Dann hält sie dich fest, so fest,
dass heute und morgen wieder wie Wege erscheinen,
ihr Herzschlag, der hilft, durch Tage zu gleiten.
Verwirrt und verwickelt
vor und hinter und in deiner Haut.

 

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Stefanie Adamitz

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freiTEXT | Cornelia Koepsell

Grenzdebil im Literaturbetrieb

 

Früher war alles besser. Das war ein Standardsatz, so eine Art Glaubensbekenntnis in meiner Kindheit, über den ich mich immer sehr ärgerte. Ich war so richtig sauer und riss mir vor Wut Löcher in die Hosen. Heute kriegt man dafür einen Designerpreis, damals bekam man eine gescheuert.

Da der Satz recht häufig fiel, hatte ich eine ärgerliche Kindheit. Heute sage ich die vier Worte Früher-war-alles-besser zwar nicht laut. Aber ich denke sie manchmal. Heimlich. Im Verborgenen denken, heißt konkret, ich veröffentliche den Satz nicht auf Facebook.

Trotzdem wohnt meinen Gedanken der seltsame Trieb inne, so ein inneres Drängen und Sehnen, sich irgendwie zu manifestieren, so dass auch andere sie mitkriegen. Meine Hirnströme neigen zu Geschwätzigkeit.

Um das zu verhindern, versuche ich heimlich im Bett zu denken, mit der Decke über dem Kopf und da brummele ich ganz leise ins Kissen, so dass nur nicht schwerhörige Milben mich verstehen können.

Früher-war-alles-besser.

So strohdumm, wie er sich anhört, ist der Satz garnicht. Ich gebe Ihnen ein Beispiel, wo er zutrifft. Im Literaturbetrieb. Manchmal versuche ich in dieses Biotop meine Nase zu stecken. Entweder kriege ich dann eins auf eben diese oder ersatzweise eins auf die Schnauze oder ich ziehe mein Riechorgan freiwillig ganz schnell wieder heraus und schlurfe zurück ins Büro, wo ich mit ein paar ziemlich langweiligen Tätigkeiten mein Geld verdiene.

Aber immerhin kriege ich welches. Nette kleine Euros statt was auf die Nase. So viel, dass ich mir eine Mietwohnung leisten kann und einen gebrauchten japanischen Kleinwagen. Letzterer ist ausgesprochen wichtig für mein Wohlbefinden, da ich ein libidinöses Verhältnis zu meinem Auto unterhalte. Irgendwen muss man ja lieben.

Falls man sich früher entspannen wollte, ging man spazieren. Heute muss es mindestens ein Halbmarathon sein.

Wenn man früher einen Job hatte, mit dem man so einigermaßen sein Geld verdiente, war alles gut. Heute muss es auch noch Spaß machen, man soll glücklich sein, ausgefüllt, ein Dauergrinsen als Gesichtsmaske tragen, weil man so schön ausgebeutet wird und sich nebenbei zum Wohle der Firma ständig selbst optimieren. Da rutscht einem doch der Mittelfinger aus der geballten Faust.

Neulich erzählte ich auf einer Party jemandem, der einigermaßen vernünftig aussah, wie langweilig mein Job sei und wie bekloppt meine Chefin. Neben mir stand so eine Gisela, bei der zu Hause sich Psycho-Ratgeber und Esoterik Schwulst bis unter die Decke stapeln. Die Lektüre dieses modernen Glaubensbekenntnisses hat ihr die letzten verbliebenen grauen Zellen aus der Hirnschale gedrückt. Gisela ist esoterisch so durchgeglüht, dass sie im Dunkeln leuchtet. Sie erklärte mir, ungefragt natürlich:

„Wenn du deine Arbeit so hasst, musst du kündigen.“

„Wie soll ich dann meine Miete bezahlen?“ fragte ich.

„Das wird sich finden“, meinte sie.

Wenn ich auf die Giselas dieser Welt höre, meinen Job kündige und mich selbst verwirkliche, was nebenbei bemerkt in meinem Fall bedeutet täglich zehn bis zwölf Stunden zu schlafen und das Folterwerkzeug Wecker aus dem Schlafzimmer zu verbannen, und wenn der Vermieter, ein aggressiver Frühaufsteher, mich irgendwann aus einer meiner wohlverdienten Tiefschlafphasen klingelt und mich fragt, wann ich zu zahlen gedenke, ich sei um Monate im Rückstand und ich ihm erkläre, das werde sich finden, dann werde ich sehr schnell einen neuen festen Wohnsitz im Bezirkskrankenhaus haben. Dort kann ich meine Selbstfindung unter dem Einfluss von Psychopharmaka fortsetzen und sogar sechzehn Stunden täglich schlafen.

Meinen Aufenthalt dort könnte ich verlängern, indem ich behaupte unter einem Burnout zu leiden, weil der Vermieter mich so bedränge und weil die Welt so schlecht sei. Letzteres wird sich nicht so schnell ändern.

Besagte Gisela von der Party wird mir bestimmt nicht mit ein paar Euros aushelfen, nachdem ich ihren Rat befolgte, gekündigt habe und das mit der Miete sich nicht so schnell gefunden hat. Natürlich weil ich irgendwas falsch gemacht habe. Das hatte mir besagte Gisela noch mit auf meinen verschlungenen Lebensweg gegeben.

Aber ich bin vom Thema, dem Literaturbetrieb abgekommen. Früher, als alles besser war, da sahen die Biografien von Schriftstellern in etwa so aus.

 „Er – in Ausnahmefällen war es auch eine sie – also er arbeitete als Hausmeister, Totenwäscher, Taxifahrer, Kellner, Almhirt und Weichensteller. Der Titel seines ersten Erfolgsromans lautete: Die-Angst-der-Leiche-vor-dem-Waschen.“

Eine Schriftsteller-Biografie von heute geht etwa so:

„Sie studierte acht Semester am Leipziger Literaturinstitut. Diverse mäandernde Preise entdeckten sie als geeignete Trägerin. Sie debütierte mit dem Lyrik-Band Ich-und-mein-Handy.“

Verstehen Sie mich jetzt? Wenn nicht – auch egal. Dieses immer von allen verstanden werden wollen, wonach so viele Menschen insbesondere weiblichen Geschlechts sich andauernd sehnen, ist sowieso unerträglicher Ballast.

Früher gab es den Geniekult. Deshalb haben so wenig Frauen geschrieben, weil sich das Genie nicht mit ihrem Körperbau vertrug. Der war eher geschaffen für Haushalt und Altenpflege und Kaffeekochen und verstanden-werden-wollen.“

Insofern ist heute alles besser. Frauen dürfen auch mal genial sein, solange sie jung genug sind, um am Leipziger Literaturinstitut zu studieren und Eltern ihr eigen nennen, die genug Geld haben, um sie auch anschließend zu unterstützen, damit sie sich mit siebenhundert-bis-tausend-Euro-Stipendien monatlich durchs Leben fretten können.

Ansonsten müssen sie eben doch Verkäuferin werden und sich ein Beispiel an ihren Schriftsteller-Vorfahren nehmen.

Ob sie jemals Geld verdienen mit dem Schreiben, so viel, dass sie sich mit hoffentlich lange intakten Zähnen knapp über dem Hartz-Vier-Niveau festbeißen können, ob ihnen das gelingt, hat ja nichts damit zu tun, wie gut sie sind, sondern ist das Ergebnis von König Zufall, durch den sie irgendeinen aktuell bescheuerten Mainstream treffen oder ob sie in der Lage sind, ausreichend verschwurbelt zu schreiben, um weitere Literaturpreise und Stipendien auf einem hart umkämpften Markt an sich zu reißen, vergeben von Literatur-Juristen, die auch nicht besser sind als ihre Kollegen in der schwarzen Robe am Amts- oder Landgericht.

Wer ihre Sprache nicht spricht, wird aussortiert. Das war früher so. Das ist heute so. Wer sagt denn, dass alle Werte den Bach runtergehen?

Vielleicht sollte ich also den Satz Früher-war-alles-besser kreativ umschreiben und sagen: Heute-ist-alles-anders.

Ja – ich weiß, das klingt nicht sehr intelligent, aber ich habe nie behauptet, Eigentümerin eines hohen IQ zu sein.

Beim letzten Intelligenztest, dem ich mich spaßeshalber unterzogen habe, war ich grenzdebil.

Ja – Mann – das ist doch was, worauf ich stolz sein kann.

Wenn schon erfolglos unterwegs im Literaturbetrieb, dann wenigstens grenzdebil. Deshalb liebe ich auch kurze oder Ein-Wort-Sätze. Die verstehen ich und meinesgleichen nämlich gut.

Mein Lieblingssatz, seit ich ungefähr zehn bin, das ist der Klassiker:

Ich Tarzan – Du Jane.

Geniale vier Worte plus Bindestrich. Wenn man den verstanden hat, darüber meditiert, ich meine so richtig tief innen-drinnen, dann kann man alle Liebesromane aus dem Bücherregal in die Tonne hauen, so richtig Platz schaffen, das nennt sich „Simplify your life“.

Letzteres ist ein Buchtitel, geschrieben von einem, dem seine Hochbegabung die deutschen Wörter aus dem Hirn gelöscht hat.

Deshalb muss man erst Englisch lernen, bevor man sein Leben simplifyen – ich meine: vereinfachen kann.

Das finde ich kompliziert. Kann aber auch an der Grenzdebilität liegen.

Wenn man sowas Tolles hat, braucht man sowieso nicht solche Bücher lesen und spart sich haufenweise Geld.

Das Leben wird von alleine einfach. Es gibt Leute, die meditieren stundenlang im Lotussitz oder auf Knien wie arme kleine Sünder, machen sich die Gelenke kaputt mit dem Ziel wenigstens einmal am Tag den Kopf leer zu kriegen.

Als Grenzdebiler bekommt man das geschenkt von Gott Vater oder Gott Mutter oder dem Jesuskind.

Es hat so viele Vorteile. Ich kann sie gar nicht alle aufzählen. Strengt auch zu sehr an.

Ein Kumpel von mir, der beim IQ Test noch schlechter abschnitt als ich – ja das geht –, er klärte mich auf:

„Unsere Synapsen sind nicht testfähig“, sagte er „Weil die Erfinder der Fragebögen sie nicht haben und deshalb nicht abfragen können.“

„Dann sind wir Aliens?“ fragte ich.

„Wir nicht“, erklärte er. „Die Anderen.“

 

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Cornelia Koepsell

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freiTEXT | Margit Marenich

„Ein doppelter Haselnuss-Hagel-Macchiato mit extra viel Drama“

Sie rennt ins Gewitter raus und du denkst nur: „Verdammt! Wie ist das nur so schnell so schief gegangen?“. Gerade mit ihr.

„Warte Hannah! Du hast nicht mal deine Jacke!“, sie bleibt stehen und dreht sich zu dir um. Du siehst ihren pinken BH unter dem durchnässten Oberteil. Pink, mit Strass.

„Ich weiß, was du willst.“, schluchzt sie nur und hält dir ihr Handy ins Gesicht. Da ist eine wirklich lange Message am Bildschirm. „Jasmin hat mir gerade alles über dich geschrieben. Alles!“

Diese …! Wieso kann sie ihr Maul nicht halten? Was in ihrer Wohnung passiert ist, geht niemanden sonst was an.

Jetzt mischen sich Hagelkörner unter die schneller fallenden Regentropfen und bleiben in Hannahs offenen Haaren hängen. Mit nassen Augen sieht sie dich an, als wolle sie dich erschlagen.

Du musst das noch hinbiegen, sie irgendwie rumkriegen. Sechs Wochen hast du in das hier investiert.

Ihr ihre Jacke um die Schultern zu legen, findet sie sicher romantisch. Du hebst die Arme. Bevor du sie berührst, reißt sie sie dir weg. Ihr pinker BH verschwindet hinter dem Reißverschluss.

„Du dachtest du kaufst mir einen Kaffee und Cookies und dann was? Was, Jahn?“. Sie hält das Handy wie einen Stein zum Werfen. „Was dachtest du, was ich mache?“

Mit einem Schnauben denkst du an alles was über sie erzählt wird. Die Fotos. Echt alle in der Schule haben die gesehen. Da hat sie sich nicht so geziert.

Ihre Augen funkeln immer mehr. Deine Augen huschen zu ihrem Wurfarm. Zurück. Sie weint jetzt. Ihr Arm fällt schlaff herunter. Mit einem Stich denkst du an das Gerede. Echt alle in der Schule reden über sie.

„Sorry, Hannah.“, hörst du dich nuscheln. Du findest ein Taschentuch in der Hosentasche und hältst es ihr hin. Sie hört einen Moment auf zu schluchzen, als sie es nimmt.

Fuck! Das sollte das Wochenende sein, in dem alles in Ordnung kommt. Eltern und Geschwister erst am Montag zurück. Das heißeste Mädchen bei dir oben. Stattdessen stehst du im Regen und alle Leute starren dich an. Mit kaum verstecktem Lachen oder einem „Wird das arme Mädchen gerade belästigt?“ - Blick. Handys auf dich gerichtet.

Dabei wäre es so einfach. Wenn du sie nur rumkriegen könntest.

„Hannah - “.

„Sex löst gar nichts.“. Sie lehnt sich plötzlich zu dir rüber. Ihre Augen glitzern rötlich. Und flüstert mit erstickter Stimme in dein Ohr, „Ich habs versucht.“

Damit rennt sie zur Bushaltestelle.

Der Alte mit dem Hund, der gerade vorbeikommt, grinst dich an. „Passiert allen mal.“

Ohne zu überlegen rennst du ins Shopping Center zurück. Auf dem trockenen Boden machen deine nassen Schuhe dieses nervende Geräusch.

Auf deinem Handy sind neue Messages. Eine von Jasmin. Von. Jasmin.

Du willst den Mistkübel neben dir treten.

Ein paar andere in der Klasse wollten Details über Hannah. „Über das echte Zeug.“. Du kannst jetzt schon hören, was sie am Montag über dich sagen werden.

Dieser Samstag ist noch schlimmer als der vor sechs Wochen.

Es war alles so perfekt. Hannah hat deine Einladung angenommen. Du warst mit ihr extra in diesem Coffeeshop. Damit er alles sehen kann.

Vor einem der Shops stehen zwei Jungs, die Finger verschlungen, die sich aneinander lehnen. Mit einem Stich im Magen siehst du weg. Die sind sogar jünger als du, denkst du nur und gehst schneller.

Als du zum Coffeeshop zurückkommst, sind die Teller und Tassen schon abgeräumt. Du kannst nicht anders und siehst zum Tresen hin.

Dieselbe Barista, die du gar nicht kennst, steht noch da. Das erste heute, das gut läuft. Sie lächelt dich an und du denkst, dass du mit ihr flirten kannst.

„Einen Kaffee vielleicht? Lemon-Strawberry-Cheesecake ist heut im Angebot.“.

Bei ihr zu landen kannst du kübeln. Aber ein heißes Getränk wäre nicht schlecht. In der Wärme sind die Hagelkörner in deinen Haaren geschmolzen. Du spürst Wasser über deine Kopfhaut rinnen.

Hey. Er ist ohnehin nicht da.

„Einen Haselnuss-Latte-Macchiato zum Mitnehmen, bitte.“

„Sofort.“, die Barista dreht sich zur Seite. „Hi Noah - du bist 10 Minuten zu früh.“

No! Fuck.

„Ich mach das hier, Ayla. Das Übliche, Jahn?“. Noah wartet nicht auf deine Antwort, sondern misst das Kaffeepulver, während das Mädchen zu den Kunden an den Tischen geht.

Das ist das erste Mal seit sechs Wochen, dass du ihm gegenüberstehst.

Er sieht dich an.  Deine nassen Haare. „Nicht gut gelaufen, hm?“.

Du hörst dich irgendwas schreien. Im Spiegel hinter dem Tresen drehen sich alle Köpfe. Fast packst du ihn am Kragen. „Du und deine Schwester- “.

„Jasmin ist Hannahs beste Freundin. Sie musste sie warnen.“

Er hält dir den Kaffee hin. Was hält dich eigentlich davon ab, ihm das Zeug in die Fresse zu schütten?

Dein Blick fällt auf die winzige Narbe auf seiner Unterlippe, die vor sechs Wochen noch nicht da war. Dann nimmst du einfach nur den Becher und rennst weg. Zurück ins Gewitter. Bevor du fünf Schritte aus dem Shopping Center raus bist, landen schon vier Hagelkörner im Blätter-Muster auf dem Milchschaum und du bleibst stehen.

In diesem Moment hasst du absolut alles auf der Welt. Am meisten ihn, immer besser. Er hat einfach alles. So einfach.

Es ist erst sechs Wochen her, dass dir das nichts ausgemacht hat. Dass du an Samstagen mit ihm Games gezockt und Spaß gehabt hast. Bevor…

Dein Becher landet neben dem Mülleimer und der Regen wäscht den letzten Kaffee weg, den du je von ihm kriegen wirst.

„Du hättest auch einfach nach einem Deckel fragen können.“

„Was?“

Noah steht mit einem Schirm hinter dir und hält ihn dir hin. „Willst du meinen Reserve-Hoodie? Ist im Spind.“

Das war’s! „Ich will deinen verdammten Schirm nicht.“

„Ist deiner. Du hast ihn vor sechs Wochen vergessen.“

Vor sechs Wochen.

Als er alles kaputt gemacht hat. Mit dem Kuss. Wegen dem du ihm die Lippe blutig geschlagen hast. Nicht weil es eklig war. Weil es gut war. Deine Schultern verkrampfen sich.

Nie ist irgendwas ein Problem für Noah. Auch nicht für die Jungs vor dem Shop vorhin.

„Warum ist das alles kein Problem für dich?“. Endlich, nach sechs Wochen, siehst du ihm in die Augen. „Was ist dein Geheimnis?“, denkst du nur.

„Nichts. Ich hatte es eben satt. So richtig.“. Er hält dir immer noch den Schirm hin. „Wie lange kannst du noch, so wie jetzt?“.

Deine Füße zucken beide nach Rechts. Richtung Ausgang. Richtung Bus. Wieso läufst du nicht?

Einen Moment lang schwanken Noahs Augen nach unten. Bevor… „Und ich mag dich.“

Das war’s jetzt. Irgendwas weder Lachen noch Keuchen bleibt dir im Hals stecken. Du nimmst den Schirm und versuchst dich zu räuspern. Nochmal. Was ist das? Hättest du nur noch den heißen Kaffee.

„Gehen wir zurück.“, sagt Noah nur. „Ich hab auch Ersatz-Sneakers im Spind.“

Das sollte das Wochenende werden, in dem alles wieder in Ordnung kommt. Vielleicht kommt wenigstens eines heute ins Reine.

Während du den Macchiato ohne Hagelkörner trinkst, hört es draußen auf zu regnen. Alles scheint ruhig. Wie sonst auch immer, wenn du hier warst. Oder bei ihm in der Wohnung.

„Schade, dass wir aufgehört haben.“, du denkst an die letzte Gamingsession. So nah am gewinnen.

Noah lächelt hinter dem Tresen.

Du verschluckst dich an deinem Kaffee, als dich sein Blick trifft.

Margit Marenich, geborene Wienerin. Lebt und arbeitet immer noch da. Schreibsprachen Deutsch und Englisch. Begeistert vom Lesen, Zeichnen und Reisen.  Studium der Komparatistik führte indirekt zum Schreiben und nach Frankreich.

 

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Margit Marenich

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freiTEXT | Leonie Groihofer

Leben geben

 

Sie versucht, sich noch länger unter Wasser zu halten, den Druck unzähliger Kubikmeter als warme Masse auf ihrem Körper zu spüren, aber sie kennt den Auftrieb, er hat schon eingesetzt, angesetzt, er lässt sie nicht mehr los. Treibt Miriam unaufhaltsam Richtung Oberfläche. Dann ist sie wach. Kurz benommen, weil der Druck noch immer da ist, weil sie sich den Druck für einen Moment nicht erklären kann. Für einen Moment nur, dann steht sie auf, deckt den Tisch samstagmorgendlich, stellt auch die Erdbeermarmelade hin, obwohl sie ihr zu süß ist. Über der An-Taste des Radios zögert sie. Radiohören wäre Schonfrist. Schonfristen kann sie sich nicht leisten. Das Radio bleibt aus, dafür kostet sie die Erdbeermarmelade, wider besseren Wissens, in einer kindischen Hoffnung, sie würde ihr vielleicht doch schmecken, weil Markus sie so gerne isst. Eigentlich, denkt sie, müsste ich ausnutzen, dass Markus nicht da ist, und sie überlegt tatsächlich eine ganze Weile, welche Dinge es gibt, die sie tun könnte, jetzt, während Markus weg ist, ohne jedoch ernsthaft auf etwas zu kommen, bis ihr einfällt, dass Markus ja nicht einfach so weg ist, dass es einen Grund gibt, warum Markus weg ist, dass Markus ja genau darum weg ist, damit sie Dinge tun kann, die sie nicht tun kann, wenn er da ist. Nachdenken. Eine Entscheidung treffen.
Sie lässt sich Zeit, wäscht das Brotmesser mit der Hand, trocknet es sorgfältig ab. Sie hat sich vorgestellt, sie würde sich an ihren Schreibtisch setzen, oder auf die Couch im Wohnzimmer, mit einem Block auf den Knien, Pro und Contra auflisten. Sie hat sich vorgestellt, sie würde noch einmal alle Artikel lesen, alle Informationsseiten durchgehen. Sie hat sich vorgestellt, sie würde sich vorstellen, wie ihre Großmutter entschieden hätte. Oder ihre Urgroßmutter. Sie hat keine Lust.
Sie hat keine Lust, das ist ihr mit einem Mal vollkommen klar, als sie sich auf das Sofa gesetzt hat. Am liebsten würde sie Markus anrufen, er solle nach Hause kommen und sie würden sich ein gemütliches Wochenende machen. Aber das geht nicht, natürlich geht das nicht, das würde er ihr auch genau so sagen, froh sollte sie sein, dass er ihrem Wunsch nachgekommen ist, dass er sie so gut verstanden hat. Und jetzt muss ich mich selber verstehen, denkt Miriam. Sie schaut an sich herab, schaut an ihrem Körper herab, dem vertrauten, dem selbstverständlichen, dem gegenüber man mit den Jahren des Erwachsenseins eine gewisse Betriebsblindheit entwickelt, bis sich das Alter bemerkbar zu machen beginnt. Aber dazu muss es nicht kommen. Nicht so schnell jedenfalls.

Ich sollte nackt sein, denkt Miriam plötzlich, zögert trotzdem einen Moment, bevor sie dann doch ein Kleidungsstück nach dem anderen abstreift, zuletzt die Socken. Sie legt sich auf den Rücken, den Kopf leicht an der Sofalehne abgestützt, sodass sie sich selbst betrachten kann. Die etwas zu langen Zehennägel. Die rasierten Unterschenkel. Die ausladenden Oberschenkel. Das zusammengestutzte Schamhaar. Den im Liegen perfekt flachen Bauch. Die unförmig zur Seite hängenden Brüste. Sie erinnert sich an eine Meditationsübung aus ihrer Yoga-Phase: Sie macht die Augen zu und wandert von oben nach unten, fängt beim Scheitel an, spürt ihre Wangenknochen unter der Haut, ihre angespannten Schultern, ihren Brustkorb, der sich hebt und senkt, das unangenehm vertraute Kreuz, die Kraft in ihren Beinen, spürt auch die Hände, leicht schwitzig, da, schon fangen sie zu kribbeln an, als würden sie sich genieren vor dieser Leibesvisitation.

Über diesen ihren Körper hat sie zu entscheiden.
Eine plötzliche Unruhe packt sie, vielleicht sollte sie Laufen gehen, sich bewegen, „den Kopf frei kriegen“, wie man so sagt. Sie will aufstehen, aber etwas lässt sie zögern. Seit gestern erfüllt sie eine seltsame Ehrfurcht, eine seltsame Scheu gegenüber ihrem Körper, als wollte sie ihn beschützen, in Watte packen, konservieren.

Morgen Abend kommt Markus nach Hause. Die kleine Digitaluhr auf dem Couchtisch, die auch Luftfeuchtigkeit und Temperatur anzeigt, macht Tick. Tick. Tick. Tick. Tick. Tick. Tick. Tick.

Hast erfasst Miriam. Sie streift ihren Trainingsanzug über, schlüpft in ihre Laufschuhe, ist erleichtert, als endlich die Haustür hinter ihr ins Schloss fällt. Ihre Schritte sind schwerer als sonst, hallen in den Schläfen wider. Die Gedanken kommen von allein, aber es sind die falschen, die schon oft gedachten. Dass sie naiv waren, alle miteinander, dass sie das nicht kommen gesehen haben. Dass sie sich vielleicht eingeredet haben, sie würden die SULV hier nicht einführen, nicht rechtzeitig jedenfalls, in der abergläubischen Hoffnung, dass es gerade deswegen doch passieren würde. Wie sie am Ende alle überrascht waren, wie schnell es gegangen war. Zehn Jahre nach Einführung in den USA, wenige Monate nach dem Beschluss in Deutschland, wurde die Etablierung eines Systems zur Staatlich Unterstützten Lebensverlängerung in Österreich verkündet, bei einer schnöden Pressekonferenz, deren Livestream sie alle viel zu spät einschalteten, weil sie nicht geglaubt hatten, dass es tatsächlich passieren würde. Und dann die Unsicherheit, ob es sie noch betreffen würde oder nicht. Bei welchem Jahrgang sie die Grenze setzen würden. Und später das Gefühl, sie hätte noch ewig hin, bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag, bis zu der Entscheidung. Und zwischendrin Markus, der etwas in ihr Leben brachte, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Alles Ausreden. Sie weiß, sie hätte viel früher beginnen sollen, sich ernsthaft Gedanken zu machen. Spätestens, als die Einladungen zur Untersuchung bei ihren Freundinnen eintrudelten. Als manche ein riesiges Geheimnis daraus machten und andere über kaum etwas Anderes mehr sprechen konnten. Miriam hatte mitdiskutiert, Meinungen gehabt, Fakten aufzählen können. Trotzdem hatte es sich immer fern angefühlt. Als ob es sie nicht beträfe. Man kann das sowieso nicht rein rational entscheiden, hat Miriam gesagt. Man muss sowieso das Ergebnis der Untersuchung abwarten, hat Miriam gesagt. Im Grunde gibt es eh nur eine vernünftige Entscheidung, hat Miriam gesagt.

Sie bleibt stehen. Zu abrupt, das Keuchen atmet weiter. Sie hat sich gefreut, gestern. Als ihr der Arzt das Untersuchungsergebnis mitgeteilt hat, hat sie sich gefreut. Mit einer aufflammenden, ungekünstelten Freude hat sie sich gefreut, wie früher als Kind, wenn die Wohnzimmertür aufging und sie den erleuchteten Christbaum zum ersten Mal sah. Und auch der Arzt hat gelächelt, als fände auch er, dass es eine gute Nachricht sei, die er ihr überbracht hat. Eine gute Nachricht, die tausend Türen in Miriams Kopf aufgerissen hat, durch die seit gestern der Wind bläst, ein unaufhörlicher, einer, der undichte Fenster zum Raunen und Bäume zum Wanken bringt. Und ein Satz wirbelt jetzt wie ein weißes Blatt Papier durch diesen Wind, bis es an Miriams Frontallappen kleben bleibt wie an einer Windschutzscheibe. Ich wollte immer schon schwanger werden.
Und in diesem Augenblick weiß Miriam, dass das stimmt. Dass es stimmt, spätestens seit jenen Tagen, als sie mit Andrea oder Flora oder Isabelle spielte, nachspielte, was sie im Fernsehen gesehen oder sich von den Erwachsenen abgeschaut hatten, als sie spielten, dass sie toughe Frauen waren, die ihre unsichtbaren Männer an ausrangierten Telefonen zur Schnecke machten, spielten, dass sie Auto fuhren und einkauften und Urlaub machten und sich mit Freundinnen über Erwachsenendinge stritten. Als sie spielten, dass sie schwanger waren und Babies bekamen.
Miriam zwingt sich, weiterzulaufen. Einen Schritt nach dem anderen zu setzen. Den Sturm in ihrem Kopf leise zu halten. Zu ordnen, was jetzt also klar ist. Seit heute weiß ich, dass ich schon immer schwanger werden wollte. Und seit gestern weiß ich sicher, dass ich schwanger werden kann.

Für die weitere Familienplanung sprechen der SULV-Expert:innenrat sowie der Gesundheitsminister eine ausdrückliche Empfehlung an alle Frauen bzw. Menschen mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen aus, vor Beantragung der Staatlich Unterstützten Lebensverlängerung (SULV) einen kostenlosen Fertilitätstest in einer Spezialambulanz durchführen zu lassen. 90% der Frauen, die SULV beantragen, nehmen dieses Angebot in Anspruch. Bitte beachten Sie, dass der Antrag auf SULV vor der Vollendung des 25. Lebensjahres abgeschlossen sein muss und vereinbaren Sie rechtzeitig einen Termin in Ihrer nächstgelegenen Ambulanz.                                                                                                                                        

 ministerium-fuer-soziales.at

Damit bin ich noch keinen Schritt weitergekommen, denkt Miriam. Sie hat es plötzlich eilig, nach Hause zu kommen. Sich an den Computer zu setzen, noch einmal alle Empfehlungen, alle Berichte zu lesen. Obwohl das nur Zeitschinden wäre. Weil sie alles, was sie wissen muss, längst weiß. Weil sie weiß, dass alle, Markus, ihre Mutter, ihr Chef, Isabelle, ihr zur Sterilisation raten würden, wenn sie sie fragen würde. Es ist das Vernünftigste, sagt Miriam sich. Sie läuft jetzt langsamer, fühlt sich auf einmal schlapp, erschöpfter als gewöhnlich. Erreicht das Haus wie eine Rettungsboje. Nimmt den Lift hinauf in die Wohnung anstatt wie sonst die Stiegen.

FAQ

Was bedeutet „demographiesteuerndes Anreizsystem“?

Die SULV (individuelle Lebensverlängerung) stellt unsere Gesellschaft vor große Veränderungen. Ein großer Teil der Bevölkerung wird viel länger gesund leben und erwerbstätig sein können. Um einen funktionierenden Sozialstaat aufrecht zu erhalten, gibt es daher einige Anpassungen bezüglich der Anspruchsberechtigten für staatliche Leistungen. Weiterführende Informationen finden Sie unter Familienbeihilfe NEU bei SULV , SULV und Pension .

ministerium-fuer-soziales.at

Sie sollte noch einkaufen gehen, irgendetwas kochen, das Markus nicht gerne isst, Karottensuppe zum Beispiel, und danach vielleicht die Fertigmohnnudeln, denen er so erstaunlich viel Verachtung entgegen bringen kann. Markus, der sich schon entschieden hat. Bei ihm gab es nicht viel zu überlegen, hat er gemeint, seinen Wehrdienst hatte er bereits absolviert, alle Voraussetzungen erfüllt, da war es keine Frage, ob er den Antrag stellen würde oder nicht. Markus, der seit über einem Jahr einmal im Monat zur Apotheke trabt und seine SULV-Ration abholt. Der das nie vergisst, niemals nervig findet. Markus, der für die nächsten 30 oder 50 Jahre keine Falten, keine Glatze, keine grauen Haare bekommen wird, keine Altersweitsichtigkeit, der sich die nächsten 150 Jahre nicht mit altersbedingten Krankheiten wie Diabetes oder Demenz auseinandersetzen wird müssen, dessen Krebsrisiko nur langsam ansteigen wird.

Das alles kann Miriam auch haben, wenn sie will. Ihren Ausweis in der Apotheke mit merkwürdigem, aber unleugbarem Stolz vorzeigen. Sich gut fühlen, beruhigt fühlen, bestärkt fühlen, wenn sie vor dem Frühstück die zwei Pillen schluckt. 200, 300 Jahre leben, statt 80 oder 90. Reisen, Bücher lesen, Sprachen lernen, nachdenken. Ja, auch arbeiten, viel arbeiten, um genügend Vermögen für die lange Zeit als Pensionistin anzusparen, aber sie wird Sabbatjahre nehmen können, vielleicht eines alle 15, 20 Jahre. Wahnsinnig, die dazu Nein sagt. Sie sieht ein Paradies vor sich wie ein unberührtes Wochenende. Das köstliche Gefühl, Zeit zu haben. Und Markus. Wenn ich es nicht mache, dann müssten wir uns trennen, denkt Miriam auf einmal, verbietet sich den Gedanken noch im selben Moment, weiß, dass er wahr ist, lässt den Zweifel trotzdem zu, und auch den nächsten Gedanken. Beziehungen sind nicht für die Ewigkeit gemacht. Sie muss sich alleine entscheiden.

Es fühlt sich seltsam an, im Supermarkt durch die Regalreihen zu gehen, sie ist unaufmerksam, nimmt die falsche Butter, die, die Markus immer leicht ranzig findet. Als sie in der Tiefkühlabteilung steht, packt sie so etwas wie Aufmüpfigkeit, sie will etwas Neues probieren, greift schon nach den Nougatknödeln, als ihr der Mut entweicht wie Luft aus einem Fahrradschlauch. Sie hat den absurden Gedanken, es wäre zu riskant, diese Nougatknödel zu essen, sie könnte davon einen anaphylaktischen Schock bekommen und keine Luft mehr bekommen und ersticken und dann wäre alles umsonst, besonders all die Gedanken, die sie sich heute schon gemacht hat. Miriam nimmt doch die gewohnten Mohnnudeln, nicht ohne ein Gefühl von Niederlage. Sie kennt sich. Sie ist noch nie aufmüpfig gewesen. Sie wird keine von denen sein, die die SULV in Anspruch nehmen und trotzdem ein Kind zur Welt bringen. So, wie es noch immer ein paar Frauen machen. Trotz all der Warnungen von Ärzten, das während Schwangerschaft und Stillzeit notwendige Aussetzen der Medikation könnte die lebensverlängernde Wirkung der Therapie erheblich beinträchtigen. Trotz der finanziellen Nachteile, des erloschenen Anspruchs auf Familienbeihilfe für Mütter mit SULV. Trotz der in jeder Zeitungskolumne vertretenen Meinung, es sei moralisch falsch, beides zu wollen: ein Kind und 200 zusätzliche Lebensjahre.

FAQ
Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen der SULV und einer etwaigen Familienplanung?

Die lebensverlängernde Therapie muss für die Dauer der Schwangerschaft und Stillzeit ausgesetzt werden. Schwangerschaft und Geburt stellen eine weitreichende körperliche Belastung dar, die nach Ansicht von Expert:innen1 die Wirkung der SULV dauerhaft beeinträchtigen könnte. Frauen mit SULV wird dringend dazu geraten, sich vorbeugend einer Sterilisation zu unterziehen.

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An der Kassa hat sie das Gefühl, dass noch irgendetwas fehlt in ihrem Einkaufswagen. Irgendetwas Tröstliches. Sie will schon zu den Schokoriegeln für Spätentschlossene greifen, aber etwas hält sie zurück. Marietta. Mariettas insistierende Stimme, die ihr Vorträge hält über Kakaobauernfamilien, die sich zugrunde schuften, über Palmölplantagen, für die der Regenwald dran glauben muss. Marietta, für die Miriam eine scheue Bewunderung empfindet, eine mit schlechtem Gewissen durchsetzte, eine Zuneigung, die sich immer mehr vollzusaugen scheint mit schlechtem Gewissen. Sie denkt daran, wie sie mehr und mehr Zeit verstreichen lässt, bevor sie auf Mariettas Nachrichten antwortet. Wie sie sich am liebsten Ausreden einfallen lassen würde, wenn Marietta vorschlägt, einen Kaffee trinken oder gemeinsam zu diesem Konzert oder jenem Vortrag zu gehen, und dann doch mitkommt. Wie sie ihr aufgefallen sind, die zarten Fältchen um Mariettas blassblaue Augen. Wie sie Mariettas Stimme jetzt deutlich hört, mit nordwestdeutschem Einschlag, diese Stimme, die sich sicher ist, dass Miriam ihr zustimmen wird, wenn sie sagt, dass es ungerecht sei, dass gesunde Menschen in Österreich lebensverlängernde Medikamente bekommen, während anderswo die Lebenserwartung bei gut 50 Jahren liegt. Und natürlich stimmt Miriam ihr zu, auch jetzt, wo Marietta gar nicht da ist, sondern vielleicht gerade in Portugal oder den Niederlanden oder zuhause in ihrer WG, natürlich ist es ungerecht. Aber, denkt Miriam, es ist nun einmal so. Und meine Entscheidung dafür oder dagegen ändert nichts an der Situation einer Somalierin oder Nigerianerin. Und je länger ich arbeiten kann, desto mehr kann ich spenden, denkt Miriam, denkt es wie einen Satz, der nicht von ihr selbst stammt, wie etwas, das man eben so sagt, das man eben so gehört hat, das sich eben so gehört. An den sich die üblichen Sätze anschließen, die Miriam in Diskussionen mit Freundinnen selbst schon oft gesagt, oft gehört hat. Dass es Ausgleichsmaßnahmen gebe. Dass sie der SULV die migrationsfreundlichste Politik verdanken, die in der EU je geführt wurde. Dass das doch nicht nichts sei.

Sie erschrickt. Also hat sie sich schon entschieden? Der Augenblick fällt ihr ein, der kurze, gestern, als der Arzt schon zum Lächeln angesetzt hat, bevor er ihr den ausgedruckten Befund in die Hand gedrückt hat. Der kurze Augenblick, in dem sie gehofft hat, er würde ihr etwas Anderes sagen. Es würde das passieren, was sie sich in manchen Nächten kurz vor dem Einschlafen ausgemalt hat, nur dann, kurz vor dem Einschlafen, um sich vormachen zu können, sie hätte es gar nicht gedacht, nur geträumt, gehört, gelesen. Dass sie der Arzt nach der Untersuchung anschauen würde, mit diesem prüfenden Blick, den man aus Filmen oder Fernsehserien kennt, und dann sagen würde: „Aber Frau Pichler, Sie sind doch schon schwanger!“ Doch der Augenblick ist verstrichen, der Arzt hat ihr den Zettel in die Hand gedrückt, ihr diese und jene Zahl darauf erklärt und am Ende die Worte ausgesprochen: „Es spricht nichts dagegen, dass Sie ein Kind austragen können.“

Es spricht etwas dagegen, dass sie ein Kind austrägt.
Sie trägt ihre Einkaufstaschen nach Hause. Es fühlt sich an, als hätte sie zu schleppen. Sie braucht eine Pause.

Liebe am See, irgendeine alte Folge. Sie merkt zu spät, dass es die ist, in der Saskia Robert endlich sagt, dass sie schwanger ist, nachdem es die Zuschauer schon geschlagene drei Folgen gewusst haben, ja sogar schon vor Saskia geahnt hatten, wegen der Schwindelanfälle, die sie seit Folge 2643 geplagt hatten.
Was hat sie denn vor in diesen 200 Extra-Jahren? Was wäre denn anders als jetzt?

100 Jahre „Liebe am See“ schauen.
Sie drückt auf Stopp. Legt ihre Hände über beide Augen.
Erlaubt sich, aus der untersten Lade im Küchenkasten die Tafel Schokolade hervorzuholen, zwei Stück abzubrechen, in den Mund zu schieben.
Natürlich könnte sie etwas anfangen mit diesem Leben. Mit dieser ganzen Zeit. Allein schon das Gefühl, Zeit zu haben. Sie könnte doch noch ihren Doktor machen. Markus verlassen. Andere Männer lieben. Markus zurückerobern. Sich mehr Fehler erlauben, vielleicht.

Dann ist das Leben vorbei, sagt Markus manchmal, wenn sie übers Kinderkriegen reden, und Miriam weiß, er meint die Jugend. Das Nur-für-sich-selbst-da-sein-Müssen. Das Sich-jederzeit-neu-entscheiden-Können. Das Noch-immer-nicht-hundert-Prozent-erwachsen-sein-Müssen.
Miriam streckt sich, spürt ihre vom Sitzen steifen Glieder. Fühlt sich plötzlich wahnsinnig alt in diesem ihrem, immer schon ihrem Körper. Wundert sich, dass er seit 24 Jahren ohne Pause funktioniert. Seltsam, dass unsere Herzen nicht öfter zu schlagen aufhören.
Ich bin jung, ich bin jung, ich bin jung.
Jung, das waren sie, als sie einer dem anderen nackt gegenüber standen. Ein Risiko eingingen. Sagten „Ich will dich“ ohne sicher sein zu können, dass der andere „Ich dich auch“ antworten würde. Jung. Zerbrechlich. Verletzlich. Hungrig, wach, neugierig. Rührend, zum Weinen rührend schön. Wann ist man jünger, als wenn man ein Kind bekommt?

Irgendwann wird Markus sich auch ein Kind wünschen, denkt Miriam. Und dann wird er sich eine Frau suchen, die noch kann.
Beziehungen sind nicht für die Ewigkeit gemacht, Miriam.

Sie zwingt sich, das Andere zu sehen. Das zweite Studium, das sie sich in ein paar Jahren leisten könnte. Zeitlich und finanziell, muss sie hinzufügen. Vielleicht doch noch in die Forschung gehen, vielleicht doch noch ins Ausland, vielleicht noch einmal ein Jahr nichts machen. Das köstliche Gefühl, Zeit zu haben. Zu lernen. Immer mehr von dieser immer noch so unbegreifbaren Welt verstehen können. Den Dingen auf den Grund gehen können.

Nicht können. Niemals können. Unergründlicher Grund. 200 Jahre Serien schauen. Habe ich denn Träume?

Ja, Miriam.

Sie sieht das Kind nicht, sie spürt es. Zeugen, heranwachsen fühlen, gebären. Küssen. Lieben. Das Leben dafür geben.

Das ganz normale Opfer, das jede bringen muss.

Und dann denkt sie kurz, sie müsse verrückt geworden sein, weil sie da auf einmal etwas spürt, in ihrem Bauch, ganz weit unten, und erst als es hochzusteigen beginnt, hinauf in die Magengegend, weiß sie, es ist nur die Wut.
Es ist immer besser, die Wahl zu haben, hat Isabelle gesagt, als sie Miriam erzählt hat, dass bei der Untersuchung herausgekommen war, dass es bei ihr ohnehin schwierig wäre. Ein zurechtgelegter Satz, den man mit gut geölter Stimme ausspricht, der so dick in Vaseline eingecremt ist, dass unmöglich festzustellen ist, ob man ihn ernst meint oder nur nachplappert, einer, der er von selber herausflutscht, weil ihn jede sagen könnte, ein Satz, der eigentlich schon gesagt ist.

Es ist immer besser, die Wahl zu haben, es ist besser, die Wahl zu haben als nicht, es ist besser, die Wahl.
In England zum Beispiel, da ist Sterilisation Pflicht, für Männer und für Frauen, die Lebensverlängerung in Anspruch nehmen wollen. Hier in Österreich könnte Miriam vielleicht beides haben, ein Kind und, wenn nicht 300, vielleicht 250 Jahre leben, aber eben nur vielleicht, eben nur so, dass einem nie jemand etwas darüber erzählt oder sich bei jeder Gelegenheit in schwammige Umwege flüchtet, eben nur so, dass man niemandem etwas darüber erzählen darf. Dann besser ehrlich sein, so ehrlich wie Marietta, wissen, was das Richtige ist und gerade deswegen das Richtige tun. Darwin konnte dem Leben keinen Sinn geben, hat Marietta gesagt, wohl aber dem Tod. Platz machen für das, was nach uns kommt.

Marietta wird Platz machen, wird viel früher Platz machen als Andrea oder Isabelle, als Markus. Und sie, Miriam, wird zusehen. Wird vielleicht noch leben, wenn Marietta schon 100 Jahre tot ist. Wird sich unmöglich noch wirklich, noch ehrlich an sie erinnern können. Oder?
Ich bin zu feig, denkt Miriam. Nicht mutig genug, um so zu sein wie Marietta. Und noch etwas denkt sie, ganz leise, sodass sie so tun kann, als hätte sie es überhört: Für Marietta reicht ein Leben.

Für Miriam nicht?

Im Zimmer ist es dämmrig geworden. Wenn Markus sich noch nicht entschieden hätte. Wenn sie gemeinsam entscheiden würden. Der Geruch von Markus‘ T-Shirt, wenn sie ihre Nase an seiner Schulter verbirgt. Markus‘ Kopf in ihrem Schoß, Küsse auf seine Schläfe, seine Augen, seinen Mund. Markus‘ Hände, Markus‘ Zeigefinger, von den Augen bis zur Nasenspitze. Markus umarmen. Markus‘ Arme.
Wie oft wird es noch einen Markus für sie geben?

Bringt nicht auch Markus ein Opfer, so oder so?

Miriam hat es nie zugegeben, aber sie hat die laute Kritik der Feminist*innen an der SULV-Regelung nicht ganz verstanden. Hat die Argumente der Politik einleuchtend gefunden. Die offenkundige Notwendigkeit demographischer Steuerung. Die medizinischen Nachteile für Mütter. Die Gefahr, am Ende gar keine zeugungsfähigen Männer mehr zu haben, wenn sie sich wie in England auch sterilisieren lassen müssten.
Jetzt glaubt sie zu verstehen.

19-Jährige ohne Gebärmutter, die sich nach ein paar Bier für die SULV anmelden und es nie bereuen werden.

Sie, mit Gebärmutter, die eine Funktion ihres Körpers abschalten lassen soll.
Und Markus. Aber Markus. Markus, den sie trotzdem und unabhängig davon und mit voller Berechtigung liebt, den sie jetzt liebt, in der Gegenwart, dem einzigen, was real ist. Morgen ist schon Schimäre. Ein Kind ist schon Schimäre.

Draußen ist es fast Nacht. Sie hat Hunger. Sie hat noch gar nichts gekocht.

Der Schlüssel dreht sich im Schloss.

Da bist du, sagt Markus. Ich hab‘ mir gedacht, ich steh‘ dir bei.

Sie kann es ihm nicht verübeln.

Er ist zu früh.

Er weiß schon, was er tut.

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Leonie Groihofer

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23 | Christoph Laible

Weihnachten ist nicht später

Karl ist ganz aufgeregt, als Papa die Haustür öffnet.
„Papa!“, ruft Karl.
„Später“, sagt Papa.
Er schleppt die Einkaufsackerl ins Haus. Auf der Stirn eine tiefe Falte.

Karl klopft gegen die Küchentür und Papa öffnet sie. Es riecht nach Blaukraut und Knödeln.
„Papa!“, ruft Karl.
„Später“, sagt Papa und rührt in den Töpfen, aus denen es dampft und zischt. Die Falte auf der Stirn noch tiefer.

Karl klopft gegen die Küchentür, aber Papa öffnet nicht. Also geht er hinein.
„Papa!“, ruft Karl.
„Später.“ Er schiebt drei Bleche mit Keksen in den Ofen. Die Falte auf seiner Stirn kommt Karl nun unendlich tief vor.
„Es ist schon dreimal später!“ Karl stampft auf den Boden.

„Was ist denn so wichtig?“ Papa seufzt.

Vor dem Fenster liegt ein Vöglein.
„Oje“, sagt Papa.
Papa holt einen Schuhkarton und sie bringen das Vöglein ins Warme. Sie decken es mit einer Serviette zu und warten, aber das Vöglein rührt sich nicht. Als Karl weint, macht das Vöglein: „Piep.“
Papa holt eine Pinzette und gibt ihm Brotkrümel. Das Vöglein frisst. Bald riecht Karl Verbranntes.
„Die Kekse!“, ruft Karl.
„Später. Lass es erst fressen“, sagt Papa. Die Falte auf seiner Stirn ist verschwunden.

 

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Christoph Laible

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22 | Sarafina-Abena Yamoah

Schnee im Kopf

Wir sind die bauchige Schneekugel, die kaputt geht, Glassplitter wie Eiskristalle, aber schneien tut es ja nur da, wo die Wärme fehlt, wo Minusgrade an der Tagesordnung sind und bei uns schneit es in unsere Köpfe hinein, egal ob Winter oder Sommer, im Winter fällt es nur auf, weil da die Welt hinter dem Glas genauso aussieht wie hier drin

Manchmal erschreckt man sich, wenn man jemanden sieht, der einem zu sehr ähnelt und wer in der Glaskugel sitzt, sollte auch besser nicht mit Schneekugeln werfen Eiskristalle zeigen nämlich in alle Richtungen und können sich auch in angefrorene Herzen bohren, sie nutzen dafür die gleichen Widerhaken, die dafür sorgen, dass geliebte Menschen in unseren Gedanken so lange überwintern dürfen, wie es ihnen gefällt

So viel Winterschlaf kann doch kein Mensch halten, aber du bist schon so lange zwischen meine Schädelplatten gepresst wie die gelbroten Rosenblätter, die ich zum Abschluss bekam, die irgendwann anfingen das Buch mit Schimmel zu befallen, aber du bist so trocken, als hätte ich dich falsch herum an meine Wand im Kinderzimmer aufgehängt, darauf gewartet, dass du sorgsam vor meinen Augen stirbst

Aber hier lebt es sich wie unter einer Schneekugel und wem sag ich das, du selbst hast hartnäckig an ihrer Zerstörung gearbeitet, aber wie wir zueinanderstehen, blieb stets ein Kippbild, als würde jemand durch ein Kaleidoskop blicken: wir sind beide doppelt gebrochen und können einander deswegen nur spiegeln

Und die Eiskristalle tun ihr Übriges: Wenn es sich ausgeschneit hat, ist noch niemand bereit für den Frühling, jedes Jahr dieselbe Prozedur, dieselbe Tortur dieses Einsehen, dass der Kopf nicht mit den Blumen von draußen auftaut, dass es dort kalt und windig bleibt, wo Eiskristalle und braunmatschiger Schnee den Ton angeben; auch eine Schneekugel, deren Glaskuppel zerbrochen ist, bleibt eine Schneekugel.

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Sarafina-Abena Yamoah

 

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19 | Marlene Schulz

Kompa, Frau Mirjami und Herr Ernst

Ich bin Kompa und eine Katze. Mein Herr, er hört auf den Namen Ernst, nennt mich so. Seine Frau, Mirjami, hat den Namen für mich ausgesucht, als sie noch in unserem Haus wohnte. Sie fand mich auf dem Kompost als meine Augen noch geschlossen waren – daher mein Name – und fütterte mich.

Ja, Sie haben recht, ich habe eine schwierige Kindheit hinter mir, aber ich habe es geschafft, wie Sie sehen.

Herr Ernst redet sehr viel – er unterrichtet in der Schule – und Frau Mirjami hatte eines Tages genug davon. Jetzt redet Herr Ernst mit sich und seinen wechselnden Besuchen. Manchmal setzt er sich neben meinen Schlafplatz, wenn ich ruhe, und beginnt zu sprechen. Das ist mir äußerst unrecht und mir bleibt nichts anderes übrig, als aufzustehen und meine Ruhestätte zu wechseln.

Herr Ernst redet wirklich sehr viel an einem Tag und auch noch, wenn es dunkel wird. Er gibt sich bei einem Thema, das er begonnen hat, selbst Stichworte für das nächste, das er direkt anschließt. Seine Besuchsmenschen, ich habe das mehrfach beobachtet, sind auf der Lauer und warten auf eine Pausierung in Herrn Ernsts Gespreche, um auch etwas sagen zu können, aber den wenigsten gelingt das. Sie müssten unhöflich sein und ihre Worte über seine legen, aber die meisten wollen das nicht. Herr Ernst hat zu allem etwas zu sagen.

Er ist vielseitig begabt. Er wäre gerne ein ruhmreicher Maler. Handwerklich begabt ist er durchaus, auch an seinem Fahrrad kann er Kleinigkeiten selbst reparieren und bei der letzten Wahl hat er sich für eine Partei aufstellen lassen, die wie eine Farbe heißt, und wurde zu meiner großen Überraschung gewählt. Ich hätte ihn, das sage ich nur Ihnen, nicht gewählt. Herr Ernst hat zu zu vielen Dingen eine Meinung. Dennoch: Ich bin überzeugt, dass sein Wissen zwar breit ist wie ein Ozean, dafür aber nur tief wie eine Pfütze.

Ich habe beobachtet, wie er das mit dem Sprechen regelmäßig mit seinen Besuchsmenschen macht. An einer Stelle ihres Redebeitrages gibt er ihnen recht, nickt sogar auffällig stark, und setzt dann seine Referate an.

Was Herr Ernst nicht macht, ist kochen. Das hat er an ungefähr 260 Tagen im Jahr Frau Mirjami überlassen und weitere 105 Tage waren sie zum Essen ins Restaurant oder zu anderen Menschen in deren Wohnung oder Haus gegangen. Für einen konservativen Menschen stellt das keine Ungewöhnlichkeit dar, aber Herr Ernst möchte gerne ein fortschrittlich denkender, emanzipierter Mann sein. Sie könnten Frau Mirjami befragen, was diese dazu sagt, oder es sich selbst zusammenreimen. Für so klug halte ich Sie.

Herr Ernst hat durchaus liebens- und lobenswerte Seiten. Er reinigt den Ort meiner Hinterlassenschaften regelmäßig, gut, gelegentlich dürfte es gründlicher und häufiger sein, aber ich möchte nicht kleinlich sein. Für meine Mahlzeiten sorgt er ebenfalls, bürstet mein Fell, was eine Wohltat ist, vor allem, wenn ich haare, und er nimmt mich sogar mit auf Reisen. Er besitzt ein Haus in den Bergen. Wir fahren drei bis vier Mal im Jahr dort hin. Eine mehrstündige Fahrt ist von Nöten, die er abends zuvor mit Nahrungsentzug für mich ankündigt. Er möchte, dass ich die Fahrt möglichst gut ertrage und keine Übelkeit aufkommt. Mir wäre es lieber, er würde nicht so viel herumüberliegen, stattdessen etwas zügiger fahren und Zeiten hohen Verkehrsaufkommens meiden. Das nimmt er sich zwar jedes Mal vor, sagt so etwas wie: Morgen fahren wir noch vor Anbruch des Tages los, aber dann muss er noch dringend Dinge erledigen, die schon seit Wochen, gar Monaten liegen und es wird – so bin ich es von ihm gewohnt – doch Mittag, bis wir loskommen.

In den Ferien liest mir Herr Ernst häufig aus den Büchern vor, die er liebt. Sachbücher über Bienenzucht oder Hühnerhaltung – die soll ja jetzt wieder zunehmen – auch Ausstellungskataloge, Bildbände, Kunstkritiken zu berühmter Malprominenz, Reisebücher sind auch dabei. Und dann sagt er so etwas wie: Ach, Kompa, schau dir diese Landschaften an und stell dir vor, wie ich sie male. Er verspricht dann, mir auch ein Plätzchen darin einzuräumen. Bis jetzt hat Herr Ernst sein Versprechen noch nicht halten können.

Das Fahrradfahren liebt er ebenso und ich bin sehr beglückt, dass er mich auf diesen Fahrten nicht mitnimmt. Frau Mirjami hat einmal mit ihm zusammen die Alpen auf dem Zweirad überquert. Kurz danach zog sie aus und weg. Ihr neuer Wohnort entzieht sich meiner Kenntnis. Glauben Sie mir: Zu meinem großen Bedauern.

Herr Ernst spricht noch mehr, wenn er am Abend beginnt zu trinken. Ich habe beobachtet, dass er bei einer bestimmten Menge mehr redet. Wenn diese Menge noch größer wird und er beispielsweise für einen Entleerungsgang den Raum verlässt, kommt er deutlich ins Schwanken. Nimmt er dann noch mehr alkoholisches Getränk zu sich, wird er stumm, seine Haltung am Tisch wirkt labil, sein Kopf fällt zur Brust und er beginnt zu weinen. Er weint einige Zeit für und vor sich hin bis sein Kopf auf den Tisch fällt, er die Arme darunter überkreuzt und beginnt mit offenem Mund zu schlafen. In solchen Momenten schwanke ich, ob ich wirklich bei Herrn Ernst bleiben mag. Sein Selbstmitleid kann abstoßend sein.

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Marlene Schulz

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18 | Carolina Reichl

Die Wunschlosen 

Du sagst, es ist spät. Ich schaue auf die Uhr, die du mir vor Jahren geschenkt hast, auf der Innenseite hast du mir was eingravieren lassen. Numquam retro. Niemals zurück.

Es ist nachts, zwei Uhr einundzwanzig. Meine Augen sind ausgetrocknet, zu lange habe ich auf den Bildschirm geschaut. Fünf Stunden, 39 Minuten, um genau zu sein.

Ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht, darauf zu achten, wie viel Zeit ich für was brauche. Sechs Stunden Schlaf, 43 Minuten im Bad (morgens und abends zusammen), zehn Stunden in der Arbeit. Die restliche Zeit kümmere ich mich um deinen Kater Morli, in der Hoffnung, dass er sich irgendwann von mir berühren lässt, und gehe zu deinem Grab. Mindestens zweimal die Woche pflege ich es. Die Leute sollen schon von der Ferne sehen, dass dein Grab am schönsten ist, damit sie merken, dass du wichtig bist.

Ansonsten habe ich keine Hobbys, ich mache den Haushalt und bereite meine Patientengespräche vor.

Ich bin effizient.

Wenn ich mich entspanne, fühle ich mich faul.

Nur wenn ich nach Hotels schaue, kann es passieren, dass ich mich für Stunden verliere. Ich plane eine Weltreise, darunter ein zweiwöchiger Aufenthalt in Peru. Ich recherchiere nach den besten Unterkünften, Ausflügen, Lokaltipps und Reiserouten, bis ich so erschöpft bin, dass ich nicht mehr kann. Ich schließe den Laptop, ich bin voller Adrenalin. Ich stelle mir vor, wie das wohl sein wird. Peru, Island, Litauen, Japan, Indonesien, Australien, Hawaii, L.A., New York. Wissend, dass keiner von diesen Urlauben jemals für mich stattfinden wird.

Aber warum, du würdest doch gerne verreisen, sagst du. Es hätte nichts geändert, wenn du bei mir geblieben wärst.

Mein Handy vibriert.

Unsere ältere Schwester Katrin schreibt, ob ich nächsten Samstag zu ihr komme.

Wegen Weihnachten.

Ich seufze.
Schön wieder ein Jahr vergangen.

Katrin hält den Gedanken nicht aus, dass ich den 24. Dezember alleine verbringe oder so wie vor zwei Jahren den ganzen Tag an deinem Grab stehe. Zu groß das schlechte Gewissen. Beim Weihnachtsfest selbst will sie mich aber nicht dabei haben, nicht dass ich die Stimmung runterziehe, ich soll am Vormittag kommen.

„Till ist mit den Kindern einen Baum aussuchen“, sagt sie. Sie öffnet einen Prosecco. Wie eine Sanduhr bei einem Saunadurchgang markiert die Flasche unser gemeinsames Zeitfenster, das anzeigt, wie lange ich noch durchhalten muss, bis ich wieder verschwinden kann.

Ich schenke ihr eine Orchidee, Pralinen und ein Buch, das sie vermutlich niemals lesen wird. Sie sagt, das wäre nicht nötig gewesen. Es ist nicht leicht, jemanden zu beschenken, der schon alles hat.

„Für dich“, sagt sie und hält mir einen Reisegutschein entgegen. Letztes Jahr Wizz Air, dieses Jahr Tui. Ich bedanke mich, doch ich greife ihn nicht an.

„Freust du dich nicht?“, fragt sie.

„Doch. Ich kann ihn nur nicht annehmen.“

„Warum nicht?“
„Du weißt doch, dass ich Morli nicht alleine lassen kann.“

„Er kann bei mir bleiben.“
„Die Kinder würden ihn stressen. Außerdem muss ich auf meine Patienten schauen. Mir wäre nicht wohl dabei, ein Wochenende nicht erreichbar zu sein.“

„Du arbeitest zu viel.“

Sie hat recht, meinst du. Ich schüttle den Kopf.

„Wann warst du das letzte Mal auf Urlaub?“
Ich zucke mit den Schultern, als wüsste ich es nicht. Es sind drei Jahre, elf Monate und zwei Tage, seitdem du tot bist.

„Hast du kein Fernweh?“

„Ich glaub, ich brauch das Reisen nicht mehr“, sage ich.

„Blödsinn!“, ruft Katrin. „Mit ihr wolltest du noch eine Weltreise machen! Du warst immer so gern unterwegs und jetzt dreht sich alles nur noch um deine Psychopraxis!“

Katrin hält nichts von Psychotherapie. Sie glaubt, dass das Geldabzocke ist, dass die Leute nur an ihren Profit denken, wenn sie sich am Leid der anderen bereichern. Sie findet, mit seinen Problemen muss jeder selbst fertig werden; es bringt nichts, seine Sorgen immer wieder durchzukauen. Man muss weitermachen, sich auf das Gute konzentrieren, dann wird das schon.

„Und sonst?“, fragt Katrin. „Hast du irgendwas vor? Irgendwelche Pläne für die Feiertage?“

Ich schüttle den Kopf.

„Ich bin wunschlos.“

„Aber glücklich bist du nicht.“

Katrin trinkt den Prosecco aus und spricht mit ernster Stimme weiter: „Ich mach mir Sorgen um dich.“

Sie will wissen, was mich hier hält.

Ob es wegen dir ist?
Warum ich nicht loslassen kann?

Ihre Lippen bewegen sich weiter, aber ich höre nichts. Ich sehe deinen ausgetrockneten Mund, Katrin, wie sie dir den Speichel weg tupft. Ich sehe mich dir winken, euch sagen, ich hätte einen Notfall, einer Patientin geht es nicht gut. Ich verlasse das Krankenhaus, steige in ein Taxi und fahre zum Flughafen, ohne Gepäck buche ich dort den nächstbesten Flug, es geht nach Athen. Ich steige in den Flieger, ich komme an, ich lasse mich in einen Klub bringen, ich trinke, bis ich nicht mehr gerade stehen kann. Ich unterhalte mich, ich lache, ich tanze, ich mache alles, was du nicht mehr machen kannst. Ich habe Spaß, ich denke nicht an dich.

„Geht’s dir gut?“, fragt Katrin.

Mein Gesicht ist nass und salzig. Meine Haut glüht. Ich dachte, ich würde um dich trauern und dann würde es mir besser gehen, doch stattdessen bekomme ich jedes Jahr einen neuen Reisegutschein, den ich verfallen lasse und anstatt dem Rauschen der Wellen höre ich immer wieder die dröhnende Partymusik des Klubs und Katrin, die mich am nächsten Morgen anruft und sagt, du wärst friedlich eingeschlafen.

„Was ist?“
Ich kann nicht antworten, nicht denken, ich habe das Gefühl zu zerfallen, ich falle –

„Du warst sicher zehn Minuten weg.“

Katrin sagt, dass ich zu viel alleine bin und mehr auf mich schauen muss. Sie hätte mich mehrmals gerüttelt und meinen Namen geschrien, ich wäre am Boden gelegen und nicht ansprechbar gewesen.

Ich soll mir die Feiertage nehmen und mich entspannen, meinst du.

Ihr übertreibt.

Nach den Feiertagen gehe ich wie gewohnt zur Arbeit.

Numquam retro.

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Carolina Reichl

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16 | Anne Büttner

Ein Recht schaffender Mensch

„In der Tat würde ich es begrüßen, würde man Sie überfahren." Sowas! Kein verkehrstaugliches Rad, geschweige denn reflektierende Kleidung, aber bei Rot über die Ampel brettern! Als würden Lichtsignalanlagen nur zum Spaß aufgestellt. Leider ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Raser wie gewünscht überfahren würde, um diese Uhrzeit nicht gerade hoch. Tatsächlich ist sie wohl ähnlich gering, wie das Risiko, aus dieser Entfernung von ihm erfasst zu werden. Trotzdem will er sich darauf nicht verlassen. Denn wenn es dann mal kracht, erwischt es ja doch meist die Falschen. In diesem Fall also ihn: Herbert Marotzke.

Eigentlich ist Herbert Marotzke kein Schwarzmaler. Aber in Anbetracht seiner ordnerfüllenden Aufzeichnungen über Fehlverhalten seiner Mitmenschen, scheint ein rücksichtsvolles Miteinander ja kaum mehr möglich. Würde ihn nicht wundern, würde das komplette Wertesystem in 20, 30 Jahren wegen Nichtgebrauchs gestrichen. Sollten sie doch alle machen, dann. Dann wäre er sowieso nicht mehr und es ihm auch egal. Aber bis es soweit ist, denkt er nicht daran, Einschränkungen seiner Lebensqualität hinzunehmen. Weder durch Mensch, noch durch dessen Getier. Wie etwa dem Vierbeiner im Nachbarhaus: Statt der zu duldenden 15 Minuten täglich, kläfft das Tier in Summe ordnungswidrig oft doppelt so lang, wie das detaillierte Protokoll belegt, das Marotzke hierzu seit Wochen führt. Sicher kann auch er sich Schöneres vorstellen, wie er seinen wohlverdienten Ruhestand verbringen könnte. Aber früher oder später würden sich seine Mühen auszahlen. Was Recht ist, muss schließlich Recht bleiben. Man stelle sich nur mal vor, was das gäbe, wenn alle machten, wie sie wollten. Nichts Gutes gäbe das, soviel steht mal fest. Ob nun wirklich jedes Regulativ sinnvoll ist, ließe sich sicher diskutieren. Aber solang es sie gibt, hat man sich eben daran zu halten. Punkt!

Er weiß, dass so viel Konsequenz nicht immer auf Gegenliebe stößt. Häufig noch nicht mal auf Verständnis. Wer wird schon auch gern auf eigenes Fehlverhalten hingewiesen? Etwa darauf, dass sich die behördliche Genehmigung für eine Sitzreihe vor dem Café eben auch nur auf eine Sitzreihe vor dem Café erstreckt und nicht auf einskomma. Oder darauf, dass Parken bei abgelaufener Parkuhr vielleicht nicht ihn, den arglosen Fußgänger Herbert Marotzke interessiert, sicher aber das von ihm darüber informierte Ordnungsamt. Oder das innerstädtische Alkoholverbot: Wer mag schon daran erinnert werden, dass auch ein „Prüfung-bestanden-oder-Antrag-angenommen-oder-abgelehnt-Sekt“ nichts anderes als Alkohol ist und damit ebenso unter dieses Verbot fällt. Oder wer wird schon gern belehrt, dass das Bedienen an über fremder Leute Zaun hängendem Obst ebenso wenig erlaubt ist, wie das Pflücken steuerfinanzierter Anpflanzungen im öffentlichen Raum. Wenn das alle machten. Dann sähe das hier aber ganz schnell ganz anders aus. Und ganz sicher nicht schöner. Mit dieser geht-mich-nichts-an-Mentalität ist doch niemandem geholfen.

Herbert Marotzke jedenfalls ist nicht bereit, solche Missstände hinzunehmen. Auch nicht die weniger offensichtlichen, wie Laubvorkommen auf dem Gehweg, wo, anders als oftmals angenommen, die Räum- und Verkehrssicherungspflicht eben nicht erst bei Schnee und Eis greift. Warum ausgerechnet er angegangen wird, wenn er entsprechendes Tätigwerden empfiehlt, noch häufiger ausdrücklich erbittet, ist Marotzke unbegreiflich. Wehe, es stürzt wirklich mal wer. Die will er sehen, die dann noch immer meinen, er übertreibe oder solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern.

Dabei sind diese Angelegenheiten ebenso seine, wie sie die der anderen sind. Schließlich ist auch er Fußgänger, ist Nutzer öffentlicher Räume und Verkehrsmittel, ist Steuerzahler, ist Verbraucher, ist Bürger, Einwohner, Anwohner, ist statistisch geführter Pro-Kopf-Haushalt, ist Kunde, Patient, Entleiher, Mieter, Nachbar, Gefährdeter, Betroffener, Parzellenbesitzer, ist Mitmensch und vor allem nicht bereit, vermeidbare Abstriche an seiner Lebensqualität zu dulden. Oder an der Lebensdauer, wie es wegen des Radrowdys von eben zu befürchten stand.

Diesmal würde sich das Amt nicht aus der Verantwortung stehlen können. Mit Beschwerden oder Anregungen allein brauchte man denen ja nicht kommen. Wollen die gar nicht hören. Können die nichts mit anfangen. Das kennt Marotzke schon: Zu abstrakt wären seine Schilderungen. Da seien ihnen die Hände gebunden oder der Ermessenspielraum zu weit oder zu knapp oder der Feierabend zu nah oder oder oder. Selbst Untätigkeitsklagen beeindrucken da niemanden. Zumindest hatte keine der bisher von ihm angestrengten etwas bewirkt. Dieses Mal aber führte an einem Tätigwerden kein Weg vorbei. Schließlich handelte es sich dieses Mal um eine ganz konkrete Gefahr für Leib und Leben.

Sobald er ein Lineal zur Hand hat, wird Herbert Marotzke seinen Aufzeichnungen eine Spalte „Fortbewegungsmittel ohne Motor“ hinzufügen und dann multiplizieren, was zu multiplizieren war. Da kam einiges zusammen. Allein im letzten Monat war an selber Stelle im Zeitraum zwischen 23.30 und 3 Uhr, bei gleichbleibender Anzahl an Fußgängern (1 Herbert Marotzke), ein eklatanter Anstieg motorisierter Fahrzeuge zu verzeichnen. Sein Risiko, wochentags bei einem nächtlichen Rundgang erfasst zu werden, lag hier inzwischen um ein 0,8faches höher, als zu Beginn seiner Erhebungen. Und jetzt dieser radelnde Rowdy. Herbert Marotzke würde den neu berechneten Gefährdungsfaktor farbig markieren - in Hypertonierot.

In vier Stunden öffnet die Straßenverkehrsbehörde. Keine Minute später stünde er bei Frau Kutschera auf der Matte, um ihr seine aktualisierten Aufzeichnungen vorzulegen. Vier Ordner umfasst die Causa Schlönzdorfstraße 7a mittlerweile:

Ordner I mit Inhaltsverzeichnis, Sachverhaltsdarstellung, Flurkarte, Skizzen, Fotos. Ordner II und III mit sämtlichen hierzu von ihm angefertigten Protokolle, Tabellen, Diagramme, Auswertungen sowie Prognosen und Ordner IV mit einem Konzept zur Verkehrsberuhigung sowie dem Sachwortregister, das er noch um notwendige Einträge (unmotorisierte Gefährder, leiser Tod, Dunkelziffer) ergänzen würde.

In Anbetracht der Lage bliebe Frau Kutschera gar keine andere Möglichkeit, als unverzüglich tätig zu werden und das Verfahren für die Umgehungsstraße einzuleiten, die, neben dem Missachten von Parkmindestabständen im Kreuzungsbereich, der Mängelleistung der Straßenbeleuchtung in der Friedhofsgasse und dem Stutzen des Straßenbegleitgrüns auf ein ansprechendes Maß, eines seiner meistvorgetragenen Anliegen war. Jedenfalls in diesem Quartal.

 „Herr Marotzke, so früh schon. Guten Morgen.“ Dass man an der Pforte seinen Namen gleich parat hat, überrascht ihn. Schließlich war er zwei Wochen nicht mehr hier gewesen und sein letzter Anruf auch schon ein paar Tage her. „Sie wollen sicher zu Frau Kutschera. Da muss ich Sie enttäuschen. Sie ist heute nicht im Haus.“ „Dann melden Sie mich bitte bei Herrn Bedrich. Der ist doch noch Frau Kutscheras Vertretung?" „Das tut mir leid, Herr Marotzke, Herr Bedrich ist ebenfalls nicht ..." „Ja dann melden Sie mich eben bei der Person, die in einem solchen Fall die Vertretung übernimmt. Frau Gwisdek? Herr Kuperny?" Kopfschütteln. „Hören Sie, Herr Marotzke. Ich würde Sie bitten, einfach nächste Wo ..." „Nein, Herr Marotzke hört jetzt nicht. Herr Marotzke wird auch nicht einfach nächste Woche wiederkommen. Ich sag Ihnen, was Herr Marotzke wird: Herr Marotzke wird jetzt hier Platz nehmen und solang sitzen bleiben, bis er mit einer zuständigen Person gesprochen hat." „Aber, Herr Marotzke, das bringt doch nichts." „Das sehen wir ja dann."  Heute würde er sich nicht wieder vertrösten lassen. Die Aktenlage duldete keinen weiteren Aufschub. "Entschuldigung? Herr Marotzke?" Herbert Marotzke kennt den Mann nicht, der vor ihm steht. „Und Sie sind?" „Die Pforte hat mich informiert. Herr Marotzke, ich möchte Sie bitten, am Montag wiederzukommen. Sie werden heute hier kein Glück haben." „Hören Sie, Herr ...", Herbert Marotzke wirft einen Blick auf das Namensschild und die Funktion des ihm Unbekannten. "Hören Sie, Herr Schulz. Zum einen hatte ich hier bisher noch nie Glück, sonst würde ich mir wohl kaum noch Weg und Mühe machen müssen. Zum anderen hatte ich ausdrücklich um ein Gespräch mit einer zuständigen Person und nicht mit dem Wachdienst gebeten." „Wie gesagt, Herr Marotzke. Wegen eines Seminars zum Umgang mit schwieriger Kundschaft ist heute hier nur Notbesetzung."

Ein Seminar zum Umgang mit schwieriger Kundschaft? Ja, wunderbar! Endlich würde sich all den uneinsichtigen Verbotsmissachtenden und Genehmigungsausnutzenden mal angenommen. Offensichtlich hatte sein Engagement, hatten seine Eingaben, seine Beschwerden und Rundschreiben, sein Sich-nicht-abwimmeln-lassen, seine lückenlose Dokumentation, seine Untätigkeitsklagen, und ja, auch sein Lautwerden hin und wieder, doch etwas bewirkt oder zumindest angestoßen.

"Gut, dann komme ich Montag wieder. Punkt acht Uhr bin ich da." „Natürlich sind Sie das." Herbert Marotzke nickt. Natürlich ist er das. Vorausgesetzt, dass er in Anbetracht der akuten Gefährdungslage dann noch ist.

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Anne Büttner

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13 | Mario Schemmerl

Alles Frisch

Vor wenigen Wochen hast du dabei geholfen die Wände der Wohnung deines Vaters für Nachmieter zu weißeln. In einem der Zimmer hast du ein paar Jahre gewohnt. Eine Spanne wie ein Strich, abgehakt kurz. Während der Ausmalarbeiten hast du ein zwei Sätze darüber gesagt und gleich bemerkt, dass dein Vater keine Erinnerung daran besitzt wie schwer er dir damals dein Leben gemacht hat. Vor einiger Zeit hast du einmal damit angefangen, einfach losgeredet, weil du dir sicher warst, dass es für euch beide wichtig ist. Er sah auf selbstschuldige Weise betroffen aus, sagte nichts und wechselte bald das Thema. Du warst immer nachsichtig mit ihm. Immerhin hat er ein Kind verloren, deinen Zwillingsbruder. Und du wusstest ja auch nicht wie das geht, ohne Zwillingsbruder zu leben. Mit einem Vater in dessen Versteck, in dessen Höhle zu vegetieren, dass weißt du, das hast du gelernt. Mit deinem Auszug stand dein Zimmer für ein paar Jahre beinah ungenützt leer. Seine einzige Funktion war es als eine Art Wäschekammer zu dienen. Von den meisten Dingen hatte er zu wenig, aber zwei aufgeklappte Wäscheständer hatte er. Immer waren sie aufgestellt und immer hängte was auf ihnen. Beim Ausmalen machte ein dunkler Abdruck auf der Wand Probleme. Der Fleck stammt aus dir. Er ist das Werk deiner Einsamkeit. Dein Abdruck liegt wie einer der Schatten von Pompeji im Zimmer. Dort bist du gewesen. An dieser Wand gelehnt, nicht in Pompeji. Dort warst du nie. Das ganze Zeugs was tief in deiner Brust existierte, pulsierte und raus wollte, schlief immer wieder ein, wachte immer wieder auf und endete dann dort an der Wand. Nach dem Auszug hast du lange gelitten ohne zu wissen wie es anders geht als sich dabei wegzusperren. Vater wollte mit der Pension eine Veränderung. Fand sie mit einer neuen, kleineren Wohnung. An seiner Art des Verbergens hat sich nichts geändert. Es ist wie damals, nur ohne diesem Zimmer an dem dein Abdruck klebt.

Gestern. Eine Freundin befindet sich zurzeit in einer Rehabilitationsklinik für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Es war dir und deiner Freundin wichtig sie zu sehen, mit ihr zu sprechen, ihr zu zeigen, dass sie ein paar Stunden Fahrt wert ist. Am Hinweg, auf der Autobahn, wart ihr plötzlich in den Totenwinkel eines anderen Autos gerutscht um gleich wieder daraus zu entgleiten. Deine Freundin wachte aufgrund des kleinen Lenkmanövers auf. Du hast nur gesagt: ‚Kein Problem. Ich sah das Kommen.‘  Und  ‚Ich werde sehr alt werden. Ich weiß nicht warum, aber das spüre ich schon lange.‘

Du wohnst mit dieser Frau zusammen. Zuhause musst du sie immer wieder darauf hinweisen, sie solle die Kerzen auspusten wenn sie den Raum verlässt. Sie vergisst das oft. Was die beiden Katzen betrifft glaubst du, dass sie euch ansehen als würdet ihr ihnen was bedeuten. Dabei habt ihr sie von ihren Müttern getrennt. Eiskalt sind wir.

Was wird dich begleiten, was wird man vergessen, was macht dich glücklich?

Du weißt gar nicht was du heute tun sollst. Einfach weiter machen, denkst du. Niemand weiß wie das geht. Bis sich die Sache mit dem Glücklich-Sein wieder einstellt. Für einen Moment. Das reicht.

Mit aller Frische denkst du dann, ja so war es.

Abends. Fast in der Badewanne ausgerutscht.

Dein Herz schlägt wie wild.

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Mario Schemmerl

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