24 | Kinga Tóth

„Tür auf, Tür zu“

vater wäscht sich
mutter kocht
fremde an der tür
nachtkäfer surren
grillen draußen
fremde an der tür
man sagt nichts hier
wenn sie fliehen
pfeifen die hahnsirenen
‘drauf blieb der topf
kocht über leert sich
mutter vater
fremde

Kinga Tóth

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
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23 | Nicola Huppertz

tag vor heiligabend

zufällig
zwischen zwei eiligen schritten
lege ich den kopf in den nacken
und sehe wie sich die möwe
vom frühlingsmilden wind
davontragen lässt

ihr schmaler Körper
ohne gewicht
vor wolken aus hauchzarten
lamettafäden
am hellblau des himmels

während hier unten
zwischen läden und lichter-
ketten
noch immer die gesetze
der schwerkraft gelten
und die der saison

weshalb ich meinen blick abwende
und weiterhaste

der stillen zeit
entgegen

Nicola Huppertz

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22 | Stefan Heyer

Seine Freunde konnte er nicht fragen

Viel geblieben war nicht von Aleppo. Die meisten Gebäude zerstört. Auch seine Freunde waren weggegangen. Geflohen aus der Stadt. Oder gestorben. Geschossen wurde nicht mehr. Das war auch alles. Das Leben? Musste weitergehen. Letztes Weihnachten hatten sie in der zerstörten Kirche gefeiert. Es war kalt gewesen. Ohne Dachstuhl. Heizen hätte da nicht geholfen. Aber sie hatten gefeiert.

Sein Vater hatte Arbeit. Hatte Glück gehabt. Vater stellte immer noch Seife her.  Wenn er Olivenöl bekam. Und Lorbeer. War nicht leicht, die Sachen zu bekommen. Strom gab es wenig. Ein paar Stunden am Tag. Oft war der Strom plötzlich weg. Wasser gab es auch nicht immer. Das nervte am meisten. Das eine oder andere Haus wurde wieder aufgebaut.

Letztes Jahr hatte Jiro sich zu Weihnachten ein Stück Seife gewünscht. Was sollt er sich dieses Jahr wünschen? Seine Freunde konnte er nicht fragen. Es war kein Krieg mehr in der Stadt. War das jetzt Frieden? Sein Vater konnte es ihm nicht beantworten. Sie lebten. Sie hatten zu essen. Nicht immer. Manchmal hatte er Hunger. Eigentlich fast immer.  Wenn kein Wasser aus der Leitung kam, musste er immer Kanister schleppen.  In der Nähe gab es ein Kloster. Wenn er Hunger hatte, ging er manchmal hin. Die Schwestern hatten auch nicht viel. Doch sie gaben ihm immer etwas.

Mehl war immer knapp. Großvater würde gern mehr Brot backen. Doch sein Ofen blieb oft kalt. Holz gäbe es schon genug. Oder irgendetwas anderes zum Heizen. Doch Brot ohne Mehl konnte auch Großvater nicht backen. Süßigkeiten hatte er schon lange nicht mehr gebacken. Womit auch.  In den Geschichten von Großmutter war Jiro zuhause. Auch wenn das Elternhaus nicht mehr stand. Sie erzählte wunderschöne Geschichten, Märchen. Aleppo muss schön gewesen sein. Das Leben muss schön gewesen sein. Früher. Als es keinen Krieg gegeben hat.

Er hatte keine großen Träume.  Nachts war es jetzt immer still. Und dunkel. Schwarze Ruinenstadt. Überall zerschossene Häuser. Oft wurde er wach in der Nacht. Kroch zu Großmutter ins Bett. Liebte ihr weißes Haar. Vielleicht sollte er sie fragen, was er sich wünschen könnte zu Weihnachten. Jiro konnte lesen und schreiben. Zumindest ein bisschen. Er konnte jetzt wieder zur Schule gehen.  Es gab Container. Die Kirche war immer noch eine Ruine. Noch hatte sie keiner aufgebaut. Schnee würde es dieses Jahr wohl auch nicht geben. Großmutter erzählte ihm manchmal vom Schnee. Schnee müsste herrlich sein.

Stefan Heyer

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21 | Frederik Mork

fern & fern

Du bist
fern und fern
und zugeknöpft
von anderen Händen
mehr als das
durchbrichst du
alles in diesem Raum
vom damals wirren Denken
bis zum wirren Denken heute
von Erinnerungen
und Äußerungen
von Fragen bis zu
ganz anderen Fragen

Du bist
fern fern
zugeknöpft
aufgeknüpft
wartest bis die Strafe
die Bestraften holt
kommst nicht
bleibst fern
vieles wartet schon
auf deinen Platz
offene Ohren und Nähe

Frederik Mork

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20 | Kerstin Fischer

Winterfrage

Die Portraits in Öl stehen im Schnee der Stadt.
Ihre jahrhundertealten Blicke ziehen über die Graffitis der Häuserwände.
Dann lesen sie in den Weissagungen der Kälte.
Aber der Frost ist taub für jedes Gefühl. Er baut Nester in die Jacken der Obdachlosen,
bis sie winseln wie Hunde, die durch die Schatten im Rotlicht der Amsterdamer Straßen schleichen.
Die Tiere beobachten, wie es die Genitalien wund schlägt, das Licht, bei Nacht betrachtet.
Hinter den schweren Holztüren hallt indes das Gelächter der Verstorbenen.
Es macht die Gesichter bleich. Extasy ist en vogue.
Nuttenkrallen schlagen gegen die Scheiben.
Sie brechen das Eis in dem frierenden Hirn des Mannes
mit dem Muttermal über dem Auge, das er Igel nennt.
Er wirft seine schwarzen Ringe in den Rinnstein. Der Vorhang aus Filz ist geschlossen.
Die anderen warten im Eisregen.

Kerstin Fischer

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19 | Bas Lindgaard

Mara

In der Zwischenzeit
tauchte Mara auf
und erzählte mir
von höllischen Krämpfen.

Das Ende des Tunnels
kommt immer näher
und wahrscheinlich
erreichen wir es kotzend,
auf allen Vieren kriechend.

In der Zwischenzeit
erschien Mara
und erzählte mir
von den Krämpfen,
die ihn heimsuchten
und von dem Blut,
das er geschwitzt hat.
Man sah ihm an, dass er
dem Ende des Tunnels
immer näher kam
und wahrscheinlich
erreicht er es kotzend,
auf allen Vieren kriechend.

Ich sah ihn zuletzt meditierend,
auf einer pechschwarzen Lotosblüte,
bevor das Licht ihn verschlang.

Bas Lindgaard

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18 | Axel Görlach

spiel mir das lied

vom schafottschaf blut zerstäubt
als himbeerpulver am abendhimmel über dem Ehrenmal
darunter die doldenskelette des bärenklaus verkrallt
ins graue leuchtender taubendreck wie grobe
brocken von feindschnee auf bronze sing mir
von helden + herkunft ein lied das trügt bis es trägt
deiner ahnen gewicht ich hab nur das malmen
des kiefers geerbt den man meinem großvater
wegschoss ins russische jede wortformung seitdem
ein phantom schmerz doch sah ich dich moskau + deine
aufschneiende schönheit die flocken so zärtlich
hebt niemand sie auf mit den wimpern

Axel Görlach

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15 | Marlene Gölz

in den betten liegen kinder
in den kleidern vom vortag.
auf dem nachttisch
leere packungen medikamente.
ihre hände presst sie
gegen die schläfen
ihres verweinten,
zuckenden gesichts.
statt frühstück gibt es wasser.
die augen der kinder sind verklebt.
bevor der älteste den kindergarten betritt,
bleibt er stehen. streicht sich die haare glatt
und knöpft sein hemd bis oben hin zu.

Marlene Gölz

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13 | Andreas Schumacher

Gotthilf Grünberger (1600-1668)

Ekstatische Erdung im himmlischen Ich.
Blasphemischer Gedanke in schwerer Zeit:
Dass man sich munter selbst behälfe,
nicht mehr nur, wie seit grauer Vorzeit,
altem Brauche folgend Hand anlegte –
den Mund vielmehr nähme, mitsamt der Zunge
(bifunktionales Organ, Geschmacks-
organ, Organ der Sprache)
im Zuge autonomer Bemühungen
(schwielig die Pranken, schmerzvoll aufgeplatzt
die Fingerkuppen vom Gebrauch der rauen Taue)
halbautomatisch eingesetzt zur Befriedung
kalendarisch aufstoßender Gelüste.

Inmitten von Glaubenskriegen, Hungersnöten,
allgemeiner Orientierungslosigkeit
welch konterkühnes Kunststück
unterm wachehaltenden Sternenzelt!

Gotthilf Grünberger : – o
Entdecker, Entwickler, Erfinder,
Namenspatron und Missionar
des einfachen Grünbergers;
geboren zu Speyer im Jahre des Herrn 1600
als Spross einer uralt verwurzelten Bauernfamilie;
Aussteiger, Frührentner, Selbstversorger;
Weltumsegler, Grenzgänger, Waghals,
Penispionier der ersten Stunde,
versuchte, was im feuchten Traume er gesehen,
auf zerstörten etruskischen Vasen
und pornobalkenbehandelten Höhlenmalereien –
sich ein Leben lang schon immer weiter,
immer höher hinaus vorgearbeitet habend
durch Fleiß und Schweiß,
Ausdauer und Stehvermögen,
Geschick in allen Lebenslagen;
gelenkig, sehnig, schwindelfrei,
allgemein gut ausgestattet,
gelang ihm in lauer himmelundmeerver-
schmelzender Frühsommernacht,
was mancher wohl
durchaus vor
ihm schon er-
strebte.

Umsichtiger Kaufmann, großer Generalvorsteher,
leitender Direktor eines Hamburger Handelskontors
mit weitreichenden Verbindungen tief runter ins Fuggerländle,
Junggeselle, Wunschschwiegersohn, Feierabendpoet –
alles hin-
& sich selbst in die Waagschale
geworfen,
ausgestiegen,
aufgebrochen,
drauflosgesegelt,
das Ei des Kolumbus gefunden
am neunundvierzigsten Tage
in Form zweier Eier und eines
schwellenden Schwanzes,
gelegen in einem Winkel
von einhundertundsechsundsiebzigkommazwei
Grad zwischen seinen unrasierten, nackten Schenkeln.

Von seinem eigenen Samen sich nährend,
blies er sich ostentativ durch die sieben Weltmeere,
bald weltberühmt durch simple Mund-zu-Mund-Propaganda,
eine sich selbst vorauseilende Legende der lasterhaften Leibeslust,
ein eigengliedkauendes Perpetuum Mobile onanistischer Dauerbespaßung.

Sein mit Abstand berühmtester Ausspruch
Was brauch ich andre Menschen noch,
wenn mir mein Mund das beste Loch? –,
vom Philosophen Schopenhauer
in gehobener Weinstimmung immer wieder gern
bierselig ausgepackt an Frankfurter Kaschemmentischen –
steht niedergeschrieben
in seinem penibel dokumentierenden,
bahnbrechend schrankeneinreißenden Werk
Wie ich als erster Mensch der Weltgeschichte
mir unversehens erfolgreich selbst einen blies
und darob in allgemeinen Jubelchor ausbrach

Wer ihn jemals ohne Vorwarnung
in flagranti vorübergleiten sah,
sei’s am Kap Verde, bei Bali
oder auf dem Schwarzen Meer,
wird schwerlich ihn vergessen haben.

Selbst Seeräuber machte er gefügig
ließ er einhalten in ihrem gottlosen Tagwerk –
Säbelrasseln verstummte, wo er aufkreuzte
kollabierte der Kanonenkurs,
warfen gefürchetete Männer sich zu Boden,
einzuüben den gigantischen Grünberger,
friedfertig, experimentierfreudig, fickfanatisch.

Bald allerorts beliebt und willkommen,
wo nicht grade zufällig ausgesprochene Prüderie,
allgemeine Lust- und Sinnenfeindlichkeit
ihr harsches Zepter mürrisch schwangen,
autark, autofellatiös, out of step,
lebte er, von Küste zu Küste/Eiland zu Eiland ziehend,
von den Spenden seiner zahlreicher werdenden Anhänger,
gab er heillos überlaufene Gönn-Workshops
in aller Herren Länder.

Nicht sehr wählerisch
in Geschmacksfragen;
immer bodenständig,
ein Mann des Volkes geblieben,
starb er in sternklarer Nacht,
achtundsechzigjährig,
rückenleidend,
vor der Küste Dänemarks,
im felsenfesten Glauben,
dass alle Welt vom Streit abließe,
wenn jedermann sich selber bliese.

Ein oder zwei Tage
vor seinem Dahinscheiden verfasst
sein letzter Logbucheintrag

Ich lieg an Deck am Abend gerne
und schaue auf die Himmelssterne.
Das Ziel ist nicht mehr gar so ferne,
drum streng dich, Menschheit, an und lerne!

Andreas Schumacher

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12 | Unda Maris

Tremendo furioso

 

oder Wie mir der Singsang einmal tief ins Hirn hinein blies

 

Unda Maris

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