freiVERS | Sigune Schnabel

Unter die Haut

Es gibt einen Raum unter deiner Haut,
in dem Legenden wohnen.
Dort rennt das Glück
die Adern entlang.
Manchmal,
wenn sich die Welt
voll gesogen hat
mit Regen,
dass sie sich an den Rändern einrollt;
wenn ich ihre Geschichte
glatt ziehen muss,
um sie zu lesen –
manchmal werden meine Schritte groß
und springen
aus den Umrissen
meiner Existenz
unter deine Haut.

Sigune Schnabel

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freiVERS | Safak Saricicek

absetzversuche des kaffeehausbesuchers

dich will ich absetzen
wie diese weißen tabletten
dich das toilettenrohr
hinunterspülen
und spulen die zeit
hinunterspülen die erinnerung an dich
zurückspulen
tage und nächte
vor den weißen tabletten
die mich glücklich machen
seitdem du
mich unglücklich gemacht
hast wie diese fette fliege
mich unglücklich gemacht
hat die ich das toilettenrohr
hinunterspülte

dich will ich überstehen
wie diese parästhesien
momente wenn die welt sich dreht
die pulsierende migräne
überstehen atem der atemlosigkeit
entgegnen
und das absetzen fällt nicht leicht
werden die schritte der schwindel
treibt die bilder von dir
die stumme packungsbeilage
der tabletten die ich überstehe das
tablett am freitagabend du lächeltest
das tablett mit deinem kaffee
der stürzt ein fernes lachen will dich
vergessen

bin nicht mehr
ich selbst bin
nicht schon fast
weg von dir
deine augen waren
braun wie dein
kaffee am freitagabend
weg von dir
gestürzt ist mein
ich will dich
nicht
mehr.

Safak Saricicek

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freiVERS | Barbara Marie Hofmann

wir sitzen unter linden
träumen von tannen von meerengen
von den gezeiten der wölfe
wir sitzen unter linden
der sommer ist nach zeitigkeiten vorüber
wir sitzen unter linden
denken an uns
wie schön es damals war

Barbara Marie Hofmann

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freiVERS | Stefan Heyer

Der Papierkorb

Unter dem Schreibtisch
manchmal steht er auch etwas weiter
entfernt
wartet der Papierkorb

gefüllt will er werden
bekritzelte Zeitungen
vertippte Seiten auf der Schreibmaschine
Fehldrucke

schlechte Texte, falsche Wörter
die Spuren des Bleistifts
durchgestrichene, zerrissene Seiten
mit Wut geworfene Papierbälle

Flieger voller Langeweile
mitunter auch Bleistiftanspitzreste
leere Patronen
doch hier und da nimmt

eine Hand ein Stück Papier
wieder heraus, streicht es glatt
liest noch einmal und

findet Gefallen an den Worten
den Sätzen, ein Lächeln
fährt über das Gesicht

Stefan Heyer

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freiVERS | Benjamin Löber

Nachtfahrt

Ruhe und
Geschwindigkeit
Schwarze Scheiben
Spiegelzeit
Heißer Kaffee
kaltes Licht
Störe meine Gleise nicht
Benjamin Löber

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freiVERS | Raoul Eisele

petrified kisses
of mythic aesthetes
enchains us
in bondage
with passion
---------of pain
lies alice’s incarnation in cellar
of mad hatter’s abysmal hat
where you don’t speak of eden’s garden
or the endlessness of moons
with their shadows
in the marrow of your own
are giraffes placed
---------in the first floor
with their heads over the roof
into the clouds
decorated with girdle of flours
run rabbits knots in their heads
and seamen sail through the bosphorus
of your heartstrings
sings sirens of hope
that never will fulfill
is the sun the only ray
that will stay
---------in the world
of tomorrow’s us

Raoul Eisele

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freiVERS | Niels-Johannes Günther

Fackel der Demokratie

Wo ist die
leuchtende Fackel geblieben?

Die Fackel der Freiheit,
das leuchtende Licht der Liebe,
das europäische Feuer des Friedens,
die stille Kerze der Vernunft?

Nationale poltern,
Monarchen rüsten,
die Angst schnürt Seelen zu,
alte Türen werden fest verschlossen.

Die Wahrheit wurde schon
auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Die blinde Justitia schon
gefesselt und geknebelt.

Die Stimmen der Gefolterten,
Verschleppten, Versklavten - verstummt.

Wo ist in dieser Dunkelheit
die leuchtende Fackel geblieben?

Niels-Johannes Günther

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freiVERS | Christa Issinger

Notting Hill Gate

aufgerollt wie ein faden
die vergangenheit
der geruch und die wärme
windstoß der u-bahn
das viktorianische haus mit der roten tür

du warst nicht mehr da
nur die lüge
du würdest auf mich warten
tausend jahre und mehr

nun stehe ich da und
drehe mich um
Erinnerung

Christa Issinger

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freiVERS | Angelo Wemmje

Nachdem Beifall

Eine vollkommene Reduktion
tritt auf die Bühne und
präsentiert ihre Immanenz, die
das Publikum verlor in den
überschwänglichen Bewegungen
ihrer Leben:
Das Stillleben – ein
fixierter Moment
aus dem alles entwächst, auch
die Zappelein der Gäste
und Zuschauer – eine
scharfe Illusion, die
der Maler entpuppt mit
einfachen Strichen,
die, nachdem streichen
in Ewigkeit ruhen
zu Ehren dem Werk, so
wie das Klatschen der Leute
nachdem Beifall.

Angelo Wemmje

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freiVERS | Lütfiye Güzel

freiheit & fabrik

ich schreibe
aus den falschen gründen
& je schlechter ich mich fühle
desto falscher werden die gründe
von außen kommt nix
von innen geht nix
und am ende
ensteht dann
so was hier
Lütfiye Güzel

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