freiVERS | Martin Baumeister

der letzte sommer

schub um schub, feldbetten und
fertiggerichte.
die vignette klebt auf der
windschutzscheibe und
der busfahrer sagt, er muss für einen alten
mann auf der straße bremsen:
geh‘ nur. das wird dein letzter sommer sein.

unter den pinien ruhen die zelte, sie
bleiben ein unterschlupf für rucksäcke.
wir schlafen im freien
und trinken heimlich auf den steinen
abseits, am schotterweg.
später pflastern wir die wände der stadt
mit oliven aus der fletsche.

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Martin Baumeister

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freiVERS | Anika Hoffmanns

Kegeln gehen

Jeden Freitag Abend
marschierte der Club in die Stadt.
Über den Kirchplatz, rechts in die Gasse
zum hell erleuchteten Kolpinghaus.

Wie früher in den Sechzigern
malt sie sich heute die Lider blau an.
Schlüpft in ihr altes Lieblingskleid,
das kraftlos hängt wie ihr Haar.
Die Dauerwelle zur Feier des Tages
hat der Friseur ihr verwehrt.

Sie öffnet die Haustür, schließt sie wieder,
die Nachrichten fallen ihr ein.
Die leeren Straßen und die Sonntage
an denen der Pfarrer schweigt.

Aber trinken! Das kann sie noch,
im Kühlschrank steht billiger Sekt.
Und später beim dritten Doppelkorn
hat sie die Kugel in der Hand
und Holztäfelung unter den Fingern.

Es läuft ein Schlager im Radio,
der macht sie zur Königin.
Während sie blinzelt, keucht und schnieft
wiegt sie sich weiter im Takt der Musik.

Klirrend wirft sie mit leerer Hand,
beim ersten Versuch alle Neune.
Sie taumelt, reckt stolz die Arme empor,
die Scherben lässt sie liegen
wie jeden Freitag Abend.

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Anika Hoffmanns

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freiVERS | Johannes Bruckmann

Der Weg von der U-Bahn nach Hause und der Aufenthalt in der Wohnung

Weil ich
Ein U-Bahnfahrgast
Ebenso gut auch U-Bahnführer hätte sein können
Nahm ich mich vor mir selbst in Schutz
Bis ich
Den unterirdischen Blumenladen passierend
Spürte
Dass ich auch Florist hätte sein können
Statt U-Bahnführer statt U-Bahnfahrtgast

Aber dann
Als ich in mir einen Nachtwächter sah
Irrte ich mich in der Zeit
Ebenso
Als ich in mir einen sah
Der den linken Fuß vor den rechten setzt
Weil ich doch in diesem Moment
Den rechten vor den linken setzte

Erst in meiner Wohnung
Konnte ich nicht mehr alles sein
Konnte ich nicht mehr versehentlich auf neue Gedanken treten
Allerdings nur, bis ich mir den Klang des Telefons vorstellte
Und mich fragte
Was würde derjenige, der abhebt
Demjenigen antworten, der anruft
Würde derjenige sich als eine Castingagentur ausgeben?
Und würde es sich dabei um einen Scherz handeln?

Kämest du jetzt nach Hause
Dann könnte ich vielleicht am Ton deiner Stimme eine Antwort...
Dann könnte ich vielleicht an deinem Geruch...
Dann könnte ich vielleicht...
Aber dafür müsste es dich geben
Dürfte ich jedenfalls in Bezug auf dich
Keinem Irrtum unterliegen

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Johannes Bruckmann

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freiVERS | Andreas Hippert

Inkarnation

Mit Schwung
spannt der Turmfalke
über flüchtiger Feldmaus
den Bogen.
Zischend,
pfeilt
er hinab
auf die
Stoppelzeile.
Die Rückennaht trennt er,
den Felleinband schlägt
krallend er auf
Eingeweide durchblätternd
stößt er
vor
zum pulsierenden Herz.

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Andreas Hippert.

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freiVERS | Klaus Roth

mittags

die tauben stieben auf
und wir erwachen
aus unseren tagträumen
am stadtbrunnen
die tauben stieben auf
und immer neue gespräche
entspinnen sich
über die asymmetrie
der verhältnisse
und das glück
dem wir nachjagen
seit jahren
mit flatterigen herzen
die tauben stieben auf
und hinterlassen
ihre unsichtbaren spuren
so sitzen wir so reden wir
so reden wir so sitzen wir
und geben einander ein alibi
für all unser versäumtes leben

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Klaus Roth

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freiVERS | Philipp von Bose

Nun verzichte ich wissentlich

erkläre mir das lied vom tod,
damit ich mich nicht fürchten muss.

gibt es eine große tat, im tiefen
etwas mystisches,
wenn alles kalt & nennbar ist?

mondän ist die erschütterung, die
aufgeklärt durch köpfe zieht...
wie wolken: keine schäfchen mehr.

das wunder liegt verwundet da
und die tat, die möglich ist – erosion
durchs definieren

der zeit
der farben
und des lichts.

am anfang gab der geist
uns scham, nun...

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Philipp von Bose

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freiVERS | Sarah Pola Esadov

Da denkt einer den ganzen Tag
nur an Brücken.
Stahlbetonbrücken, Bogenbrücken,
Autobahnbrücken, Hängebrücken,
Sichtbetonbrücken.
So wie er Brücken liebt so liebt er.
Stahlhart, waschbetonweich, endlos lang.
Streicht über die Oberflächen von Brücken.
Bewegt sich gewissenhaft über die Brücken.
Stapft über die Brücken. Steht vor den Brücken,
an der Schwelle, unten und betrachtet sie.
In der Mitte ist die Aussicht am besten.
Er hält immer in der Mitte an.
Berufsbedingt aber muss er bis ans Ende gehen.
Manchmal dreht er um und geht wieder zurück.
Infrastruktur ist die Lösung denkt er.
Infrastruktur ist die Lösung sagt er.
So wie er Brücken liebt so liebt er.

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Sarah Pola Esadov

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freiVERS | Verena Längle

martian natives (wenn die Alten schlafen gehen)

Wenn die Alten schlafen gehen,
träumen sie von ihrer Erde, schwarzer Erde,
Mutterboden, voll bis obenhin mit Zeug? Bakterien, Algen,
Mikroplastik, Pilze, Biozide, Würmer, die (geliebte) Erde fressen,
pressen (durch das Mahlwerk ihres Körpers) und so tiefer sinken lassen,
was auf dieser Erde steht, einfach immer tiefer sinken in die dunkelste
Umarmung, wo die Ahnen sicher ruhen, auch wenn man das, was dort
passiert, schlecht ruhen nennen kann, weil hundertfach berührt
von Mündern, Borsten, Flüssigkeiten –

Visionen? Nichts, nur vage
Lichtempfindlichkeit und doch bereiten sie
den Boden für alles, was noch kommen wird, während
(statt zwei) ein blasser Mond aufgeht, der Meere hin- und
her bewegt und ihre Sehnsucht wiegt wie Kinder. Vermissen sie
den blauen Plan, der Mutter, Gott und Vater war, bevor sie ihn
entschlüsselt haben? Vermissen sie die Schwerkraft, die hier alles
leichter macht und auf der Erde dreimal schwerer? Lass sie
einfach weiterträumen! (wenn die Alten schlafen gehen,
sind wir längst auf und davon)

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Verena Längle

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freiVERS | Michael Pietrucha

nächtlich bin ich

die nachtigall im dickicht
dort sowie, sowie die
andere nachtigall hier
die mauern der mörtel
sind keine wände meine
gitter ich werde
der laubduft die lieder
die luft
wären nicht meine glieder
ein vöglein
bis in die morgenstille in die
ich es hülle
niemandem zeige
den mittag die mahlzeit
das meckern
darüber stülpe
bis das vöglein sich nächtlich
im aufschrei befreit
& singt & sucht
was allein
ich bin ich höre
dich bis in die morgenstille 

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Michael Pietrucha

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freiVERS | Liza Wandermaler

17 Luchse

Wusstest du, dass jeden Abend,
Siebzehn Luchse, leise trabend,
Auf den kleinen Waldseewiesen
Ihrem Schlaf entgegenwarten?

Ich hab sie gesehen… Glaub mir,
Nichts ist schöner, als ein Raubtier,
Das an einem blautürkisen
Abend kreist im Eden-Garten.

Und es fegen dunkelgrüne
Efeuranken die Tribüne,
Während jeder Stern die schlauen
Katzenaugen wiederspiegelt.

Warm benetzt das Moos die Steine;
Dunkel dämmern Fichtenhaine,
Während in den flachen Augen
Jemand seine Tür verriegelt.

Doch, wenn ich dir dies erzähle,
Lachst du und beteuerst sachlich,
Dass ein Luchs in uns‘ren Breiten
Sicherlich nicht hausen würde,

Dass die Phantasie endgültig
Den Verstand in mir verwirrte
Und dass du dich langsam fürchtest,
Ob mir noch zu helfen wäre.

Doch du hast sie nicht gesehen.
Und du ahnst nicht, was ich ahne.
Denn ich bin mir sicher: Luchse
Wissen mehr, als sie verraten…

Also muss ich wieder gehen,
Weg vom Lärm der Straßenbahnen,
Um erneut auf siebzehn Luchse
In dem Wald gebannt zu warten.

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Liza Wandermaler

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