freiVERS | Fabian Lenthe

Von zwei Uhr sechsundvierzig

Bis sechs Uhr achtundfünfzig

Ist nicht viel passiert

 

Aber jetzt die Baustelle vor dem Haus

Der Verkehr

Die kalte Luft durch das gekippte Fenster

Unten das Schließen und Öffnen der Haustür

 

Und die Raben

Und ich

Und meine verklebten Wimpern

 

Und um nichts davon haben wir je gebeten

.

Fabian Lenthe

.

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freiVERS | Yvonne Koval

das Aufbrechen von Wasserstoffbrücken

eine Gedankenkette strickend, zwei Fäden eines Teiles
häkeln sich nach Bauanleitung, Strick um Strick
weben sie Zeilen in die Bauchdecke:

sollen wärmen dieses Nest, dessen Aufbau
Schritt für Schritt umgesetzt, stets Anleitung
verfolgt, Zeilen Laut für Laut genau, fast schon
Verfolgungswahn, so ummantelnd dass nicht mehr
eingebettet (sondern angekettet), nur zwei Fäden
an der instabilsten Stelle fest verknotet,
können so einengend sein, Schnur fast schon
Strick um den Hals, doch perfekt ausgefädelt
(in letzter Sekunde) widerstrebend Nest verlassen
an der instabilsten Stelle die Laute verloren.

die Zeilen nun vor sich gesehen (wie heimatlos)
gesehen wie selbst schlagend, selbst atmend und
Laute / Schritte setzen, selbst Bauchdecke wärmen und
brüchiges Leben, selbst Hals aus Strick fädeln (vogelfrei)
Nestwärme war gestern.

und als Atmendes erstmal Zellbausteine begriffen,
Atome strukturiert, sortiert, der Größe nach geordnet,
da selbst erst gesehen: bloß zwei Fäden und eine Bauanleitung
gesehen wie fast schon Strick um den Hals, danach
wie Nest verlassen. und nun in Sprache gefasst:

„du bist; nicht Teil meiner
Fäden nun ausreichend verweichlicht, diese Bauanleitung unlesbar.
du bist; nicht verankert / abgebildet hier nicht eingeladen.
hier abgeladen hast du so viel von deinen Fäden/Lauten/Zeilen,
abgelehnt hab ich Teile (deiner) an mir selbst. begreifst du?

es gibt Atome und Leere, alles andere ist nichts, ist bloß
Ansichtssache, wie dich hier hineininterpretiert, hineingewoben
in Doppelhelix bist du nicht / meine Zellbausteine aufbauend.

daher aufklauben was mich erinnert, was nicht Teil meiner
und dann rausbringen, rausgequetschte Tropfen
tropfen bloß auf Handtuch (bewusst rotes gewählt damit unauffällig)
bis Tuch verweichlicht, alles was mich erinnert an
was nicht hineinpasst / nicht Teil meiner
hab ich weggeschwemmt, flussabwärts / -auswärts
Wege geflossen zwischen Erinnerungslücken,
Zellbausteine losgelöst und weggeflutet wie
ein Blutgerinnsel, Gefäß durchgespült, mitgenommen
das Gerinnsel, das nur verstopft / blockiert
mit allem, was nicht Teil meiner.

Doppelhelix danach betrachtet, plötzlich bruchstückhaft.
Leere erzählt von Aufgeklaubtem, vom ausgefiltert worden Sein,
fortgeflutet / -geflüchtet, war wohl nie Teil dieser Bauanleitung:
Fäden/Laute/Zeilen waren falsch verortet, dort fest verknotet,
haben bloß blockiert, dann weggespült wie aussortiert,
letztendlich das Handtuch wärmend rot signiert.

und die Helix nun verformt, so lückenhaft dass ungenügend
dass es nicht wie ich geboren werden hätte können,
sonst wäre wohl Todgeburt in jemandens Uterus: verweichlicht.

und erst nach so langer Zeit
(bewiesenermaßen lebensfähig)
mit Hirn und Gedanken (Gedächtnis)
war endlich aussortiert/ausgesiebt was verknotete.
all das erst, nachdem Teile deiner herausgelesen,
gegriffen mit der Pinzette nach allen einzelnen Atomen,
ausgeschabt, herausgequetscht (rotes Handtuch
schon vorbereitet für Fremdes, Deines)
bis Leere wo einst erinnerte,
bis Doppelhelix wie bruchstückhaft
– da war erst ausgesiebt was verknotete.

Und nun?
Atome und Leere, alles andere ist nichts, ist bloß
Ansichtssache / Bruchteil davon. nun Bauanleitung
wie in Stückchen zerfetzt, Erinnerungslücken und brüchig.
Fäden / Nähte nach und nach aufgetrennt
Riss um Riss und Identität bruchstückhaft.
Tropfen am Handtuch ausgehärtet und kalt, nicht verweichlicht.
Ich bin keine Verweichlichung von Ansichtssachen,
keine Verweiblichung der Teile deiner / Bruchteile davon.
nun Zellbausteine ausgehärtet (unverformbar)
Fremdes ausgesiebt: grobe Körner
kratzen nicht mehr an der Hautoberfläche.
Bauchdecke war gestern.

Nun Genkette aus allen Ankern gerissen, wie altes Metall
(Stahl schon verrostet) das für sich allein durch’s Meer treibt
allein für sich Ozean überqueren / kennenlernen was fernbleibt
Bauanleitung unbrauchbar, Handtuch ausgewaschen
Erinnerungslücken bauen Brücken in die Leere
wo zerfällt und zerfallend diese Genkette
zusammenhangslos, Teil von keinem und
keines Teiles ein wärmendes Nest / sein Heim,
heimatlos.“

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Yvonne Koval.

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freiVERS | Nora Schramm

wie du vor dem gebirge liegst

den finger auf dem käfer ziehst du
unter fetzen von wetter
vorbei hast den boden an der schläfe
kleben siehst flechten in lawinen

wachsen als wäre alles erde nur du
ein kleiner stummer mond als wäre
alles krater nur du eingerollt an seinem
tiefsten punkt klopft dein puls an glas

es überschlägt dich einfach
bergab kannst

nie aufhören. bis du aufhörst
mit fleischfühlern im licht zu
wühlen aufzuplatzen wie keimende
bohnen kannst du einfach nie

aufhören. den boden zu bewohnen

.

Nora Schramm

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Bereits veröffentlicht in Literarische Blätter, Juli 2020

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freiVERS | Michael Pietrucha

Großvater und der Herbst

gesät wird immer um die erzengel herum

und wie und wie
ist der weizen schon geerntet der roggen
die hecken die bäume sie müssen
ausgerissen werden
wer soll das machen
niemand kann das machen

der rücken der krümmt sich tief und tiefer
der atem der wird flacher

und wie und wie
ist der boden schon gepflügt
wo bleibt der regen

neunundsiebzig achtzig einundachtzig
mal den geburtstag gefeiert
zahlen sagen nicht viel nur
was dazwischen alles geschieht
bis die täglich suppe
zu salzig scharf fettig
ist
und fleisch und obst und gemüse
zu hart zu kauen
sind
zwei gläschen zu viel fürs herz

und wie und wie
wieso zeugen die enkel keine kinder nicht
während der großvater wie ein
chamäleon geht
das ihm der fernseher zeigte erklärte und
wieder erklärte
und er nicht mehr jeden satz aufschnappt
der herum schwirrt
bei tisch
wenn die suppe zu salzig scharf fettig
kalt ist

der herbst ist da
pflügen und säen
wer soll das machen
machen kannst du es nicht mehr
großvater

gesät wird immer um die erzengel herum

.

Michael Pietrucha

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freiVERS | Sofie Morin, Marion Tauschwitz, Jutta von Ochsenstein, Dorina Marlen Heller

Amerika zeigt: Flagge

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Sofie Morin (So), Marion Tauschwitz (Ma), Jutta von Ochsenstein (Ju), Dorina Marlen Heller (Do)

zu Frank Lloyd Wright „Composition in light”, Interpretation der amerikanischen Flagge,
Glasfenster für das Landhaus von Avery Coonley, Riverside, Illinois, um 1912,
(Glas, Zinkstege, bemalter Holzrahmen, 135,6 x 30,5cm)

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freiVERS | Dominic Röthlisberger

Nachts

Nachts werden die Babys von Ratten
gebissen
ist der Titel dieses Artikels über Flüchtlinge
auf Samos (da war ich auch schon mal, als ich noch ein unschuldiges
Kind war, in meinen Sommerferien).
Eine Hebamme erzählt von Frauen und Kindern,
die auf dem langen Weg zur Toilette vergewaltigt werden,
und der einzige Weg sich zu schützen, ist es,
einen Eimer zu kaufen.
Doch die Hebamme und andere Helfer
haben nun eine weitere Toilette gebaut,
eine, für 100 Menschen,
und die ist schmutzig und der Abfall
zieht Ratten an und die Ratten ziehen
Schlangen an, die seien nicht giftig,
immerhin,
aber die Ratten, die beißen eben nachts
die Babys und ich denke daran,
dass ich vor dem Einschlafen einfach keine
Nachrichten mehr lesen sollte.
Und all das hier (und noch mehr)
stand ziemlich genau so in diesem Artikel,
ich weiß,
das reicht nicht für ein Gedicht,
aber ich muss diesen Artikel irgendwie
loswerden,
und zu bestimmen, wo
die Zeile bricht,
gibt mir ein Gefühl der Kontrolle
und der Ordnung,
damit ich gleich gut schlafen kann,
während nachts an anderen Orten
Babys von Ratten gebissen werden.

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Dominic Röthlisberger

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freiVERS | Markus Kloimwieder

An die Nachgeborenen, reloaded

Brecht schreibt
Neunzehnneununddreissig:

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!

Auf FM4 ein commercial für die Kronenzeitung.
Später dann werden die Weltnachrichten
abgelassen.
Die Sportnachrichten sind Best of Breed.
Der Baum im Hof tropft
nach dem Regen.

Wir sind keine Zeitgenossen.
Keine Widersprüche, nur Ergänzungen.

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Markus Kloimwieder

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freiVERS | Dorina Marlen Heller & Sofie Morin

bachmann*brennt*immer

ein lyrischer Funkenflug zwischen Dorina Marlen Heller und Sofie Morin

 

*bachmann brennt*

sie brannte in der nummer 66
sie ist dort verglimmt wo
man den tiber schon riechen kann
jeden tag der boccanera in den
schwarzen schlund gestiegen
treppe rauf treppe runter
immer die wörter im kopf
die wörter im mund
immer im wettlauf mit der
verhassten gestundeten zeit
im traum wieder an den gittern gerüttelt
seine hände halten sie nicht
schon lange nicht mehr
morgens für den ersten rauchlungenzug
den kopf auf die via giulia gebeugt
ein paar häuser weiter der wutgesang delle donne
no alle isteriche nel movimento
no algioca di potere fra donne
sie nimmt noch einen zug
glühende asche auf den küchenboden
heute nur ein brandfleck
morgen
brennts.

.

Dorina Marlen Heller

.

.

denn eine brennt*immer

und längst ist nichts gelöscht
was nur so scheint
wie wir und wir und
unsere brandgefährlichen Reden
Das sind all unsere Todesarten
heute oder war es gestern
morgen bestimmt immerdar festgelegt
auf den HöllenschlundzwischenunserenBeinen
dunkle Erdteile wie Venus
die uns bewohnt uns insbesondere
wie Rausch und Sperrung im Mund
In einer Zeit von unregelmäßiger Bedeutung
schrieb sie und sie beschrieb sie
auf dem Spielfeld Sprache fraglos zumutbar
Erklär mir: Leben
Denn kein treffenderes Blatt schwamm je
einer Mündung entgegen
nicht eines darunter das nicht Bläue gewesen wäre
Und was wenn es nicht mehr reicht
aus dem Zimmer zu gehen
wenn das Ersticken bereits anfängt?
Denn irgendwann reicht es
Nicht mehr.

.

Sofie Morin

 

Ingeborg Bachmann verbrannte am 17. Oktober 1973 in ihrer Wohnung in Rom, in der Via Giulia Nr. 66.

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freiVERS | Verena Dolovai

love’s end

ich könnte verstummen
und du würdest es zulassen
weil du nicht mit mir sprichst

ich könnte weggehen
und du würdest es nicht merken
weil du nicht bei mir bist

ich könnte mich verwandeln
und du würdest mich nicht erkennen
weil du mich nicht ansiehst

ich könnte verschwinden
und du würdest mich nicht finden
weil du mich nicht suchst

 

Verena Dolovai

 

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freiVERS | Patrick Siebert

An der Regengrenze

Weißt du noch, du saßt am Fenster
Den Vorhang nur für das Licht geöffnet
Wenn es donnerte wie Bergriesen
Und der Sturm das Haus fortriss
Bis ans Ende der Welt
Und wie du gerechnet hast
wie lang es dauert heimzulaufen von dort

Und sie saß immer da
Hart an der Regengrenze
Das Spinnrad fest im Griff
Wie es sich drehte im Akkord
Sie saß da und atmete tief

Wie sie dir winkte zu kommen
Nur einen Moment oder zwei
Und wie sie es wieder schaffte
Unentwegt spinnend
Deinen Blick zu bannen auf den Faden
wie sich das Rauschen aus den Ohren zurückzog
Wie sie es wieder schaffte
Das Gewitter zu packen auf die Spule
Als Kratzen der Wolle auf Haut

 

Patrick Siebert

 

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