freiVERS | Milena Filipps

Der erste Regentropfen

Ein Tropfen traut sich
Ohne den Regen
Zu sinken, zu fallen, zu fliegen, zu schweigen
Ohne Rückweg in Sicht.

Asphalt, Erde oder Wiese
Unklares Ende einer Reise
Die überstürzt begann,
Als noch die Sonne schien.

Der Regen handelt nicht,
Der Regen denkt nicht nach,
Der Regen schmiedet keine Pläne,
Wenn er unsere streicht,
Steht hinter ihm der Zufall,
Der nichts weiter will,
Als eine Bewegung der Welt.

Der Tropfen, der ihm voran trat
Sah keine Zukunft, keine Gegenwart,
Fühlte keine Nähe des Sees,
Des Wassers, mit dem er sich vermischte.
Zu seinesgleichen blieb eine Distanz erhalten.
Wenn sie etwas spürten,
Dann spürten sie nur sich selbst.

Milena Filipps

 

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freiVERS | Sagal Comafai

Schutz vor dem Wetter

Wir sitzen auf Gartenstühlen
Hinter einem alten Kiosk mit dreckigen Solarzellen
Über unsere Suppen gebeugt

Du hast eine pinke, ich eine blaue Regenjacke an
Unsere Köpfe sind in Kapuzen gepackt
Nicht wegen Regen, sondern Kälte

Der Plastiksack auf dem Fahrradsattel des Kochs wird weggeweht
Ichs sehe auf, laufe dem Sack kurz hinterher
Doch er fliegt davon

Ich nehme einen anderen, ich weiss nicht mehr von wo
Und binde ihn um den Fahrradsattel
Dann setze ich mich wieder zu dir

Der Koch läuft vom öffentlichen WC
An uns vorbei
Und zurück in den Kiosk

Sagal Comafai

 

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freiVERS | Enno Ahrens

Mit ihm kam die Sonne

in die schattige Einkaufszone
sommers überstrahlte er
die matten Gesichter
der Passanten mit seinem
unermesslichen Lächeln

unangemessen meinten einige
Es gab keinen vernünftigen Grund
derart glücklich zu sein
zu arglos wäre so einer
brächte es fertig übers Wasser
laufen zu wollen und würde
selbst beim Absaufen noch lächeln

Man sperrte ihn weg
in Sicherheitsverwahrung
drei glanzlose Sommer
erlebte die Einkaufszone

Dann sah ich ihn wieder
an seinem alten Platz hocken

hatte ihn fast übersehen
im Heer der Passanten mit
seiner glanzlosen Miene

.

Enno Ahrens

 

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freiVERS | Dorina Marlen Heller

hymne

(con dolore)

land der berge
du hast mich gehenlassen
meine heimat dein verlust
zum abschied auf einen donauwalzer
durch flugzeuglautsprecher

land der besessenen
wir gehen uns nicht aus
dem sinn
du riechst nach pferdeschweiß und wald
an schlechten tagen nach samtsitzen
und menschenschweiß

und immer wieder der staub
in der sonne im sonst dunklen kaffeehaus
unter fleckigen marmortischen
haben sich unsere knie berührt

land der besetzten
über den heldenplatz gehen wir
hand in hand
sie pfeifen dir nach
du lächelst

land der bedauerlichen
wir sind abgestürzt
und haben vergessen zwischenzuspeichern
unsere beziehung definiert sich
über ihre leerstellen

und immer wieder der staub
in der sonne

land der beklagenden
du schmeckst nach deinen jahrhunderten
lockst mich in deine ballsäle
wir drehen uns im tanz
linksherum rechtsherum

und immer wieder der staub

Dorina Marlen Heller

 

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freiVERS | Liza Wandermaler

Apokalyptische Zärtlichkeiten

Akrostichon

Als der weiße Riese seine Welt benannte,
Passten manche Wörter nicht ins Bilderbuch.
Oben schien der Mond wie eine Endkonstante,
Kernig trieb im Raum ein weites Sternentuch.
Alle seine Worte schwangen in der Ferne,
Lindenbäume hauchten und entstanden still,
Yachten fuhren senkrecht durch die Blaunachtsterne,
Papageien pflanzten grüne Silbenkerne,
Töne klangen gläsern, wie ein Weinglasspiel.
In der Luft verflossen Zeiten miteinander,
Säuselnd prophezeiten Stimmen von dem Tod.
Chaos war ein flinker Feuersalamander,
Harmoniegefasst und plötzlich durcheinander,
Endgültig verschwindend im Zinnoberrot.

 

Zögernd trat der Riese in die Welt und weinte.
Ärgerlich erblickte er am Horizont
Regnerische Worte, die sein Herz verneinte.
Tauend glitt vorbei und starb der letzte Mond.
Lange saß er einsam und erlebte wieder
Inseln seiner Worte in der leeren Welt.
Choreographien tanzten leise Lieder,
Hafensuchend flog der Klang im Schattenfeld,
Kalt verflogen Sterne. Doch der weiße Riese
Eilte hinterher und fing sie zärtlich ein.
In dem Nachtlichthimmel gibt es eine Wiese,
Tausend kleine Sterne bilden Bächleinkiese,
Endlos rauscht das All und weht die Sternenbrise.
Niemals wird der Riese wieder einsam sein.

 

Liza Wandermaler

 

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freiVERS | Christl Greller

fjord-fälle

kippt das wasser über die kanten zu tal,
bei glätte grünlich. aber zerschellt
weiß an steinen, stetig stürmend, strömend.
ob regen und prasselt: unbeirrt vorwärts in
volten, voluten.
über den gipfeln nebel wie dampf.
und stürzen vom berg
dünne fäden in weiß, senkrecht oft,
zwischen sonnenflecken,
scheinen wie weiße haare im tann, oder.
das wasserschwert eingeschnitten im fels, tiefe
rinne schwarz im gestein.
quell und schmelzwasser, gletschergeboren,
senkrecht zum fjord, oder.
schwarzklares strömen zwischen moosen. brocken
hineingewürfelt vom berg. und wallt
und aufkocht in weiß.
wasserstaub wolkt über stein.
zwischen schwarznassen felsen
schäumend,
rückwirbelnd und überschlägt sich, vielfach gebrochen.
sprühnebelfülle.

nass, verwittert, am rand
ein hölzernes kreuz und vermoost.

 

Aus ‚und fließt die zeit wie wasser wie wort‘, Edition Lex Liszt 12, Oberwart, 2019

 

Christl Greller

 

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freiVERS | Victoria Boldina / Vera Polozkova

Das sind schon wieder nicht wir

gewidmet der Rothaarigen

 

OK, gut, reden wir nicht mehr vom Sinn des Lebens, ab jetzt nie wieder von so was, nicht
Lieber davon, wie es in der Kellerkneipe mit Strobo-Licht nach klebrigem Sambuca und Tabak riecht
Am Freitag gibt es zig
Leute; Darunter schöne, betrunkene und nicht wir mit dir laufen heraus eine rauchen, er mit
Schuhen, sie auf Zehenspitzen, barfuß
In ihren Händen die Sandalette, derem Absatz sagen wir Tschüss
Er lacht so stark, dass er beinahe erstickt im Speichelfluss

Auch vom Weltaufbau kein Wort, denn das ist alles Vergeblichkeit, eine Niete
Erzähl mir mal davon, wie die Schönen und nicht wir in den Süden reisen und dort wohnen zur
Miete,
Wie alte Frauen Obstschalen für sie befüllen, ein Genuss für den Gaumen
Und dortige Taxifahrer sind große Gauner
Und erzähl mir, wie eine Dame im Hof ihre harte und steife Wäsche abhängt,
Mit Speisestärke gestärkt
Wie wenig brauchen sie, Liebling, für ihr Tagewerk

Erzähl mir mal davon, wie der, der was begriffen hat, vereinsamt
Davon, dass bei Sonnengebräunten die Lächeln knoblauchweiß sind,
Und davon, wie die erste Zigarette berauscht,
Wenn auf leeren Magen geraucht
Machen wir einen Plausch

Und reden davon, wie man Geliebte mit dickem schimmerndem Stoff durchtränkt
Und davon, worüber ein alter Mensch nachdenkt,
Wenn er auf die Glasscheibe im Bus haucht, die sich beschlägt
In Form einer Kopeke, was ihn bewegt
Vom Toten zu sprechen als ob es noch lebt

Die Schönen, nicht wir, küssen sich ins Ohrläppchen zum ersten Mal, schüchtern kopfdrehend
Sie singen Radiolieder mit, im Stau stehend
Sie begraben den Kater in einer Schuhkiste
Wie eine kalte Puppe in einer Klamotte
Sie nehmen den Hörer nicht ab an der Meeresküste,
Um nicht zu schnell atmend zu stottern die Mutter,-Alles-Ist-Gut-Worte;
Sie erfinden komische Namen für ihre künftigen Söhne
Sie sind viel zu wundervoll einfach
Für uns...die Schönen

Erzähl mir, Schatz, wie sie mit Schuhen zu ihm ins Bett kriecht
Und Viva Teresa von Jorge Amado liest, bricht
Fast in Tränen aus, verdreht aber ihre Augen
Erzähl mir davon, wie gut verschiedene Mittel zum Sich-Töten taugen,
Um wenigstens was zu brauchen

Erzähl mir wie er eine Fake-Brille trägt, um schön auszusehen,
Um der Kassiererin,
Wächterin, Sekretärin den Kopf zu verdrehen,
Doch wenn er beim Mittagessen mit Freunden sie wieder abnimmt,
Sieht er aus wie ein Siebzehnjähriger, der spinnt

Erzähl mir vom Feuerwerk über dem Meeresspiegel im Sommer
Euer einziges gemeinsames Bild habt ihr unscharf bekommen
Warum? Eine einzige SMS wird zum Epigraph vieler Jahre Erniedrigung;
Zähneknirschen vor Wut gleicht dem Zerschmettern von Diamanten zu feinem Staub, und statt
Minderung der Gefühle übertreiben wir wild,
Wo man fröhliche Gleichgültigkeit der Nicht-Mehr-Liebenden sehen will

Warum haben alle Besserwisser fettige oder klebrige Finger
Warum führt man Gespräche über alle mögliche Dinge
Außer zu allerwichtigsten Themen
Warum lässt sich kein Schmerz weder zurücknehmen
Noch rechtfertigen dadurch, dass wir ihn ansingen

Erzähl mir, wie die, die nichts mitzuteilen haben, Partys mögen, wo viele Journalisten eingeladen
All die Schauspieler,
Favoriten,
Bummelanten
Stress zu beklagen,
Umzugehen mit Fragen,
Zu beobachten, wie sich deine Idole ins verfaulte Holz verwandeln
Erzähl mir ehrlich, wie wir so gehandelt
Haben, dass wir, einst so schön, jetzt das Gesicht verziehen
Warum sind wir böse, alte Ziegen…
Oder lieber davon erzählen,
Wie die da an der Felsenküste sitzen und sich umarmen,

Haben sandige Hände,
Sie entscheiden, wer sich zuerst diese wäscht und herabsteigt,
Die Angler nach einem Messer zu fragen, um die Melone und die Ananas zu schneiden
Sie riechen nach Nelke oder Anis –
Wie sehr sich das jetzt von uns beiden
Unterscheiden
Ließ

 

aus dem Russischen von

Victoria Boldina

 


 

Снова не мы

ладно, ладно, давай не о смысле жизни, больше вообще ни о чем таком
лучше вот о том, как в подвальном баре со стробоскопом под потолком пахнет липкой самбукой и табаком
в пятницу народу всегда битком
и красивые, пьяные и не мы выбегают курить, он в ботинках, она на цыпочках, босиком
у нее в руке босоножка со сломанным каблуком
он хохочет так, что едва не давится кадыком

черт с ним, с мироустройством, все это бессилие и гнилье
расскажи мне о том, как красивые и не мы приезжают на юг, снимают себе жилье,
как старухи передают ему миски с фруктами для нее
и какое таксисты бессовестное жулье
и как тетка снимает у них во дворе с веревки свое негнущееся белье,
деревянное от крахмала
как немного им нужно, счастье мое
как мало

расскажи мне о том, как постигший важное – одинок
как у загорелых улыбки белые, как чеснок,
и про то, как первая сигарета сбивает с ног,
если ее выкурить натощак
говори со мной о простых вещах

как пропитывают влюбленных густым мерцающим веществом
и как старики хотят продышать себе пятачок в одиночестве,
как в заиндевевшем стекле автобуса,
протереть его рукавом,
говоря о мертвом как о живом

как красивые и не мы в первый раз целуют друг друга в мочки, несмелы, робки
как они подпевают радио, стоя в пробке
как несут хоронить кота в обувной коробке
как холодную куклу, в тряпке
как на юге у них звонит, а они не снимают трубки,
чтобы не говорить, тяжело дыша, «мама, все в порядке»;
как они называют будущих сыновей всякими идиотскими именами
слишком чудесные и простые,
чтоб оказаться нами

расскажи мне, мой свет, как она забирается прямо в туфлях к нему в кровать
и читает «терезу батисту, уставшую воевать»
и закатывает глаза, чтоб не зареветь
и как люди любят себя по-всякому убивать,
чтобы не мертветь

расскажи мне о том, как он носит очки без диоптрий, чтобы казаться старше,
чтобы нравиться билетёрше,
вахтёрше,
папиной секретарше,
но когда садится обедать с друзьями и предается сплетням,
он снимает их, становясь почти семнадцатилетним

расскажи мне о том, как летние фейерверки над морем вспыхивают, потрескивая
почему та одна фотография, где вы вместе, всегда нерезкая
как одна смс делается эпиграфом
долгих лет унижения; как от злости челюсти стискиваются так, словно ты алмазы в мелкую пыль дробишь ими
почему мы всегда чудовищно переигрываем,
когда нужно казаться всем остальным счастливыми,
разлюбившими

почему у всех, кто указывает нам место, пальцы вечно в слюне и сале
почему с нами говорят на любые темы,
кроме самых насущных тем
почему никакая боль все равно не оправдывается тем,
как мы точно о ней когда-нибудь написали

расскажи мне, как те, кому нечего сообщить, любят вечеринки, где много прессы
все эти актрисы
метрессы
праздные мудотрясы
жаловаться на стрессы,
решать вопросы,
наблюдать за тем, как твои кумиры обращаются в человеческую труху
расскажи мне как на духу
почему к красивым когда-то нам приросла презрительная гримаса
почему мы куски бессонного злого мяса
или лучше о тех, у мыса

вот они сидят у самого моря в обнимку,
ладони у них в песке,
и они решают, кому идти руки мыть и спускаться вниз
просить ножик у рыбаков, чтоб порезать дыню и ананас
даже пахнут они – гвоздика или анис –
совершенно не нами
значительно лучше нас

 

Vera Polozkova

 

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freiVERS | Martin Gericke

alter Spielplatz am Meer

alter Spielplatz am Meer,
verwuchert vom Moos
und der Gischt, umspült
von den Scherben, den
modrigen Schrauben und
kleinem Geäst. Der glitschige
Sand, zerfließt zwischen den
Zehen wie Brei, versinkt in
den weicheren Schichten,
barfuß pieksendes Schlendern,
auf Muscheln und Kiesel, wie
abgeriebenes Schleifpapier und
federndes Köcheln unter den
Fersen, wie waberndes Treibgut,
wie Wandern am Meer.
Und vor uns ein leergelaufener
Turnschuh, brüchiges Leder in
Falten, vergraben im Burghof
der Krebse, Geflutetes, Quietschen,
im Wind, die Scharniere, hinter
der Bucht, die verrostete Schaukel,
blättrige Haut an den Stangen, die
Kette verwildert, mit ausgekugelten
Armen und hängendem Kopf.
Wir kehrten zurück, an den Strand,
unsern Ort des Vergessens, ans Meer.

 

Martin Gericke

 

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freiVERS | Sarah Claire Wray

mutter

dir zu ehren
wie du
in der stille
der kühlen nacht
gekrümmter rücken
beine
übereinander geschlagen
eine zigarette
jeden Abend
am offenen fenster
rauche ich

 

Sarah Claire Wray

 

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freiTEXT | Tara Meister

Was bleiben

im grünen bett der hügel, darauf ein Mahagonitisch zum abendmahl gedeckt zwei stühle und ringsumher wird gierig das abendlicht verschluckt vom blättermeer, der Dschungel wächst
einander gegenüber sitzen am mahagonitisch Vater und sohn, der Vater deckt und stellt und
richtet, bis alles ist wie er es will und es sein soll und der sohn folgt mit blicken den bewegungen
versucht sie sich einzuprägen, im kopf nachzuahmen, er weiß, der Vater sieht den Dschungel nicht
und er will Vater sein, der sohn,
und nicht sehen
im abendlicht glänzt das silberbesteck, der Dschungel nicht
aber er raunt, wispert und während die augen den Vater sehen hört der sohn wie sich die bäume räkeln feuchte pflanzenarme strecken
ein rascheln von auf laub tappenden tatzen
der blick auf das dickicht ist verborgen von den schultern des Vaters und er wagt nicht, der sohn
wagt nicht sich zur seite zu lehnen, um daran vorbei zu sehen, blickt auf den Vater
die teller, den krug und hört dabei wie der Dschungel wächst und näher kommt
ein vogel schreit, er zuckt zusammen der Vater mahnt mit strengem blick
der sohn errötet beschämt, erregt
tatzen kratzen irgendwo
der Vater nimmt den krug, ein kleiner wasserfall, der Vater fängt ihn mit den gläsern auf
kein einziger tropfen schafft es über den rand
dämmerung über dem hügel, noch ist es nicht beinahenacht, zwei vögel schreien
ein letzter prüfender blick des Vaters über den gedeckten tisch, gewissenhaft
und der sohn schaudert als wäre er selbst das messer über das gerichtet wird, ob es richtig liegt
die hände auf dem tisch versucht der sohn sich daran festzuhalten aber es sind nur hände
an sein ohr dringen leise lockrufe aus dem dickicht, singende vögel obszöne düfte
die aus dem Dschungel gekrochen kommen, auf den hügel zu
lassen den sohn die blumen des Dschungels sehen, die farben haben die zu viel sind
grell und voll und einfach nur farbe zu sein scheinen, gar nicht mehr blumen
und zwischen ihnen rennen allerlei tiere, die auch bunt sind, federn und fell
alles rennt im Dschungel der wächst, der sohn sitzt, rutscht auf dem großen stuhl hin und her
um seinen platz zu finden
und der Vater faltet die hände, drei vögel schreien in den wipfeln ein rascheln
der sohn versucht die blumen nicht zu sehen, sucht ein anderes rascheln
das der stoffserviette des vaters, aufgefaltet, weiß auf dem schoß
auf dem der sohn sich jetzt sitzen sieht, das kind und er denkt, dass man von dort keine bäume sieht
weil der kopf nicht über den mahagonitisch ragt
jetzt ist der sohn zu groß für den rand des tisches oder der tisch zu niedrig
er hört wie sich die baumriesen strecken, schamlos dem himmel entgegen
aber noch einmal wirkt auch der Vater groß im dämmerlicht, den Dschungel im rücken
und sein schatten fällt lang
sie essen langsam kalt werdendes wild, im dickicht tanzen die vögel federkleider knistern
der sohn denkt daran, dass einmal in einen apfel gebissen wurde
und danach wollte man nicht mehr nackt sein
und nun, wer war nun nackter? der Vater in seinen kleidern oder die vögel des Dschungels
die ihre bunten federn trugen um zu beeindrucken, sich zu behaupten
der sohn isst das fleisch, das in seinem mund bereits zu den früchten des Dschungels wird
die äste der bäume wachsen, strecken sich weit, bis die ersten blätter den sohn im nacken kitzeln
auf der stirn des Vaters eine einzelne schweißperle die hinabrinnt an der schläfe über die wange
aber keine träne ist, denn der Vater will den Dschungel nicht sehen, den Dschungel der wächst
so essen sie ein letztes mal zu abend
den feuchten händen des sohnes
immer wieder drohen ihnen messer und gabel zu entgleiten
der Dschungel wächst neue pflanzen drängen sich durch den boden jetzt ist es beinahenacht
neue tieren bevölkern das unterholz, die teller sind leer
und wie nun die dunkelheit kommt, gehen alle scheinwerfer an im Dschungel
das neonlicht stürzt sich durch die blätterdecke und ist dabei so hell
dass der Vater die augen schließt und da erhebt sich der sohn und weint, weil er wünschte
der Vater hätte den Dschungel wirklich nie gesehen

 

Tara Meister

 

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