20 | Harald Brier

Auf den Wassern

Der auf den Wassern reist
ist heimatlos im Grund
und voller Sehnsucht

Tief im Blau zuhause
und blind und mutig,
zum Fliegen noch zu stark

Seine Füße
zu zart für harten Fels
Sein Herz
verloren hinter dem lichten Horizont
Seine Augen
gerichtet auf die weiße Wolke

Er setzt Schritt vor Schritt
auf seinem Weg
zum Himmel

.

Harald Brier

.

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
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18 | Sarah Rinderer

fern-orten

schläfst du?
frage ich nachts
das displayleuchten

tagsüber
stillelos
schuh an fastinselspitze
höre ich
            mit den steinen auf

fern-orte
fingernagelgroße schiffe
im horizontbereich

gefrorener mehl
             schnee staub
meersalzschuppen
auf der haut

auf dem gischtrauen verputz
des leuchtturms
von kindern gemalte tiere

eine möwe
trägt ein krokodil
fünfzehn seemeilen in die weite

.

Sarah Rinderer

.

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17 | Dillen Pauli Niedert

Südhalbkugeltag

Die Kirche brannte nieder, aber
ohne Schneespur fand ich eh nicht
zum Gebet. Draußen hingen die Kugeln
im Plastik. Es schneit nicht
in M. an Weihnachten
und wenn es brennt, brennt
alles, zu heiß
für Kerzen in Bäumen, Palmen, Kirchen.

Seit Tagen presste ich die Zähne
zusammen, nur zusammen
liefen andere Tourist*innen
um mein Bett
und ich stand abends alleine auf,
um zu singen mit A.
und mit meinem Akzent, der allen
irgendwas sagte außer mir. Wir redeten
fast nie, das Wörterbuch
machte peinliche Längen.

Schnee rieselte aus dem Telefon
und aus dem Paket aus dem
Tannenwälderland. Ich streute
ihn aufs Festessen einer fremden Familie,
saß zwischen ihnen als Puppe, damit
A. nicht ohne Freundin sitzen musste
und ich nicht ohne Familie.

Am Bahnsteig später
ein unwahres see ya. Ein Pinguin
winkte am Strand,
ich fragte, wieso ein Pinguin
nach M. gehen würde an Weihnachten.
Und A. fragte, ob es wirklich
schneien würde an Weihnachten
im Tannenwälderland.

.

Dillen Pauli Niedert

.

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15 | Valerie Zichy

hast dich /
davongestohlen /
schleichende finger / zitternder mund /
hast dein lächeln zerschnitten /
die schnipsel auf das fensterbrett gelegt /
abschiedsbriefe mit zähnen aus papier /
davongeflüstert / davongeweht /
eine stille die sich die finger bricht /
im türspalt /
eine stille die schreit / schreit / schreit /
jemand beißt sich die zunge /
ab /
du bleibst /
trotzdem /
anderswo /

.

Valerie Zichy

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14 | Elia Aubry

Wolken, fett wie Kühe…

Der Ausgangspunkt sei gleichgültig, man kehre ohnehin zu ihm zurück, las ein Schreibender in einem wichtigen Buch, Kopfhörer in den Ohren, Musik und umso mehr die Frage: wie beginnen?

Vielleicht mit Gleichgültigkeit… ja.

Etwa so als wirkten die verschiedensten Kräfte in demselben Raum, ohne sich gegenseitig zur Veränderung ihres Zustandes zu veranlassen.

Etwa so wie hundert Luftballons in einem grossen Raum unbewegt daliegen, bis jemand den Raum betritt, um die Luft, die das Einzige ist, was die Ballons voneinander trennt, durch seine blosse Anwesenheit zu verdrängen, dass alles in Bewegung gerät.

Zu Beginn ist also alles gleich, gleich gültig.

Die Zeit.
Der Raum.
Seine Höhe und Breite.
Seine Bewegung.
Alles einerlei.
Auch die Aussicht, vorbeiziehend, die Frau, die ihr nachschaut, den Blick erneut ansetzt und...
Überhaupt der Inhalt.
Der Kellner durch den Raum schauend.
Die Schaffnerin, ihn grüssend.
Das Bier.
Der Wein.
Die Gäste.
Ihre Geschichten.
Heute.
Morgen.
Gestern.
Und die Durchsage: Nächster Halt...
Alles gleich, alles gleich unwichtig.
Alles bedeutsam.

Und es ist auch gleich, ob ich sage: Es gibt Augenblicke, da liebe ich meine Entschlossenheit oder meine Entschlossenheit wird zeitweilig von mir geliebt.

Die meiste Zeit aber verachte ich sie und um sie zu erschöpfen, gebe ich mich der Gleichgültigkeit hin, die mich in eine neutrale Mitte zwischen Gegensätzlichem befördert, die meine Aufmerksamkeit befähigt, eine andere Wahl zu treffen als jene auf die sich ohnehin alles zubewegt.

Oder:

Ich entnehme meiner gewölbten Hand eines von sieben zusammengeknüllten Papierchen, öffne es, nehme die darauf stehende Zahl zur Kenntnis, setze mich in Bewegung, betrete das Perron mit ebendieser Nummer, sehe einen einfahrenden Zug, der zum Stehen kommt, betrete ihn und stehle mich, von einer auf nichts zielende Lust beschlichen, davon.

Und dann?

Dann setzte sich der Zug in Bewegung.
Und der Kellner schaute immer noch durch den Raum.
Und die Frau setzte ihren Blick auf ein weiteres an.
Und die Gäste tranken immer noch Wein und Bier.
Und die Schaffnerin.
Und Morgen.
Und Gestern.
Und...

Gleichgültigkeit also?

Oder der Reisende, der eben den Zug bestiegen hatte, sich mit dem Rücken zur Wand ans Fenster setzte, um das Ganze zu sehen (ja immer das Ganze) ist einer, der von sich selber keine Ahnung hat und diese Ahnungslosigkeit anhand der Dinge, die er betrachtet rechtfertigen möchte, indem er allem die gleiche Bedeutung beimisst.

Doch irgendwann wird immer ein Urteil gefällt.
Über alles.
Und alle.
Zumindest im Traum hatte der Reisende die gleiche Landschaft oder deren stellvertretendes Abbild, das sich nun gemächlich, beinahe schadenfroh an ihm vorbeischob, als hässlich empfunden.

Er bestellt ein Bier.
Und ein Apéro Plättli für vierzehnfrankenpunktvierzig.
Verschlingt es in folgender Reihenfolge:

  1. Grüne Olive
  2. Salametti
  3. Grüne Olive
  4. Sprinzwürfel
  5. Sprinzwürfel
  6. Salametti

Und dann,
ja dann,
endlich und plötzlich, während er (der Schreibende) diese Zeilen schreibt, ragt in die Lücke zwischen seinem Kopf und dem Schreibheft das eingefallene Gesicht einer alten Frau, die Gesprochenes richtungslos in den Raum wirft. Ja, wirklich, selbst jetzt, beim Schreiben von: „Ja, wirklich, selbst jetzt, beim Schreiben von:", dringen, wenn der Schreibende den Kopf aus der Senke seines Schreibheftes in die Horizontale legt, die sprachlichen Willkürlichkeiten der noch halbwegs funktionierenden Wahnsinnigen ungewollt in sein Hörapparat und alles was daran hängt.

Unweit daneben sitzen zwei weitere Mitmenschen, die ebenfalls in einer unverständlichen Sprache plaudern, eine fremde Sprache – Lautgespräche also, die Absurdität des Übersetzungsprozesses: Kopf-Stimmbänder-Luft-Kopf wunderbar verdeutlichend.
(Wie gerne würde ich (also der Schreibende) meine (seine) Muttersprache zeitweilig nicht verstehen.)

Der Schreibende muss schmunzeln, als die Alte erneut Sprache ausstösst und ihre Augen sich dabei unmöglich verdrehen.
Die Alte bemerkt und bekundet, das Gesicht verzerrend, ihren Überbiss ostentativ hochziehend mit nun gespitzten Augen eine ungewollte Sympathie.

Vorausweisend bedeckt der Schreibende seine Augen mit einer Sonnenbrille, worauf die Lippen der Wahnsinnigen der Schwerkraft anheimfallen und sich nach unten verkrümmen.

Der Schreibende schmunzelt nun noch stärker, senkt langsam die Sonnenbrille und streckt der Alten die Zunge heraus.

Die Alte lacht.

Wohlwollend.

Am linken Fenster zieht ein Kühlturm eines Kernkraftwerks vorbei, grauer Dampf ausspeiend, geradewegs Richtung Himmel, so als wolle eine Technologie, die Atome spalten kann, ihre Göttlichkeit markieren. In den gegenüberliegenden Fenstern spiegeln sich die Gäste.

Die Schaffnerin betritt erneut den Raum.

Sie findet die Frage blöd/ zu oft gestellt/ redundant/...
ob sie's nun lieber möge die Billets zu scannen als zu knipsen,
(wie früher).
Mit der 2019er Statistik über Personentodesunfälle versucht sie ab- oder umzulenken.
0.941 Menschen pro Tag,
gemeinjährlich,
(es soll vorkommen, dass sogar die Betreuer der ungefragt Verwickelten betreut werden müssen – dann nehme es kein Ende).

Und draussen:
Schoben Hügel Hügel
verschoben Berge
schoben Zacken
stiessen Zeiten
an den Rand

Und Wolken, fett wie Kühe bildeten eine Herde.

Manchmal kam dem Reisenden das Schreiben wie Schach spielen vor.
Das Schreiben verlangt eine gewisse Begabung im Vorausdenken und das Vorausdenken wiederum eine gebündelte Konzentration.
Und Schach spielen konnte er schlecht,
der Schreibende,
und überhaupt, auf was sich konzentrieren, wenn alles gleich gültig ist?
Wenn man nicht bereit ist mit sich selbst und seinem Urteilsvermögen mit zu machen, seinem inneren Auge zu folgen, wenn man sich resolut distanziert hat von jeglichen Vorstellungen, die direkt aus der eigenen Existenz aufsteigen.
Auf was seine Aufmerksamkeit hinsteuern, wenn man das dafür nötige Ruder mit einem breiten Grinsen über Bord geworfen hat?

Wohin also?

Ja, wohin mit ihm, dem Schreibenden,
dir und mir?

Die alte Frau lachte erneut.

Unterdessen sassen auch Kinder im sich bewegenden Raum. Ihnen wurde erklärt,
dass sie erst zuhause sein werden, wenn der grosse Zeiger den kleinen überholt haben wird.
SIE VERSTANDEN NICHT,
und hielten ihre Hände vor die Augen.
Einige forderten eine Geschichte.

Die alte Frau begann:

Es gab einmal Menschen die lebten in der Zwischen-Zeit,
zwischen Herbst und Winter,
zum Beispiel,
oder zwischen messbaren Anhaltspunkten.
Es gab einmal Ereignisse,
Gegenstände,
Personen,
die hatten keine messbaren Anhaltspunkte.
Es gab einmal Menschen, keine Personen. Es gab einmal Menschen, die hatten...

Die Alte versuchte die Menschlichkeit einzukreisen.
Es gelang ihr aber nicht.
Die Kinder VERSTANDEN IMMER NOCH NICHT
und schoben ihre Finger in die Ohren.

Der Schreibende blickte in den Horizont.
An der linken Seite wähnten sich vereinzelte Bergspitzen im ausgehenden Licht in Geborgenheit. Auf der rechten Seite zogen dunkelgraue Wolken in einer martialisch inszenierten Ankündigung ihres Stattfindens über die zitternde Erdkrümmung.
Auf die Blitze folgte ein ungeheuerlicher Donnerschlag – es sah sehr überzeugend aus.

Die Alte erzählte weiter.
Und die Gäste tranken weiter Bier und Wein.
Und der Raum.
Und die Geschichten.
Und Heute und Morgen.
Und der Schreibende schob seine Kopfhörer in die Ohren
und legte erneut Musik auf.
Für sich und dich
und mich.

.

Elia Aubry

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10 | Emma Joerges

jena : winter1

meine hände diesen winter sind
so rau wie deine katzen zunge

an kahlen bäumchen wachsen grippe viren
und der super gau

ich rede und rede und rede und
bis ich mir sprech blasen gelaufen habe
und mein broca gehirn areal wund ist

in den apokryphen
stehst du mir mit deinen glüh wein augen gegenüber
(mir wird klar : ibus helfen nicht gegen die
also bleibt mir nichts anderes übrig als
mich mit hoch pro sauer stoff zu betrinken
und zu hoffen dass ich verrückt werde

meinen kopf hänge ich in den weihnachts baum
(christmas vibes af)

.

Emma Joerges

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6 | Steve Strix

kinderweihnacht

 

in der mitte der strasse
im schein der strassenlaterne
sehe ich mich aus einem der
schmalen fenster sehen
ich stehe in der mitte der strasse
jemand hat mich mit bunter kreide
auf schwarzen asphalt gemalt
ich gehe
nicht mehr
nach oben
nach unten
nach vorne
oder zurück
über entfernte abgründe
die strasse ist leer
ich wohne hier nicht mehr
ein paar dinge bleiben
verlaufen in mir

.

Steve Strix

.

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freiVERS | Jakob Stoiber

sonnenkönige auf flammenden streitwägen (berge dersims in mir)

vor dem schönsten
urlaub:
ich komme um zu brennen
wer will mich aufhalten?

vor der zittrigsten
party
nacktes fleisch,
schaum und
linien zuhauf:
ich komme für den krieg
wer will mich aufhalten?

vor dem eintritt
in ein sonnenreich
das sich dreht
wie indische götter:
ich komme um zu sterben
wer will mich aufhalten?
hü!

.

Jakob Stoiber

.

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freiVERS | Alexander Rall

Alte Wege - Altes Land

ein paar altbekannte Wege
die ich gehe, der
jüdische Friedhof, den man nur
über eine Mauer erreicht, im Versteck
reicher Gärten, aus Stein
ein aufgeschlagenes Buch
Chiffren ausgewaschener Zeit

Spiele die nie zu Ende gespielt wurden
als Kind schlug ich den Tennisball
gegen die Wand mit kleinen Händen
gegen die Zeit - heute
lag er mitten im Herbst zwischen
gelb-roten Spuren, rau welk
abgespielt war sein Filz

alte Garagen offen ein Käfer
die Kotflügel abgefallen, rostig und halbtot
wie die Raupen und der Kran
im Stillstand des zukünftigen Bauens
da kommst du nicht mehr vor
in den neuen Geschichten
in lichten Fenstern, wie abgeschnitten
die Strassen - du brauchst nur
zu klingeln, alte Bekannte
sind immer noch da, verharren
grüßen und laden sich ein - wenn
du willst gehör ich dazu - rede
über den Match-Ball
den perfekten Volley, das
Stipendium im Ausland
das nächste Kind, den neuen Besitz, die
kranke Kasse ‚Anything goes‘
nicht weit das alte Land
Licht in den Bäumen
Gezwitscher in Gärten
faulendes Obst, Moor und Moos
massig im Schlaf

schau weiter in die Stille
blicklos das auftauchende Meer
eine Landschaft aus Dünen und Worten
gezeichnete Wege mit weichen
stampfenden Schritten im Sand
hinter geschlossenen
hellwach spiegelnden Augen
bis zum nächsten Zug
einatmen und aus

.

Alexander Rall

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freiVERS | Quentin Lennox McMahon

Strandspaziergang

Wir laufen am Strand und du hältst meine Hand
vor uns ist eine große Pfütze
"meine Beine sind zu kurz" sage ich mit gespieltem Trotz und du sagst
"nein, die Pfütze ist zu groß!"
vielleicht hast du recht, denke ich und gehe um die Pfütze herum, wir laufen weiter
und meine Gedanken fangen an zu spinnen
wenn meine Beine nicht zu kurz sind.. sondern die Pfütze zu groß
was wenn ich nicht zu klein bin, sondern das Regal zu hoch?
wenn ich nicht "zu gut für die Welt bin",
sondern die Welt zu böse, narzisstisch, kaputt?
wenn ich nicht zu bunt bin sondern der Rest zu trist und
wenn ich nicht zu träge bin sondern
die Erwartungen zu hart
"lehrjahre sind keine herrenjahre!"
schon klar
aber gefühlt nur einmal Lob im Jahr?
denn wenn ich alles geb' und auch das nicht genügt
wenn mein Bestes vom Besten nicht reicht
ist dann bei mir was falsch? oder vielleicht
bei denen ganz oben mit Glück und Ansehen
und ich mich nicht zusammenreißen und aufste'n
sondern sich was ganz anderes ändern muss
wir laufen zurück und ich lächle in mich rein
vielleicht reicht es ja doch ich selbst zu sein

.

Quentin Lennox McMahon

.

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