freiVERS | Lucia Baierl

8-Uhr Bus

Ein Bus gefüllt mit leeren Menschen fährt eine graue Straße hinab in eine bunte Welt
Die Dunkelheit von außen leuchtet innen im blau und gelb der Wolken hell
Schlafende Augen sind auf nichts gerichtet, das monotone Schweigen ist zu laut für ein Gespräch
Bewegt sich einer wird es übersehen,
kaum registriert, wenn einer fällt.

Kein Armbanduhrenticken weckt die Menschen, die müden Zeiger drehen sich nicht
die Zeit hat sie noch nicht eingeholt
sie wartet draußen vor dem Fenster.

Die Straße wird jetzt schmaler, die Türen springen auf und die Welt springt in den Bus
Sie schnappt sich Zwei oder Drei und frisst sie auf
dann schreit sie einmal laut durch die Lippen eines Motors oder einer Fahrradklingel,
dann sperrt der Bus sie wieder aus
die müden Augen zucken kaum.

Doch die Zeit hat sich hineingeschlichen und gelb besiegt das blau
und einer nach dem anderen flimmern die Menschen auf wie kleine Glühlampen
Denn die Straße ist zu Ende und der Bus verstirbt gemeinsam mit dem ersten Ticken der Zeit.
Er spuckt die Menschen auf die Straße und verblasst im Meer aus leeren Hüllen
Denn die Welt schreit hier noch immer und trübe Augen sind geblendet von grellen Farben

Sie blinzeln zweimal oder drei,
dann fangen sie an, sich zu bewegen,
während das grau von ihren Schultern tropft
wie Wachs von einer Kerze.

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Mosaik

Ich trage den Pullover meines Vaters
und denke, er weiß nicht, wer ich bin.
Er weiß nicht, dass ich in den Pullover passe
und dass ich weiß, wie man ihn richtig wäscht,
ohne dass die Wolle steif wird und anfängt zu kratzen.

Ich trage die Ohrringe meiner Mutter
und denke, sie weiß nicht, dass ich jetzt blond bin
und keine Angst mehr im Dunkeln habe
und dass ich mit ihrem Auto das Fahren gelernt habe.

Ich hänge ihr Portrait an meine Wand
und denke, ich weiß nicht mehr, wer sie ist
damals war sie Mama
Ich weiß, wie ihre Halsbeuge klingt,
und wie ihre Stimme quietscht
wenn sie Musicals singt

Heute ist sie meine Mutter
ich habe ihre Nase geerbt und ihre Pflanzen
ich fotografiere sie mit der Kamera meines Vaters
stelle das Bild auf seinen Schreibtisch
und denke, ich weiß nicht mehr, wer ich bin.

 

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Lucia Baierl

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