freiVERS | Sabine Rothemann
31. August 2025Literatur,LyrikfreiVERS,Sabine Rothemann
Irgendwo Irgendwohin
Wir sind da.
Hier sind wir.
Im Spiegel ein Anderer.
Andere.
Im Irgendwo. Dort.
Irgendwo gehen sie hin.
Irgendwo kommen sie an.
Nie jemals war jemand nirgendwo.
Ich sehe sie nirgends.
Nirgends sehe ich sie.
Nicht hier, nicht da.
Sie stehen vor Zäunen.
Sie warten.
Sie überwinden Stacheln und Mauern.
Sie sind drinnen.
Sie sind draußen.
Da und dort.
Zum Bleiben bereit,
bereit zum Laufen davon
Da und dort.
Im Spiegel ein Da von Irgendwo.
Das Dort ein Spiegel von einem Ort.
Irgendwohin gehen sie.
Irgendwo nebenan leben sie.
Nicht im Nirgendwo.
Auch nicht jemals.
Sie sind.
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freiTEXT | Julia Lehmann
29. August 2025Literatur,freiTEXTProsa,Julia Lehmann
das schlimmste ist durchschnitt
oder
das büro – phase 2
ich weiß nicht, wie das geht: zufrieden sein. oder zumindest zufrieden sein mit der eigenen unzufriedenheit. selbst das nicht. für mich gilt: überall nur nicht hier. und: alles nur nicht das. und eigentlich vermutlich auch das: alle nur nicht ich. irgendwas fehlt und ich weiß nicht was. ich liege im bett und denke, ich hab die beste zeit verpasst. wenn das leben so weiter geht, kann es so nicht weitergehen. wie kann ich vermeiden, dass ich so werde, wie ich nie werden wollte?
für mich gibt es nur eins: ganz oder gar nicht. alles oder nichts. und dazwischen ist einfach nichts. es gibt nur phase 1 oder phase 2. schwarz oder weiß. himmel oder hölle. oben oder unten. mein glas ist nie halbvoll und nie halbleer. ich habe entweder gar kein glas oder eins, das überläuft. das sind meine maßstäbe. wo ist das glas, das übersprudelt, frage ich, wenn keins vor mir steht. bitte nehmt mir das glas, bitte ich, wenn es am übersprudeln ist. ich will das, was ich nicht habe und habe ich es dann, will ich es auch nicht. brasch, du bist mein held. denn bleiben wollen wir, wo wir nie gewesen sind.
jetzt ist phase 2, aber ich will phase 1. bin ich phase 1, will ich phase 2. und dabei wäre wohl das beste phase 1 1/2.
jetzt ist büro. das ist für mich: menschen, die erwachsen spielen. menschen, die an ihren plätzen sitzen. menschen, die auf bildschirme starren, e-mails schreiben und telefonate führen. 9 to 5. aber immerhin: gleitzeit. das ist doch schon mal was, lasse ich mir sagen. ich nicke mit dem kopf und möchte lieber sagen: das ist doch alles nichts. die kolleg*innen warten auf den feierabend und füllen die zeit mit telkos und besprechungen. dabei nicht zu vergessen: das protokoll! das protokoll! der projektleiter erklärt: ab heute nur noch ergebnisprotokoll. verlaufsprotokoll führt nicht zum ziel. das sind die wahren entscheidungen. hier werden die wichtigen dinge bewegt, steine ins rollen gebracht und der umsturz des systems vorbereitet. mit den protokollen! was wäre die geschichte ohne ihre protokolle! was wären oktoberrevolution, französische revolution oder die kubanische revolution ohne ihre protokolle?! nichts. vermutlich hätte es sie nie gegeben. und ohne die obligatorische mittagspause um punkt 12, wäre che vermutlich nie auf kuba gelandet. keine revolution auf leeren magen. aus dem büro sieht die welt sowieso viel schöner aus. bitte vergiss nicht, meine blumen zu gießen! keine sorge, ich schreib mir das in meine agenda! die erste kopie in ordner 1. die zweite kopie in ordner 2. die dritte kopie in die rechnungsstelle. und danach alles in die exceltabelle einpflegen. kein problem! wird gemacht. hätte die sinnlosigkeit ein bild, wäre es das büro. hätte durchschnitt ein bild, wäre es das büro. hätte die monotonie ein bild, wäre es das büro. hätte die absurdität ein bild, wäre es das büro. wieviele bilder hat dieses büro! und morgen wieder: büro. und was ist, wenn die inspiration am abend kommt? keine chance. schlafenszeit. denn morgen um 9 ruft das büro. die inspiration muss für heute pause machen und in der warteschleife warten. aber morgen nach feierabend um punkt 5, da hole ich sie raus, die inspiration. wohl geplant in den terminkalender eingepasst. es tut mir leid, heute nach feierabend habe ich leider keine zeit. denn um diese zeit habe ich inspiration. bis spätestens 22 uhr. danach muss ich zeitung lesen und mich bettfertig machen. um 12 uhr dann der zapfenstreich. wo geht die zeit hin? wo habe ich sie verloren?
die familie ist erfreut. endlich eine richtige arbeit! ist doch gut: krankengeld, sozialversicherung und 30 tage urlaub. die tochter ist endlich angekommen. hat eine 1-zimmer-wohnung, keine bananenkisten, sondern ein richtiges bett, regale an den wänden und vor allem: struktur. ordnung muss sein und die findet sich bei ikea. es sieht schön aus, wenn es so wie bei allen anderen aussieht. ein bett, das in fast allen europäischen schlafzimmern steht. gläser, aus denen jede*r zweite bürger*in trinkt. billys, die die bücher tragen und blumen, die aus vasen ragen. so ist gut, so soll es sein. so ist das leben, ein einheitsbrei. frage nicht, wie es anders sein kann, wenn so, wie es ist, es bei fast allen ist. aber die kunst? du hast doch noch zeit! keine voll-, sondern teilzeit. montag und freitag hast du zeit für die kunst. das muss doch reichen. und wo kämen wir da hin, wenn keiner mehr arbeiten würde und alle nur noch kunst machen würden?! ja, wo kämen wir denn hin, wenn ich nicht mehr ins büro gehen würde. wenn mein platz am dienstag leer bleiben würde? wenn die telko ohne mich stattfinden würde? wenn ich keine protokolle schriebe? keiner mittagspause beiwohnen würde? wenn das telefon ins leere klingeln würde? die besprechung ohne meine meinung auskommen würde? wenn die korrektur ohne eine zweite korrektur verschickt werden müsste? wenn der feierabend ohne mich eingeleitet werden würde? und die stechuhr ohne meine zeiten rechnen würde? wo kämen wir dahin?
zur revolution.
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freiVERS | Mina Herz
24. August 2025Literatur,LyrikfreiVERS,Mina Herz
ich stehe fest
eine weide will
ich sein und
trauer tragen
ich stehe fest
nimm jedes
werkzeug
das du findest
häute mich
zeichne mich
entstelle mich
ich stehe fest
eine weide will
ich sein und
trauer tragen
jede wunde auf
meiner rinde
jeder dunkle saft
den du vergießt
jeder gebrochene ast
in deiner hand
alles
an zer
störung
bist du selbst
denn
ich
stehe
fest
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freiTEXT | Luise Barth
22. August 2025Literatur,freiTEXTProsa,Luise Barth
Happy Birthday
Am Tag nach meinem 22. Geburtstag wache ich mit Kopfschmerzen auf. Mühsam hieve ich mich aus dem Bett und besehe mir das Chaos in dem Raum, der von mir als Wohn-, Arbeits- und Abstellraum genutzt wird. Die leeren Flaschen und Chipsreste sind noch zu verkraften, ebenso wie die schlappen Luftballons und Luftschlangen. Aber ist das etwa ein Brandfleck auf meinem Sofapolster? Entnervt fahre ich mir übers Gesicht. Ich hatte doch extra darum gebeten, nicht in der Bude zu rauchen. Warum hatte ich das nicht mitbekommen? War ich echt so dicht gewesen? Ich werfe eine Aspirin in ein Glas Wasser und schaue ihr beim Sprudeln zu. Dann trinke ich dieses medizinische Gift, schmeiße mich aufs Sofa und warte darauf, dass der kleine Mann in meinem Kopf aufhört, mit dem Hammer gegen meine Schädeldecke zu klopfen. Währenddessen checke ich mein Handy. Die WhatsApp-Gruppe ist voll mit Videos und Bildern von gestern Abend. Ich, mit einer Partykrone, über den Kuchen gebeugt, während alles um mich herum brüllt: „I don’t know about you, but i'm feeling 22.“ Ich sehe nicht sehr fröhlich aus, finde ich, und das liegt nicht daran, dass ich eigentlich gar nicht so ein riesiger Taylor-Swift-Fan bin. Ich denke nicht, dass es den anderen aufgefallen ist, aber meine Augen glänzen verdächtig. Wenn es ihnen doch aufgefallen ist, halten sie es bestimmt für Freudentränen wegen der coolen Party, die sie für mich organisiert haben. Und ich habe mich natürlich auch gefreut, als es an meiner Tür klingelte und statt des erwarteten „Lieferando, eine Lieferung für sie“ plötzlich „Üüüüüüberraschung“ durch die Sprechanlage gebrüllt wurde. Eigentlich hatte ich mir den Abend mit einer Pizza, einem schönen Geburtstagsanruf von meinen Eltern und meiner besten Freundin und einem schnulzigen Liebesfilm à la Pretty Woman oder Dirty Dancing vorgestellt. Ich habe grundsätzlich nichts gegen Geburtstage. Im Gegenteil, ich liebe sie, vor allem als ich noch zu Hause wohnte, mein Papa das Haus mit Luftballons und Girlanden schmückte, meine Mama einen mehr oder weniger schönen Schmetterling aus Biskuitböden und Obst backte und ich vor Aufregung kaum schlafen konnte, weil ich nicht wusste, ob ich den batteriebetriebenen Hund oder das Einhorn mit den pinken Flügeln geschenkt bekomme. Als ich gestern früh aufwachte, hasste ich plötzlich mein 22 Jahre altes Gesicht im Spiegel. Nicht wegen der Zahl und auch nicht wegen meines Aussehens, sondern eher wegen des Gedankens, dass die 25 nicht mehr weit war, und dann die 30 und dann die 40 und dann… Naja, ich glaube, man versteht es. Dabei habe ich gar keine Angst vor dem Altern. Der Gedanke, irgendwann weißhaarig mit meinen Freundinnen am Tisch zu sitzen und dabei Tee mit Törtchen zu verzehren, gefällt mir. Was mich stört, ist, dass ich die 22 Jahre scheinbar nicht gut genug genutzt habe. Das vermittelt mir zumindest mein Handy. Ich habe Europa noch nie verlassen, keine abenteuerliche Backpacking-Tour gemacht oder ein Semester lang Cornetto und Cappuccino in Italien gefrühstückt. Ich hatte auch keinen „Hot-Girl-Summer“ oder -Winter oder generell irgendwas Hottes. Und jetzt, jetzt erscheint es mir aus irgendeinem, komplett sinnfreien Grund zu spät, noch irgendwas daran zu ändern, weil ich ja mit 40 Jahren wahrscheinlich eher keine Backpacking-Tour durch Asien mache und mir nur noch ein Jahr für ein Auslandssemester bleibt. Meine Oma würde jetzt sagen: „Eure Generation hat wirklich große Sorgen.“ Dabei würde sie lachen, weil sie und ihre Freunde damals in Trümmerhaufen spielen mussten und es zu Weihnachten eine Orange gab. Ja, meine Generation hat viele Möglichkeiten, aber vielleicht zu viele. Zu viele Möglichkeiten, zu viele Persönlichkeiten: Clean Girl, Boss Bitch, Moongirl, Sungirl, Slut, und mit achtzehn haben manche schon das erste Startup, den Modelvertrag oder die Million. Alle sind natürlich mega schlau, schlank und super sexy. Ja, kein Wunder, dass ich mich mit meinen 22 Jahren und meinem mittelmäßigen Bachelorstudium komplett unfähig fühle. Und während ich schwitzend meine Zeit in der Bibliothek verbracht habe, zeigt ein schlaues, schlankes und super sexy Girl auf meiner For You, wie sie „den Flug einfach gebucht hat“. Schließlich sollte man nicht immer nur überlegen, sondern einfach mal MACHEN. Aber davor: „Rennt zu DM.“ Und ich mache das auch, ich renne zu DM und kaufe diesen blöden Lippenstift, weil ich ihn mir leisten kann, das Flugticket für die viermonatige Workation aber nicht. Ich seufze, weil ich merke, dass meine Unterlippe wieder zu zittern beginnt. Prophylaktisch greife ich nach der Packung mit Taschentüchern auf dem Sofatisch, als eine neue Nachricht auf dem Bildschirm aufploppt. Sie ist von meiner Mama. Ein Bild von mir, vier Jahre alt, mit Zahnlücke und Geburtstagskrone. Sie schreibt: Papa und ich haben gerade die alten Fotoalben von dir angeschaut. „Wir sind so stolz auf dich, meine Große.“ Ich stehe auf, gehe zum Kühlschrank und hole mir ein restliches Stück Geburtstagstorte, schließe die Augen und stelle mir vor, sie wäre aus Biskuitteig und hätte die Form eines Schmetterlings.
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freiVERS | Marie Sophie Römer
17. August 2025Literatur,LyrikfreiVERS,Marie Sophie Römer
Bis das Vergehen bleibt
die hundejahre vergehen
und die hundejahre vergehen
und die hundejahre vergehen
bis das vergehen bleibt
special films
i’m going mentally ill
neoliberal hell
glee moments i'll still be thinking about when i'm 60
gaza death toll hits 37,900
donna tartt interview
tradwife
is the far right gay friendly now?
incel baiting
hopecore
obama is not my hero, i'm a socialist
die hundejahre vergehen
und die hundejahre vergehen
und die hundejahre vergehen
bis das vergehen bleibt
supreme court rules trump immune from prosecution
i'm everywhere i'm so julia
jacob elordi in saltburn
subtle ways my stepdad groomed me
hannah horvath being the voice of her generation
kamala is brat
how antisemetic are pro palestine protests
hot rodent boyfriend
die hundejahre vergehen
und die hundejahre vergehen
und die hundejahre vergehen
bis das vergehen bleibt
genz z too lazy to work
israel fears the very existence of palestine
how do you get pussy?
this election is so joever
ikea haul extreme edition
spongebob moments that were surprisingly communist
pussy from abortion ban
cringecore
pussy from 4b movement
donald trump is president
i'm so eepy
die hundejahre vergehen
und die hundejahre vergehen
und die hundejahre vergehen
bis das vergehen bleibt
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freiTEXT | Sean Keibel
15. August 2025Literatur,freiTEXTProsa,Sean Keibel
Die Regeln unseres Hauses
Die Regeln unseres Hauses landeten wie vom Himmel gefallen eines Tages einfach auf dem Tisch. Dort wurden sie dann ohne Umschweife ausgebreitet, wie man einen Fächer öffnet, und als vollendetes Regelwerk ohne Diskussion eingeführt. Zeit für eine Diskussion wäre zweifellos gewesen, auch in der Folgezeit für viele Diskussionen noch, man machte uns sogar das Angebot dazu, offerierte kleine Geschenke, bettelte uns schließlich geradezu auf Knien an – alles umsonst, wir konnten nichts mit den Regeln anfangen außer sie zu befolgen. Etwas anderes ließen sie nicht zu. Allein schon weil beim Lesen – wenige wagten sich an das Unterfangen alles durchzulesen, und wessen Augen durch die tausend Querverweise noch nicht nach links und rechts ausgeschlagen waren, der konnte sie fortan für nichts mehr benutzen und war als unbrauchbar gezeichnet für das Haus – weil beim Lesen schon die nächste, die übernächste Regel sich dreist hineinschob, schließlich eine oder mehr von einem ganz anderen Ort, allein schon deshalb blieb uns nichts anderes übrig als sie alle abzunicken.
Mancher Fremder, der kam, um Gast zu sein in unserem Haus, zeigte sich schockiert über unsere vollständige Einbindung ins Regelwerk, über den Grad unserer Aufopferung, und natürlich witterte er Ausbeutung, was er uns freilich verschwieg, um uns ein würdeloses Eingeständnis zu ersparen. Stattdessen wurde zu einer späten Stunde – wir lauschten in solch einem Fall – der Hausherr konfrontiert, der sich zur Überraschung noch jeden kritischen Gastes überaus verständig zeigte. Mit einem Ton der Dankbarkeit, wie wenn man nach jahrelangem Alleinstehen mit einem Problem endlich ein offenes Herz und Ohr gefunden hat, versicherte er dann seine eigene Unzufriedenheit mit der Lage, worauf der Gast beruhigt gehen konnte, denn er hatte seine Schuldigkeit getan.
Die Regeln griffen ineinander, und selbst wenn sie es nicht getan hätten, wären sie voneinander gerade einmal soweit entfernt gewesen wie Bruder und Schwester; aus dem gleichen Leib kamen sie, den wir natürlich nicht kannten, in den wir also keine Einsicht hatten, weshalb wir auf ihre Sinnhaftigkeit und Unaustauschbarkeit vertrauen mussten – das wiederum hatte der Hausherr nicht gern, doch beschwerte er sich nie bei uns, allzu bewusst war ihm das Zutun seines eigenen mangelnden Umgangs mit uns zu unserer Hilflosigkeit. In der Konsequenz all dessen wurden wir zu den fleißigsten Regelbefolgern überhaupt, denn der einfachste Umgang mit Regeln ist, sie zu befolgen. Schon beim leisesten Versuch, einmal zwei oder gar drei Regeln gedanklich zusammenzubringen, wurde uns schwindelig. Die Regeln des Geschirrspülens überschnitten sich mit den Regeln des Kücheputzens, dies über das Element des Fußbodens, der sowohl gewischt zu werden hatte als auch nass werden konnte beim Geschirrspülen; über denselben Fußboden überschnitten sich die Regeln des Kücheputzens mit denen des Dieleputzens; die überschnitten sich mit denen des Kohlenschaufelns und -lagerns, welches sich in der Kammer unter der Treppe abspielte; die mit denen des Auskratzens und Wiederbeladens der Feueröfen. Nur einer war verantwortlich für nur eine Aufgabe, die Regel saß an der Verbindungsstelle zweier Aufgaben, derer es pro Aufgabe einige gab, sodass ein Einzelner durchaus mehrere Regeln beherrschen, aber niemals mehr als eine auf einmal beherzigen musste. In der Aufgabe lag die völlige Verausgabung.
Daran hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert. Der Vorabend des Aufstands ist noch fern; werden wir auch einmal unseren Hausherrn stürzen, und so kommt es gewiss, wird doch keine Revolution daraus werden; schon sehe ich uns Kopf kratzend um das Regelwerk stehen, den Hausherrn im Ofen, wir allesamt unfähig, Justierungen daran vorzunehmen. Hätte man es uns nur nicht als Ganzes, als Fertiges vorgelegt – so aber kann man es nur ganz annehmen oder ganz verwerfen. Ist auch fast alles darin hervorragend gelungen und nur eine Regel missraten – das Werk ist entweder ganz geglückt oder ganz verdorben. Aber das müssen meine Brüder und Schwestern selber begreifen, wenn er da ist, der Moment, dass man bereit sein müsste, eine ganze Zivilisation zu verwerfen, wenn man nicht flicken kann. Die Regeln unseres Hauses werden bleiben, nicht solange der Hausherr, sondern solange das Haus bleibt.
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freiVERS | Christina König
10. August 2025Literatur,LyrikfreiVERS,Christina König
ich freu mich so für dich
die worte wachsen aus deinem mund wie
blumen in pink und senfgelb
sie krabbeln kriechen kitzeln über deine lippen
entfalten sich mit allem was sie
zur fortpflanzung brauchen
narbe griffel fruchtknoten
und hängen dir aus den mundwinkeln
und alle sagen schau wie hübsch
du streichst dir die haare zurück und die
efeuranken rascheln unter deinen fingern
du rupfst und zupfst und reißt sie aus und
machst ein extrakt daraus und
schmierst es über alle deine worte
wenn du es richtig gemacht hast dann
heilt es und
wenn nicht dann
ist es gift
aber nur für dich
knorrend kratzt du dir die adern auf und das
harz tropft wie hässlicher honig über deine haut
fängt die fremden triumphe ein und
sperrt sie in bernstein bevor sie
in deinen blutkreislauf dringen
dort trägst du sie wie schmuckstücke aus
prähistorischen zeiten und hoffst dass sie
brechen und bröckeln und
von deinem körper verschwinden bevor
jemand sieht dass sie
nicht dir gehören
die anderen wässern deine blüten bestäuben und
befruchten sie und
streuen die nächsten samen
ihr lachen liefert sonnenlicht
ihre worte atmen kohlendioxid und
die keimlinge winden sich um deine zunge
ich freu mich so für dich sagst du
und die nächsten blumen quetschen sich an deinen
zähnen vorbei
alpenveilchen und amaryllis
du duftest wie der garten eden
nach dem sündenfall
ranken schlängeln sich durch deine adern und ihre
dornen brechen aus dir heraus wie felsnadeln
schneiden dir waffen an die haut an denen du
dich selbst schneidest
alle bewundern deine blüten und du
bist das unkrautjäten müde das
düngen stutzen mulchen rechen
damit du nicht untergehst in deiner
blütenpracht und die
blätter dir nicht die lunge verstopfen
inzwischen erkennst du die fleischfressenden pflanzen hast
venusfliegenfalle und sonnenkraut identifziert und
reißt dir die wurzeln aus auch wenn sich
dann alles entzündet
deine adern schimmern grünlich durch die
verbrannte haut du kriegst
zu viel sonnenlicht ab aber deine
pflanzen wollen gedeihen
du verdeckst die bienenstiche mit
einem vorhang aus laub und
tupfst blut und eiter und pflanzensaft ab
aloe vera wächst dir noch nicht
die ränder der blüten rollen sich ein wie der
rote teppich nach der premiere
braun kräuselt sich das grün es
färbt sich braun und erbricht sich
vor deinen füßen
du gehst über blumenleichen und
hinterlässt welke fetzen
deine borken vertrocknen verblassen vereisen
es ist winter und du wirst
grau und kahl und
schließlich
stirbst du ab
deine knollen speichern nichts
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freiTEXT | Clemens Braun
8. August 2025Literatur,freiTEXTProsa,Clemens Braun
Halbzeit
Ich bin zu fünfzig Prozent in die Falle gelaufen, dachte ich, Jots Worte noch einmal wiederholend, die nicht nur ihre, nein, ursprünglich auch die Worte jenes Querulanten gewesen waren, der seit Jahren meine Familie, die Familie meines Onkels und somit eines berühmten österreichischen Dichters mit seinen unerwünschten Wortspenden und noch weniger erwünschten Bittgesuchen in strafrechtlich relevanter Weise zu belästigen pflegte, der aber tatsächlich, wie er bei seiner Einvernehmung, die einstweilige Verfügung gegen ihn betreffend, zu Protokoll gegeben hatte, zu fünfzig Prozent in die Falle gelaufen war. Seine in jeder Beziehung prekäre Lage, die natürlich auch Gesprächsthema auf der Familienfeier im Waldviertlerhof war, erinnerte mich an Jot, an ihre Verfassung als wir uns vergangenen Juni, mühevoll der Rube-Goldberg-Maschine der Deutschen Bahn entkommen, in einem winzigen bayerischen Kurort wiederfanden, um an einer wissenschaftlichen Tagung teilzunehmen.
Seitdem sie ihre Fünfzigprozentsstelle angetreten hatte, bei der er sich de facto um eine Hundertprozentstelle handelte, so wie alle de jure Fünfzigprozentsstellen de facto Hundertprozentstellen sind, hatte sich ihre ohnehin ins Katastrophische tendierende Weltanschauung nur verdüstert. Das Unglück, sagte sie, fange jeden Tag aufs neue in der Früh an, habe man Schlafstörungen, gebe es den Morgen, der die dunkle von der hellen, die insgeheime von der offiziellen Arbeitszeit trenne, ohnehin nur als soziales Ritual, bei dem man wohl oder übel mitspiele. Man wache auf, sagte sie, und finde sich seelisch wie geistig zerklüftet vor, mürbe, zusammenhangslos, bevor man langsam und unter Rückfällen der schmerzvollsten Art die nächste Bewusstseinsstufe ansteuere. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich begonnen hatte, Notiz von ihren Monologen zu nehmen, die immer stärker jenen philosophischen Schriften ähnelten, die Jot sich zur eigentlichen Lebensaufgabe gemacht hatte zu untersuchen und von denen sie mehr als einmal gesagt hatte, sie sollten ebenso gewürdigt und bewundert werden, wie man das Chamonix-Mont-Blanc-Tal oder ähnlich erhabene Gebirgslandschaften bewundert. Gerade weil sie diesen Vergleich selbst mehr als einmal angestellt hatte, war ich überrascht, wie gleichgültig sie die geradezu kitschige Alpenkulisse ließ, die sich vor dem Frühstückssalon des Kurhotels Höllrigel erstreckte. Ein einziges Frustfressen, murmelte ich Jot halblaut zu, die zwei Teller mit den dick bestrichenen Buttersemmeln und dem Schwarzwälder Schinken in den Händen, Jot, die zerklüftet über ihrem doppelten Espresso vor sich hin weste, und im Gegensatz zu mir, der unter den Verwerfungen des akademischen Arbeitslebens immer fülliger wurde, mit jedem neuen Tag dünner zu werden schien. Diese Gegenüberstellung, dachte ich, ließe sich beliebig fortsetzen, denn während ich immer ausgiebiger dem Alkohol zusprach, wurde sie beklemmend nüchtern, ich fing zu rauchen an, sie hörte mit dem Rauchen auf etc. Auf so unterschiedlichen Wegen näherten wir und unsere Symbolkörper uns seit geraumer Zeit, seit wir unser chronisch unterfinanziertes, im Grunde unter Selbstausbeutungsbedingungen betriebenes Langzeitprojekt zu stilometrischen Analysen begonnen hatten, einem Zustand der völligen Erschöpfung und Erniedrigung, aber zugleich: der Weltvergessenheit, glücklich nicht, aber ebensowenig traurig.
Der Körper, setzte ein Philologe mit morgendlichem Stück Schwarzwälderkirschtorte neben uns trocken an, der Körper brauche bis zu zwei Kilogramm reinen Zucker täglich, das bilde Blut, das Gemüse hingegen sei völlig verbleit und verstrahlt, gerade in sogenannten Mondjahren. Ganz zu schweigen von Jahren mit dreizehn Monden, schmunzelte die Salzburger Psychoanalytikerin, deren Anwesenheit ich jetzt erst vollends bemerkte; eine Anspielung, auf die hin der Philologe zwischen den gebleckten Zähnen Luft entweichen ließ und anmerkte, dass er tatsächlich im Besitz eines handschriftlichen Briefes von Rainer Werner Fassbinder an seinen Astrologen wäre und dass jener ja nur Ende Mai auf die Welt hätte kommen können, gar nicht weit von hier, dass ein Charakter wie Fassbinder ja ein geradezu klassischer Zwillingscharakter wäre. Von hier aus entspann sich ein Gespräch, das mit Unterbrechungen bis zur Mittagspause andauerte, und an dem Jot, die sich nicht für Astrologie, sehr wohl aber für Geistespathologien aller Couleur interessierte, rege Anteil nahm. In den geschlossenen Abteilungen, sagte sie zu mir auf dem Weg zur Sonnenterrasse im Halbstock, wo ich eine Zigarette rauchen und Jot den Wunsch unterdrücken würde, eine Zigarette zu rauchen, in den geschlossenen Abteilungen säßen ja Tausende von Leuten, die sozusagen eine Verrücktheit begangen haben, die nicht annähernd so verrückt sei wie die ihrige. In den geschlossenen Abteilungen würden Leute festgehalten, die nur einmal nicht Nein gesagt haben, wo sie Nein hätten sagen sollen, die einmal gelächelt haben, wo sie nicht lächeln hätten sollen, sagte Jot, das müsse man sich einmal vorstellen. In der Psychiatrie, fuhr sie fort, zeige sich unser eigenes Doppelbild, das Doppelbild von uns allen, nämlich verrückt zu erscheinen und es nicht zu sein, verrückt zu sein und nicht so zu erscheinen. Auch aus meinem Onkel hätte ebensogut ein berühmter Verrückter wie ein Dichter werden können, aber weil er in Wahrheit verrückt sei, wie ich bestätigte, erscheine er nicht so. Nein, in Wahrheit brauche mein Onkel den Querulanten, den Jot durch meine Erzählung zur Genüge kannte, wie der Polizist den Kriminellen brauche, ein unseliges Zwillingsgespann wie in diesem Meme der zwei aufeinander zeigenden Spidermen, in das ich Jot auf der Zugfahrt eingeweiht hatte.
Nicht zuletzt, schien es mir, dachte sie bei diesen Ausführungen an sich selbst, immerhin hatte man in dem Moment, als sie ihre quasi unkündbare Fünfzigprozentsstelle angetreten hatte, begonnen, über ihre Geistesverfassung zu munkeln, nur, weil sie es gewagt hatte, statt wie bisher zu allem Ja zu sagen, nur zur Hälfte der an sie herangetragenen Verpflichtungen Ja zu sagen, was logischerweise bedeutete, dass sie begonnen hatte, zur Hälfte Nein zu sagen. Aus der Fluchtlinie, die ihre Fünfzigprozentsstelle hätte bedeuten sollen, wurde eine Falltür, hatte man doch aus Jots aufflackernder Selbsterhaltung den Schluss gezogen, die Entfristung wäre ihr restlos zu Kopf gestiegen und zöge eine nachhaltige intellektuelle Verheerung mit sich. Jedes Dienstverhältnis sei auch ein Verhöhnungsverhältnis, sagte sie, wohl wissend, dass ich als Neffe eines berühmten österreichischen Dichters keineswegs arbeiten hätte müssen, mir keineswegs erniedrigende Schlupflöcher durch den universitären Mittelbau hätte bohren müssen. Unser gewissermaßen freigewähltes Unglück verband uns auf besondere Weise, verschwisterte uns, dachte ich später, den Waldviertlerhof verlassend, hatte Jot doch ihre nicht wenig erfolgreiche Künstlerkarriere aufgegeben, um in die akademische Halbwelt ein- und in dieser abzutauchen, um Luft ringend, bis man ihr den bleiernen Rettungsring der Entfristung um den Hals gelegt hatte.
Spätabends, als wir uns durch Wogen von Kölner Fußballhooligans, deren freundschaftlicher Rückenklopfer mir die halbe Luft aus dem asthenischen Brustkorb gepresst und in mir einmal mehr das Bedürfnis geweckt hatte, der verbrecherischen Tragikomödie der Menschheit ein Ende zu setzen, den Weg aus der Bierstube des Höllrigelschen Hotels bahnten, wo die Psychoanalytikerin wiederum meinem Onkel, von dem sie nicht wusste, dass es sich um meinen Onkel handelte, dem berühmten österreichischen Dichter jedenfalls attestiert hatte, in Wahrheit ein Kolonialdichter zu sein, der mit herrischem Blick die halbe Erdkugel abschreiten würde, fragte mich Jot, ob ich mir dieser, meiner Entscheidung bewusst wäre. Man suche sich die eigene Falle nicht zur Gänze aus, sagte sie, aber vielleicht zur Hälfte, als wollte sie mir an diesem Abend die Augen öffnen, als wollte sie mir ihrerseits einen letzten Rettungsring zuwerfen, mein halbes Leben läge ja noch vor mir, sagte sie. Wie gerne wollte ich ihr glauben, als ich mich anschickte, den Waldviertlerhof durch den Garten zu verlassen, an der vom Blitz gespaltenen Robinie vorbei, im Kopf noch die Geräusche und Formulierungen meines Onkels, die längst mein Neffenbewusstsein kolonisiert hatten, längst meine Geräusche und Formulierungen geworden waren, sein lautes Grüßgott etwa, das ich nicht weniger gewohnheitsmäßig als er bei Betreten eines Raumes mit ostentativer Höflichkeit in selbigen Raum hineinbellte. Auch das Familientreffen hatte ihm gehört, seine Stimme tönte weiter, den abwesenden Querulanten verwünschend, und die Gummiknödel schwer im Magen war mir, als füllte die riesige, geradezu orwellianische Visage meines Onkels mit seinen schwarzen Augen den Waldviertlerhofhof, drängte sich mir aus zwei der vier Ecken auf und zwänge mich hinaus, zwänge mich zur Flucht, hinaus auf die Schönbrunner Straße, stadteinwärts, in Richtung Universität.
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freiVERS | Christine Johanna Seidensticker
13. Juli 2025Literatur,LyrikfreiVERS,Christine Johanna Seidensticker
Heimat
Die Zeit sickert in das Land, sickert mitten in die brüchigen
Knochen. Jetzt markieren Herzschrittmacher
die Territorien, beschwören mit ihren elektrischen Impulsen
den Takt des Landes, stimulieren
das zu langsame Herz.
Als Kind wusstest du die Namen aller Tiere, kanntest
ihre geheimen Wege, ihr Einfluggebiet. Manchmal
warfst du den Nachbarshühnern Mutters geköpfte Regenwürmer
über den Zaun, schautest nach dem aufgeregten
Gackern, ihrem Flügelschlag. Jetzt meinst du, ihn in deinem Herz
zu spüren, in deinen flatterhaften Augen
beim Niederschlag. Abgründe
tun sich dir auf beim Schmieren des Brots, beim Lösen
eines Kreuzworträtsels. Die Seiten verblassen in deinen Händen.
Die Stube scheint immerzu kühl, die vielen Stühle, Tassen und Teller
braucht es nicht mehr, sie sind nunmehr Requisiten
deiner Einsamkeit. Ein kleines Gerät hält Kontakt zum Herz.
Christine Johanna Seidensticker
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freiTEXT | Ann-Christin Kumm
11. Juli 2025Literatur,freiTEXTProsa,Ann-Christin Kumm
pflanzen beneiden. schreiben gegen ohnmacht
ich nehme mir vor, mehr lyrik zu lesen, besonders morgens, es räumt mir den kopf auf. ich lese mary oliver. ich lese selma merbaum, regen als tränen.
selma merbaum wurde nur achtzehn jahre alt. von den nazis in ein zwangsarbeitslager verschleppt, starb sie 1942.
ich lese ihre biografie (marion tauschwitz: „selma merbaum. ich habe keine zeit gehabt zuende zu schreiben. biografie und gedichte.“) und erfahre, dass sie nach ihrem tod unter falschem namen erinnert wurde und wird, ihr wiki-eintrag führt den noch.
ich erfahre, dass sie sich um die kinder im lager kümmerte. sie ging mit ihnen muscheln suchen, steine und pflanzen. naturkundeunterricht am fluss. ein fluss, der am lager vorbeifloss, ein fluss, an dem sich die leichen zu stapeln begannen, die über die böschung geworfen wurden.
der schmale grat zwischen bewunderung und inspiration porn. zwischen aus der vergangenheit lernen und sich in den zeiten nicht mehr zurechtfinden.
merbaum schreibt:
„und wenn die gärten verlassen sind,
dann sind sie es nur für mich.“
ich lese katrin de vries, die ihren garten verwildern lässt („ein garten offenbart sich. erzählung von einem anderen leben“).
abgestorbene bäume werden von pilzen zersetzt. wilde stiefmütterchen wachsen unter dicken bohnen. ein rasen wird ungemäht zum wiesendickicht. ein prozess, durch den sie sowohl den garten als auch sich selbst zu verstehen beginnt. der mensch als eines von anderen tieren. sich selbst weniger wichtig nehmen. ich beneide de vries um das stück land, auf dem sie eine wiese wachsen lassen, auf dem sie sich in beobachtungen vertiefen kann ganz nach ihrem ermessen. niemand, die_der ihr da reinredet, weil grundbesitz. ich beneide sie, dabei – und ich blende jetzt materielle gründe aus, denn weder meine generation noch die nach mir kann sich mal eben häuser mit gärten leisten – finde ich eigenen grund und boden in diesen zeiten eine eher schlechte idee. ich möchte zumindest das gefühl haben, jederzeit gehen zu können, die zelte abbrechen, die brücken abbrennen. privilegien, all das. wenn ich gehen will, obwohl ich bleiben kann.
stichwort privileg: ich fahre ans meer, was ähnliche auswirkungen auf mich hat wie lyrik lesen am morgen. der kopf wird klarer, das gefühl, nichts ausrichten zu können und sinnlos vor mich hinzuvegetieren, wird kleiner.
es ist so ähnlich, wie unter dem sternenhimmel zu stehen und erleichtert zu sein über die eigene nichtigkeit, nur andersherum: in der natur komme ich mir weniger nichtig vor. eher wie teil von etwas großem. vielleicht ist das widersinnig.
meanwhile zu viele handlungsskizzen, zeilenanfänge und lose enden, ich weiß nicht wozu und wohin. welchen „ideenkeimen“ (patricia highsmith) mich zuwenden?
wenn ein text auf dem papier steht, aber nicht gelesen wird, ist er dann ein text?
ich rette einen silberfisch aus der badewanne. am nächsten tag sitzt they wieder darin, oder es ist ein anderer, der them extrem ähnlich sieht, was, sage ich, hoffst du in der badewanne zu finden. dabei weiß ich genau, dass es nicht die schuld der silberfische sein kann, wenn menschen silberfischtodesfallen in ihre badezimmer einbauen. ich bin mir nicht sicher, ob das schreiben über „zur urtümlichen insektenordnung der fischchen“ (wikipedia) gehörige mitbewohner_innen zu nature writing zählt. aber ich lerne nebenbei, dass sie auch zuckergast genannt werden. sie mögen kohlenhydrate. feel you, silberfischchen.
ich beneide sie, weil politische entwicklungen für sie keine rolle spielen. sollte es irgendwann keine küchen und badezimmer mehr geben, überleben sie auch unter steinen.
ich lese viel, aber anders als früher. ich lese zeitungen, onlineartikel und newsletter. ich lese bücher von hinten nach vorn oder nur in der mitte, um sie dann wegzulegen und ein anderes anzufangen. ich sammle wörter, denn winter is coming. ich lese thriller und essays und abhandlungen über toxische männlichkeitsbilder bei jane austen.
ich experimentiere mit genres und gattungen, lesend wie schreibend.
ich experimentiere mit textschnipseln auf bluesky. zu anfang vermisse ich instagram, das ich wegen METAs vorauseilenden gehorsams gegenüber trump verlassen habe. dann beginnt es mir besser zu gehen ohne instagram. ohne das beständige hin und her zwischen politischem und pseudo-apolitischem content – ich schreibe pseudo, weil auch das eine entscheidung und damit sehr politisch ist. ohne function follows bildästhetik. ohne hassinhalte, die mir der algorithmus ungewollt anbietet. ich fühle mich ein bisschen wie nach einer entgiftung.
eine freundin schreibt mir: für dich selbst zu sorgen ist ein akt der rebellion. ich schreibe ihr, dass ich in diesem jahr (stand märz) mehr nachrichten gelesen habe als in den jahren davor zusammengerechnet. aber meine informationsaufnahme ist gezielter geworden. bewusster. vieles lässt mich verzweifeln. manches macht mir hoffnung. ich fühle mich klein angesichts der weltlageTM. ich gehe auf eine solidarität-mit-der-ukraine-demo. ich überklebe naziaufkleber. ich reposte kritische kommentare von menschen, die mehr verstehen als ich. ich probiere bandenbildung. tropfen auf heiße steine.
dieser tage beneide ich nicht nur die zuckergäste und gartenbesitzerinnen, sondern auch die pflanzen, die sich immer wieder anpassen, die sich weiterentwickeln und dem klimawandel trotzen. über_lebenskunst. sie wachsen in lücken im mauerwerk, ihre resilienz ist unvergleichlich. ihre geduld auch: jahre und jahrzehnte verharren manche samenkörner im boden und warten. auf wärme. auf regen. auf bessere zeiten.
es tut mir gut, über pflanzen zu lesen. über pflanzen zu schreiben. fast so gut, wie die finger in die erde zu schieben und die wurzeln freizulegen zum vereinzeln in der pflanzenkinderstube.
eine pflanze braucht keine hoffnung, sie macht einfach weiter. das zumindest kann ich mir von ihr abschauen. weitermachen.
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