freiVERS | Maximilian Scheffold
es wird um ordnung gebeten. psalm.
bitte die sicherheitsbestimmungen befolgen.
nicht den rechten weg verlassen.
ich werde arbeitsschuhe benützen.
falsche gedanken sind fehlzündungen sind gefährlich.
ich werde einen schutzhelm benützen.
mundschutz ist unabdingbar für mundhygiene.
ich werde gerechte sprache benützen.
ihre meinung ist gefragt.
nehmen sie nichts mit.
wie auch wir am jeweiligen tag in alter tradition uns üben.
bitte anrufen.
einige kabel sind durchgeschlagen.
rufen sie bitte jetzt ihre gottheit an.
der mensch ist dem menschen mangel.
ihre meinung scheint gefragt.
leihmaschinen und zubehör sie sind beste kost für besten geschmack.
greifen sie zu.
ihre meinung scheint abgekommen zu sein.
nicht vom weg abkommen.
einübung in die mitte.
die arbeitsschuhe sind stets rein zu halten.
arbeit in die leere.
der geschmack ist stets zu putzen.
wir stehen für die hohe qualität des materials der beratung.
ihre meinung scheint uns zu gehören.
deine vision ist unsere lösung.
wir bitten dich erhöre uns.
ich werde eure gottheit benützen.
werbung mit allem was sie schätzen.
menschlich verständlich und praxisorientiert.
wir stehen für die hohe qualität der beratung durch werbung.
fehlzündungen erzeugen differenz.
ihre sprache scheint unsere meinung zu sein.
mundhygiene ist unabdingbar für den rechten weg.
ich habe an dem betrug mit teil.
es ist nur wichtig was wahr ist.
ich habe den betrug mit meiner sprache bezahlt.
die geschichte kann so oder auch anders erzählt werden.
ich weiß nicht wo mir der kopf steht.
wenn der haussegen schief hängt soll angemessenes werkzeug benützt werden.
wir stehen für die hohe qualität von leihmaschinen und zubehör.
ich werde gerechte gedanken benützen.
anarchie in schönster formstrenge folgt dem sturz in den abgrund der gleichheit.
deine kollaboration ist unsere lösung.
wir führen dich vertraue uns.
ich danke für die erfindung des verfahrens.
wie auch wir danken für die geschichte von der wahrheit.
stille wasser sind dreckig und brackig und kein fluss ist mehr möglich.
ich werde vielleicht meine augen benützen.
warnung lassen sie sich nicht durch das böse auge vom verkehrsgeschehen ablenken.
ich werde vielleicht meinen mund benützen.
ungerechtes sprechen schädigt zähne und zahnfleisch.
ich werde vielleicht mein denken benützen.
du hast probleme mensch.
das muster ist das muster.
du hast ein trauma mensch.
tiefe und oberfläche sind zugleich wahr.
da vor dem inneren auge liegt ein trauma mensch.
wir stehen für die hohe qualität der funktionellen formperfektion.
wert entwickelt sich im eigenen recht für sich.
beste werbung für besten geschmack.
die gesellschaft ist der gesellschaft hingeflüstert.
ich will die kraft benützen.
durch zerstörung steigt der wert.
ich will von dir die kraft benützen.
denken kann bei übermäßigem verzehr abführend wirken.
ich will die kraft die dir gehört benützen.
gesundheit beginnt im darm.
denn dein ist die kraft nicht länger mehr.
lachen ist sprengstoff ist sprengung.
ich werde die welt retten.
ja du wirst die welt retten.
wir sind heute für sie dienstbereit
denn wir stehen für die hohe qualität unserer beratung durch unsere gottheit.
ich werde aufrüsten in wirkmacht.
lachen ist anarchie in schönster formsprengung.
wie auch wir werden die ernsthaftigkeit pflegen mensch.
ich werde aus allen kriterien fallen.
die gesellschaft ist deutungsbedürftig wir haben einen formvorschlag.
wenn verständlich vorbehaltslose akzeptanz zur vermeidung.
ich werde meinen verstand sprengen.
das wesen ist nicht vom himmel gefallen.
ihre lösung ist unsere vision.
wir sprechen dich befolge uns.
ihr lachen scheint unsere sprache zu sein.
ich werde im kopf zu machen.
bitte anrufen ihre meinung interessiert uns.
einübung in die leere mitte ist traditionsarbeit auf und auf.
unsere gottheit ist ihre lösung.
wir zwingen dich gehöre uns.
der erbmangel ist dem menschen universum.
lassen sie uns ihn für sie ausbügeln.
der erste mangel ist lachen.
ich will ein lachen zünden.
ihre sprache scheint unser lachen zu sein.
bitte jetzt lächeln.
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freiTEXT | Pedro Zobel
Letzens in der Kneipe
Letztens in der Kneipe, nach dem schätzungsweise siebten oder achten Bier, einer Gruppe kichernder und gackernder Frauen, die an diesem Abend mit der mindestens genauso frechen wie originellen Idee, in den Spelunken der Stadt Schnäpse, Piccolöchen und Kondome aus einem Bauchladen heraus zu verkaufen, Junggesellinnenabschied feierten, erst ein flammendes Plädoyer für das unabhängige Denken gehalten, mich währenddessen nicht nur zum Rebellen, sondern zum absoluten Non-Konformisten hochstilisiert und dabei genauso wahl- wie zusammenhangslos mit Begriffen wie „Repressive Toleranz“, „Verblendungszusammenhang“ und „Negative Dialektik“ um mich geschmissen.
Trotz dieses extrovertierten und vom Alkohol befeuerten Gockelgehabes dann doch noch irgendwann die verdrehten Augen, die gelangweilten, irritierten oder schlicht angsterfüllten Blicke und den für mich empfundenen Fremdscham meines Auditoriums realisiert und infolgedessen, langsam aber sicher, geschnallt, dass sich unsere Lebensrealitäten wahrscheinlich doch ein klein wenig zu sehr voneinander unterscheiden, als dass ich in diesem Rahmen hier auch nur irgendetwas reißen könnte.
Somit also kein Preaching to the converted, sondern eher Phrasendrescherei to the confused.
Doch anstatt meine Performance genau an diesem Punkt der kurzen Einsicht abzubrechen, die Klappe zu halten und mich einfach stillschweigend in der hinterletzten Ecke der Kaschemme zu betrinken, schwafelte ich vollkommen unbeirrt weiter vor mich hin und hielt es schlussendlich, ganz so, als hätte ich mich nicht schon genug blamiert, für eine total clevere Idee, quasi als abschließendes Statement und unumstößlichen Beweis, dass ich den Schwachsinn, den ich da von mir gebe, auch absolut real fühle und natürlich total true lebe, auf den Tresen zu springen, um mir das Bier direkt aus dem Zapfhahn in den Schlund laufen zu lassen, danach einige wüste Beleidigungen, sowohl über die psychische als auch die physische Verfassung der Gäste sowie der Belegschaft vom Stapel zu lassen und abschließend grenzdebil lachend und Deckelprellend aus dem Laden zu stürmen.
Tags darauf dann mit einem ziemlichen Schädel und meinem Nachwuchs im Schlepptau kleinlaut die Zeche beglichen, wohlwissend dass ich als solventer Stammgast rein Garnichts zu befürchten habe, bis auf die hochgezogenen Augenbrauen des Schenkenbesitzers ob meines präpubertärem Verhaltens.
Dann den Wochenendeinkauf erledigt.
Dafür den gerade angeschafften Thule Chariat Sport 2-Fahrradanhänger zum Lastenesel umfunktioniert, um die leeren Getränkekisten zum Supermarkt zu transportieren.
Beim Einladen streng darauf geachtet, die Oettinger-Bierkisten so im Innenraum des Hängers zu verstauen, dass ich darüber feinsäuberlich meine Denns-Biomarkt-Papiertüten drapieren und auch noch das Verdeck schließen konnte. Die 12er-Kiste vegane Bio-Sauerkrautlimonade anschließend distinktionsbedingt auf den Karren gestellt und meinen Sprössling daneben platziert, um auch ja aller Welt zeigen zu können, das ich nicht nur ein nachhaltig denkender, umsichtiger Mensch bin, sondern zudem auch noch ein liebevoller Superdaddy, der seinem Kind auch wirklich jeden Spaß ermöglicht.
Mir an der nächsten Straßenecke eingestanden, dass mein scheinheiliges Getue mittlerweile schon fast paranoide Ausmaße angenommen hat.
Denn während ich in der Kneipe trotz, oder wahrscheinlich gerade wegen meines achsofundierten theoretischen Halbwissens, nicht über irgendwelches steinzeitliches Brunftgehabe hinauskomme, zeigt diese Bierkistenversteckaktion, hinter der sich ja nichts weiter als die lächerlichen Was-sollen-denn-die-Nachbarn-denken?-Ansichten – ein saufender Vater bringt seine leeren Billigbierkisten im Kinderwagen zurück in den Supermarkt? Furchtbar! – meiner Oma verbergen, dass ich doch offensichtlich mit weitaus mehr kleinbürgerlichen Komplexen behaftet bin, als ich mir eingestehen will und dementsprechend ein ungefähr genauso subversives Dasein friste wie irgendeine selbsternannte Influencer-Göre, die ihr halbes Monatsgehalt in einen Oversized Vetements-Justin-4ever-Hoodie investieren muss, um sich vor ihrem Social-Media-Publikum via hochauflösendem Fahrstuhlselfie Zeitgeistigkeit, Geschmackssicherheit und Ironieverständnis attestieren zu können und die in ihrer Persönlichkeit so gefestigt und selbstsicher ist, dass sie sich in steter Regelmäßigkeit auf dem Klo die Seele aus dem Leib kotzt, nur um ihren Viertausendsiebenhundertdreiundzwanzig Instagram-Followern, Zweitausendeinhundertachtundsiebzig Youtube-Kanal-Abonnenten und den siebenhundertdreiundsechzig regelmäßigen Lesern ihres Modeblogs genau die Bilder liefern zu können, die von ihr erwartet werden.
Und die dann am Wochenende, mit ihren Mädels und einem Bauchladen im Gepäck, Junggesellinnenabschied feiert und dabei von einem Typen angebaggert wird, der hoffentlich irgendwann mal kapieren wird, dass seine Lebensrealität sich weitaus mehr mit der eines dahergelaufenen Max Mustermanns deckt als ihm lieb ist und vor allem dass diese ein bisschen mehr Kichern und Gackern ganz gut vertragen könnte.
Pedro Zobel
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freiVERS | Andra Schwarz
Zeig deine zunge die wurzel des sprechens україна
zweige & äste ranken aus einer kehle an der grenze
zum wilden feld schwarze erde auch deine stimme
das ж an den anfängen & enden und in der mitte
о боже! wer teilt diese stränge einer sprache wie
ein schnitt durch die kehle das keuchen der lunge
am rande granaten brennen löcher in den magen
der steppe ziehen feuer & rauch durch die lenden
zu den hölzern zwischen kiefern auch birken ihr
knacken wer spaltet die stämme sie brechen aus
der höhle die wurzel des sprechens in den längst
gerodeten wäldern die niemand mehr kennt
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freiTEXT | Stephan Weiner
ER und ICH
Solange ER und ICH zusammen sind, ist alles gut. WIR fürchten UNS nicht. Auch nicht vor dem kleinen Raum mit den weißen Fliesen an der Wand. ER und ICH wohnen noch nicht sehr lange hier. WIR wurden nicht richtig gefragt, ob WIR hier wohnen wollen - hatten aber auch nichts dagegen. WIR wissen nicht genau, warum WIR hier einziehen mussten. Aber WIR glauben, es ist wegen der Geschichte mit dem Kugelmenschen – dem Dicken, der UNS zu sich eingeladen hat.
Der Dicke hatte UNS gemeinsam eingeladen. WIR kennen ihn aus dem Wartezimmer des Arztes, der immer so viel redet. WIR haben ihn dort schon oft gesehen. Und der Dicke wollte UNS schon lange einmal zum Abendessen bei sich haben; sagt, er könne UNS helfen. WIR wissen nicht, wobei er UNS helfen möchte, kommen der Einladung aber achselzuckend nach. Als WIR das Haus betreten, steht der kugelrunde Gastgeber im Eingangsbereich und blickt von ein paar Stufen auf UNS herab. ICH ducke mich vorsichtshalber ein wenig, ER streckt den Kopf empor.
Der Dicke begrüßt UNS, nimmt UNSERE Jacke und führt UNS in ein großes Zimmer mit Kamin. WIR sind nicht allein. Sechs weitere Paare sind anwesend – stehen rum – mustern UNS. In solchen Situationen schicke ICH IHN gerne vor. ER ist bei so etwas viel souveräner. IHM macht es Spaß, sich den Gegebenheiten anzupassen. Mit einem Blick hat ER die Essenz seines Gegenübers erkannt und beginnt, sie gekonnt zu kopieren. WIR können auf diese Weise sein, was WIR wollen. Reich, arm, dick, dünn, schlau, dumm – einfach alles. Das ist ein gutes Gefühl. Seit ER und ICH zusammen sind, beherrscht mich daher ein Gefühl absoluter Klarheit. Mein Drang nach Freiheit, der offenbar nicht mit der allgemein akzeptierten Ordnung vereinbart werden kann, hat MICH oft in Schwierigkeiten gebracht. Doch mit IHM ist der Drang verschwunden. Tatsächlich verspüre ICH überhaupt keinen Drang und keinen Wunsch nach Veränderung mehr. Die überraschende Einladung des Dicken zu akzeptieren, ist für UNS kein Akt der Höflichkeit. WIR tun niemandem einen Gefallen, möchten UNS nicht einschmeicheln, um neue Freunde zu gewinnen oder Ähnliches. WIR gehen ohne besondere Absichten durchs Leben und haben nicht vor, etwas daran zu ändern.
Der Gastgeber rollt durchs Zimmer. Lächelt durch die Runde und richtet unangenehm lang seinen Blick auf UNS. Wieder ducke ICH mich, während ER den Blick erwidert. „Wir wollen helfen“, sagt der Dicke, und versucht seine Stummel-Arme auszubreiten. Allgemeines Nicken begleitet diese Geste. „Wir glauben, dazu in der Lage zu sein, da wir früher einmal genauso waren.“ ER und ICH wissen nicht, was WIR dazu sagen sollen und scheinen das mit UNSEREM Gesichtsausdruck auch deutlich gemacht zu haben. „Alle hier waren einmal eins“, erklärt der Dicke. „Alle sechs Paare in diesem Raum, waren mehr als nur einer Meinung – sie waren sechs Individuen.“ Er beugt sich leicht nach vorne und betrachtet UNS dramatisch durch seine Augenbrauen. „Auch ich und meine Partnerin waren einmal eins“, fährt er fort. „Wir sehnten uns nach nichts. Lebten von Tag zu Tag und wünschten uns, nur zusammen zu sein. – Doch ohne Verlangen lebt es sich schlecht. Es macht krank. Das einzig Gute: Wenn man erst merkt, wie krank, dann ist der erste Schritt zur Gesundung, zur Spaltung, zur Normalität schon getan.“ Als der Dicke das Wort „krank“ ausspricht, nicken die 6 Frauen und 6 Männer im Takt, jeweils abwechselnd, zuerst die Männer, dann die Frauen, und scheinen dabei ihr eigenes Gegenteil zu verkörpern. „Wer krank ist, will gesund sein. Wer abhängig ist, will frei sein. Wer in Gefahr ist, sucht die Sicherheit. Wer im Chaos versinkt, entwickelt Regeln zu seiner Bändigung. Wer hasst, will lieben. Wer arm ist, will reich sein. Wer unsicher ist, sucht nach einer Erklärung. Wer stumm ist, sucht nach einem Wortführer. Und wer unterdrückt wird, will sich emanzipieren!“ Mit dem letzten Satz dreht er sich einmal im Kreis und zeigt dann mit einem seiner speckigen Finger auf eine Tür. Langsam betritt eine dünne Frau den Raum. WIR starren sie an. WIR können nicht anders. Nicht ihre fehlende Statur ist das, was IHN und MICH am meisten schockiert, es ist ihre ungeheure Größe. Sie überragt den Dicken in ihrer Länge um das Doppelte. Er selbst, klein und fett, sieht daneben wie eine extrem gestauchte Version von ihr aus. „Meine Frau“, schreit er förmlich. Applaus von den anderen Gästen. ER ist vollkommen entsetzt. ICH sehe es an seinem Gesichtsausdruck. Es wäre besser, jetzt zu gehen, denke ICH noch. „Du siehst, wir sind genau wie du. Und wir können helfen. Wir können helfen, dich von ihm zu befreien. Du musst dich von ihm trennen, um glücklich zu werden. Du musst erkennen, dass du krank bist. Du musst dich entzweien und auf die Suche gehen. Musst dich nach einem geeigneten Partner umschauen; musst Sehnsucht entwickeln. Du kannst nicht für immer alles in dir vereinen. Das ist nicht normal!“ Mit jedem Satz kommt der Dicke einen Schritt auf UNS zu. ER bekommt Panik. ICH kann noch an mich halten. Plötzlich spüren WIR die Wand hinter UNS. WIR können nicht weiter zurück. WIR müssen nach vorne. ICH möchte IHN aufhalten, aber es ist zu spät. Wild hämmern seine Fäuste auf die Brust des Dicken. Der weicht zurück und seine Frau versucht sie auseinander zu bringen. Vor lauter Verzweiflung greife ICH hinter mich, greife nach dem Erstbesten, einem Schürhaken neben dem Kamin und steche zu. Blutend liegt die dünne Frau am Boden. ER und der Dicke lassen voneinander. Die anderen Gäste sehen MICH traurig an. ER und ICH verlassen langsam das Haus. Hinter UNS hören wir laute Geräusche; Schreie. WIR schauen uns achselzuckend an, laufen zur Straße und in die Stadt, bis WIR vor unserer Wohnung stehen. WIR betreten UNSER Zimmer und werden erwartet. Sie nehmen UNS mit und bringen UNS in das weiße Zimmer. IHM und MIR ist das egal. WIR legen uns auf die an der Wand stehende Pritsche.
„Wir glauben dir“, sagt der Mann mit dem weißen Bart. ER und ICH sitzen aufrecht auf UNSEREM Bett und starren auf UNSERE Fußspitzen. Es sind nur zwei. „Es ist Okay sich nach Gesundheit zu sehnen, wenn man erkennt, dass man krank ist“, fährt der Mann fort. „Wir sind zu zweit und du bist nicht rund. Kannst nicht in zwei verschiedene Richtungen sehen. Bist einfach nur du.“ Der Mann spricht mit IHM, ICH schaue zu. Was er sagt, ergibt keinen Sinn. Wie können ER und ICH nur in eine Richtung sehen? Wieso sollte ICH mich nach Gesundheit sehnen? Wieso sollte ICH mich überhaupt nach etwas sehnen, wo ER und ICH doch alles haben? WIR beschließen, dem alten Mann, der uns trennen will, zu ignorieren. WIR beschließen, UNS wieder hinzulegen und von gar nichts zu träumen.
Stephan Weiner
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freiVERS | Sigune Schnabel
Heute trägt der Tag Türkis
und legt mir Muscheln zwischen die Zehen.
Wir graben uns bis zum Hals
in den Sand.
Unser Kopf sprießt
in blauem Hut
aus dem Boden.
Mutter rankt sich
an Kettensätzen durch das Jahr,
sucht Halt,
wird jeden Sommer größer.
Du reichst meinen Worten
eine Räuberleiter.
Jetzt sitzen sie in den Pinien,
blicken auf alles herab.
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freiVERS | Lars Weylthaar
#12
Ich schreib Dir eine Nachricht
& streich das meiste raus
Bild Dir nichts ein auf
Die Arbeit, die ich
Mir mache
Es ist nicht Deinetwegen
Sondern aus Prinzip
#15
Mein Vater sagte stets
Ich mache nur Unsinn
Liebevoll verschwieg er
Dass ich auch daran scheiterte
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freiVERS | Stefan Heyer
alleenbäume
alleenbäume umkurvt, die alten kastanien haben
ihr früchte abgeworfen, goulds krummer rücken
über dem klavier, hastig heben die Kinderhände
auf, drachen sind keine zu sehen, felder leer
daliegend, seine stirn legt sich in falten
kühl der wind pfeifend, wollmützen werden
über die ohren gezogen, in der küche tee
und heiße schokolade, das service der
großmutter hatte ein rotschwarzes Karomuster
der henkel der kanne notdürftig geflickt
die allee gibt es nicht mehr, längst gewichen
der neuen straße, alte wurzeln herausgerissen
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
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freiTEXT | Annika Büsing
Steffen
„Für dich ist das Leben ein gewaltiger Scherz, oder?“
„Ja“, sage ich, „das ist es.“
„Hast du schon mal irgendwas verloren, was dir wirklich wichtig war?“ Ich hebe die Schultern, aber er erwartet gar keine Antwort von mir. „Ich meine nichts, wo du sagst: ‚Oh schade, das war echt ganz schön irgendwie.‘ Ich meine wirkliche Verluste.“
„Ich weiß, was du meinst.“
„Ach ja?“
„Ja, ich bin nicht blöd.“
„Nee, das ist ja dein Problem. Vielleicht wärst du netter, wenn du ein bisschen blöder wärst.“
Er hasst mich. Vermutlich ist das in Ordnung so. Ich hasse ihn auch.
„Meine Oma“, sage ich.
„Was?“
„Meine Oma“, wiederhole ich ironiefrei. „Meine Oma ist gestorben. Das ist mein einziger wirklicher Verlust.“
Er sagt erstmal nichts. Vielleicht überrascht ihn meine Ehrlichkeit, vielleicht hat er auch nicht damit gerechnet, dass ich begreife, dass er mit mir über den Tod sprechen will. Ich überbrücke die Stille und gieße ihm einen Schluck Wein nach. Ich finde, es ist ein trauriges Spektakel an Weihnachten rumzusitzen, in die Glotze zu gucken und alleine Wein zu trinken. Aber es ist ja nicht so, als würde er mir ein Glas anbieten. Überhaupt hätte ich nicht vorbeikommen sollen. Nicht klingeln. Das war eine gewaltige Schnapsidee, um seinen Sprachgebrauch zu kopieren. Ich wollte nett sein. Das kommt dabei raus.
Wir konnten uns vom ersten Augenblick an nicht leiden, er und ich. Und das ist ein Problem, weil wir nämlich ziemlich viele Stunden am Tag zusammen rumhängen. Mehr noch. Wir müssen uns ansehen, anfassen, unsere Gefühle miteinander besprechen, seltsame Übungen machen, bei denen wir uns vorstellen, dass wir ganz klein werden und getragen werden müssen, wo immer wir hinwollen. Ich weiß, das klingt, als wären wir zusammen in einer Therapiegruppe, aber in Wahrheit sind wir beide in der gleichen Klasse einer renommierten Schauspielschule. Als ich ihn dort das erste Mal gesehen habe, habe ich gedacht: „Warum haben die diesen fetten Scheißtypen genommen?“ Und jetzt wird er schon als nächster großer Tatort-Kommissar gehandelt. Das liebste Attribut, das die Lehrer an meiner Schule vergeben ist: ‚authentisch‘ und Steffen ist ‚unfassbar authentisch‘. Ich finde, er ist unfassbar kacke, aber mich fragt ja keiner. Meine Freundin, der ich manchmal Bilder schicke, wenn mir langweilig ist, sagt: „Der ist nicht überhaupt nicht fett.“ Ich verstehe nicht, warum Leute immer so objektiv sein müssen. Jedenfalls hassen wir uns, Steffen und ich. Ich kann noch nicht einmal so tun, als würde ich ihn mögen. Das konnte ich aber noch nie. Ich bin halt nicht blöd, ‚nicht nett‘, würde Steffen sagen. Aber wenn nett sein blöd sein heißt, dann verzichte ich lieber. Ich lehne mich zurück. Die Glotze läuft ohne Ton weiter und wirft wechselndes Licht auf sein Gesicht. Er sitzt unbewegt da. Er trägt ein rot-kariertes Flanellhemd und eine Jeans. Immerhin sitzt er nicht in Jogginghose vor der Helene Fischer-Show. Es gibt noch Hoffnung für ihn. Er wird durchkommen. Aber Typen wie er kommen sowieso immer durch.
Es gab eine Stunde im Schauspielunterricht, die war zum Kotzen. Ganz ehrlich. Wir haben über Trennungen gesprochen. Jeder Scheiß wird ans Licht gezerrt bei uns. Du darfst praktisch keine Geheimnisse mehr haben und ja, ich habe vorher auch gedacht, dass das ein Klischee ist. Aber leider basiert dieser ganze Unfug dann doch darauf, Zugang zu den eigenen Gefühlen herzustellen. Affective Memory, nennen sie das und es ist demütigend. Wir bildeten Kleingruppen und die Dozentin entschied, wer in welche Gruppe gehen sollte, allein weil sie postulierte, dass sie weiß, wer gut harmoniert. Sie hat überhaupt keine Ahnung. Uns wird überdies oft gesagt, dass wir gut harmonieren, Steffen und ich, was der blanke Hohn ist, weil es mich sogar wütend macht, wenn er harmlose Sätze sagt wie: „Ich wollte, dass wir es gut haben.“ Das war auch so eine Stunde, nach der ich gedacht habe: Schmeiß hin! Aber egal, zurück zu der Trennungsstunde. Also, man sollte eine Erinnerung heraufbeschwören. Und wir mussten vorspielen und dann musste man aufstehen und seine Geschichte erzählen. Klar tut das weh, auf der Bühne zu stehen, und von so intimen Dingen wie Zurückweisung und Einsamkeit zu erzählen – es soll wehtun. Und es geht ja keiner hin und erinnert sich an eine Party, bei der man jemanden, der hackestramm war, mit Edding bemalt hat. Man erinnert sich an schmerzvolle Momente. Irgendwie hatte sich die Gruppe auf Trennungen eingeschwungen. Mir erschien das über die Maßen lächerlich. Es war so ein Moment, in dem ich mich fragte, warum ich nicht Jura studierte oder BWL. Und dann war Steffen dran. Und als er mit seiner Szene fertig war und erzählen sollte, da sagte er: „Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich bin noch nie verlassen worden. Ich höre das, wenn andere erzählen, was sie durchgemacht haben, wie sie getrauert haben und das alles, und ich stelle fest, dass ich davon keine Ahnung habe. Vielleicht hab ich einfach viel Glück gehabt. Vielleicht wurde ich aber auch einfach noch nie so geliebt.“
Ich wollte aufstehen, hingehen und ihm ins Gesicht schlagen. Das geht mir oft so mit ihm.
Ich merke, dass er mich von der Seite ansieht. Vielleicht überlegt er, was er sagen soll. Oder besser: Vielleicht überlegt er, was er nicht sagen soll. Meine Oma liegt jetzt auf dem Tisch, im übertragenen Sinne, und das war natürlich ein hoher Einsatz. Ich weiß nicht, warum ich die Wahrheit gesagt habe, denn ich bin sicher nicht der Überzeugung, dass er sie verdient hat. In ein paar Jahren wird er einen Arsch voll Geld verdienen. Nicht, weil er talentierter wäre als andere, sondern weil er so überzeugt von sich ist. Und ich habe immer den Eindruck, dass er genau weiß, dass dieser Tag kommen wird.
„Warum bist du nicht bei deiner Familie?“, frage ich.
„Willst du das wirklich wissen oder nur nen Spruch drüber machen?“
„Kannst du nicht einfach ne Frage beantworten?“
„Wohnen nicht hier“, sagt er.
Ich sehe ihn an. Inga, die im ersten Jahr ist, ist total verknallt in ihn. Inga ist ein dummes Huhn. Ich habe ihn nach drei Gin Tonic schon mal gesagt, dass sie sich keine Hoffnungen machen soll.
„Wieso sagst du sowas?“, hat sie gefragt.
Und ich habe gesagt: „Weil Typen wie der nur an sich denken.“
„Was ist mit dir?“, fragt er. „Warum bist du nicht bei deiner Familie?“
„Ich war“, sage ich.
Ich sehe ihn an. In seinem Blick liegt eine Frage und weiß der Himmel warum, vielleicht weil Weihnachten ist oder weil er alleine ScheißHeleneFischer guckt – ich bin gewillt sie zu beantworten.
„Ist ausgeartet“, sage ich lakonisch.
Und dann passiert etwas Seltsames: Er lacht. Er steht auf und geht in die Küche
Bewegungslehre und Körperbewusstsein II mit Steffen. Bei der mit Abstand durchgeknalltesten Dozentin der Schule. Steffen musste wie alle anderen so eine Flatterhose anziehen, die die größtmögliche Bewegungsfreiheit garantiert. Er sah aus wie ein fetter Flughund.
„Ey Steffen“, sagte ich, als er reinkam.
„Halt einfach die Fresse!“, sagte er.
Bewusstheit. Langsamkeit. Bla bla bla. Acrobalance war angesagt und keiner kann sich da rausreden. Man könnte allenfalls vorbringen, dass man tot ist. Und selbst dann würde die Pocher sagen, dass man keinen Schritt vor dem anderen gehen kann. Sie war auch bekannt dafür, Leute durch die Prüfung fallen zu lassen, wenn sich aus ihrer Sicht keine echte Hingabe erkennen ließ. Man musste also den Arsch zusammenkneifen und sich hingeben. Was passiert jetzt also bei der Acrobalance? Im Wesentlichen dies: Man steckt einen Mann und eine Frau zusammen und, Überraschung, der Mann hebt, trägt, wirft die Frau in allerlei Positionen. Dieser Teil gehört zum Adagio. Aus dem Ballett kennt man den Adagio als Teil des Pas de Deux. Er setzt eine Menge Körperkontakt voraus, Vertrauen, Kontrolle und ja: Hingabe. Alle hassen es. Und kein Tatort-Kommissar dieser Welt wird es je wieder brauchen. Aber: „Man kann keinen Schritt vor dem anderen gehen.“ (Pocher) Der zweite Teil besteht im Wesentlichen aus Handständen und komplizierten Bewegungswechseln die, Überraschung, die Frau auf dem Mann ausführt, vorrangig auf seinen Handflächen auch auch auf seinen Knien und Füßen. Es fallen Begriffe wie base und flyer, aber man könnte auch sagen: Er liegt auf dem Boden und man turnt so auf ihm herum. Pochers Kurs wurde deswegen intern als „Sexkurs“ gehandelt, denn der Legende nach war schon der ein oder andere Student nach unendlich erscheinenden Wochen in der selbst gewählten Askese nach der Acrobalance-Stunde und ein paar Gläsern Wein auf dumme Gedanken gekommen. Irgendwer fickt immer mit irgendwem in einer Schauspielklasse. Und alle wissen das hinterher. Die Kombination Mann-Frau ist am beliebtesten bei Acrobalance-Duos, denn Acrobalance setzt konzeptionell Stärke voraus und sieht sie vorrangig in Männerhänden. Man könnte auch Duos aus zwei Frauen bilden oder zwei Männern (wie in der Liebe). Für die Pocher kam das aber nur im Ausnahmefall in Frage. In unserer Klasse schon mal gar nicht, weil wir exakt so viele Männer wie Frauen waren. Also stellte sie nach einer enthusiastischen Vorrede und im Anschluss an ein paar Vorübungen und das ungenierte Studium unserer Körper (es wurden T-Shirts angehoben und Bäuche begutachtet) die Paare zusammen. All meine Gebete blieben unerhört. Die Pocher zählte zu jenen Dozenten, die der Ansicht waren, dass Steffen und ich ausgezeichnet harmonieren. Sie trieb mich in den Wahnsinn. Jemandem so nah zu sein, den man schlagen, quälen, töten will, ist schwer auszuhalten. Und obendrein ist dieser ganze Unfug abartig anstrengend. Man ist jede Stunde nass geschwitzt und man schwitzt seinen Partner gleich mit voll. Man spürt seinen Atem, seinen Körper, ob man will oder nicht, und für mich galt in diesem Fall: NICHT. Es war die Hölle. Aber wir waren irgendwie gut. Die Pocher war zufrieden mit uns, um nicht zu sagen, sie war begeistert. In einer Stunde attestierte sie Steffen ein hervorragendes propriozeptives Bewusstsein.
„Was ist das?“, fragte ich.
„Tiefensensibilität“, erklärte die Pocher. „Er weiß ganz exakt, wo er im Raum steht.“
Wow, dachte ich tiefenironisch. Und die alte Hexe konnte meine Gedanken lesen und sagte zu mir: „Von allen Mädchen hier musst du dir am wenigsten Sorgen machen. Er wird dich niemals fallen lassen. Er liest deine Bewegungen. Er liest sie ohne hinzusehen.“
Danach mochte ich ihn noch weniger. Wir gingen mit der Bestnote aus dem Kurs. Wir waren das Bestnoten-Pärchen. Max und Juliane waren das Fickpärchen. Robert und Anna das Heulpärchen (Anna heulte jede Stunde).
Bestnoten-Pärchen. Aber es änderte nichts.
Er kommt mit einem zweiten Weinglas zurück und stellt es wortlos auf den Tisch. Er greift nach der Weinflasche und gießt Wein in das Glas. Mir fällt auf, dass er die Ärmel seines Hemdes aufgekrempelt hat. Vielleicht soll das suggerieren, dass er ein anpackender Charakter ist. Er stellt die Flasche wieder weg. Lehnt sich zurück.
„Ist das für mich?“, frage ich.
„Nein, für den Weihnachtsmann“, sagt er.
„Dem Weihnachtsmann musst du Milch hinstellen“, sage ich und greife nach dem Glas.
„Hast du Ahnung von Wein?“, feixt er.
„Nein. Du?“
Er zuckt mit den Schultern. „Probier halt!“
Ich probiere den Wein. Ich habe wenig Vergleichswerte, aber vermutlich ist der hier ganz gut.
„Warum guckst du Helene Fischer?“
„Ich gucke es nicht.“
„Erzähl keinen Scheiß! Klar guckst du das!“
„Es läuft. Ich gucke es nicht.“
„Aso. Nur so nebenbei.“
„Ja, nur so nebenbei.“
„Kannst du mir nicht mal die Wahrheit sagen?“
„Warum sollte ich?“
Hat er recht. Warum sollte er? Wir schweigen eine Weile. Helene singt, wird gehoben, getragen, geworfen. Ich kann jedoch keine echte Hingabe erkennen, ich denke, die Pocher würde sie durchfallen lassen.
„Also, erzählst du mir jetzt von deiner Oma?“, fragt Steffen unvermittelt.
„Was soll ich dir erzählen?“, frage ich.
„Wie war sie so?“
„Unbeherrscht“, sage ich.
„So wie du“, sagt er.
„Du kennst immer die Antwort schon, oder?“, sage ich. „Du kennst die Geschichte. Man kann dich mit nichts überraschen. Du hast alles immer schon durchschaut.“
„Meinst du, du wärst anders?“
„Vielleicht bin ich nicht so borniert.“
„Oh doch, Annika, du bist borniert! Für Leute wie dich ist dieses Wort erfunden worden. Borniert sein heißt auf seinen Vorstellungen zu beharren – und das tust du. Wenn du einmal eine Vorstellung von etwas hast, ist die in Stein gemeißelt. Macht keiner was dran.“
„Ich kann nichts dafür, dass Menschen so zum Kotzen berechenbar sind“, sage ich.
„Ja, na klar.“ Er schüttelt den Kopf. „Berechenbar.“
„Du bist natürlich total unkonventionell.“
Warum lasse ich mich von ihm beleidigen, zurechtweisen, erziehen? Es ist immer die gleiche Leier. Einmal waren wir auf einer Party. Anna (die Heulsuse) hatte Geburtstag und hatte alle in ihre WG eingeladen und es gab Nudelsalat und Rotwein (gekauft von Leuten wie mir, die keine Ahnung von Wein haben) und überall brannten Kerzen und es lief Bon Iver. Es war eigentlich echt nett. Wenn er nicht dabei gewesen wäre. Er kommentierte den ganzen Abend lang, was ich sagte: Entweder korrigierte er es oder stellte es in Frage oder er machte Witze auf meine Kosten. Als ich nach Hause ging, war ich so wütend, dass ich nicht schlafen konnte. Ich saß vor dem Fernseher und hasste mein Leben.
„Was willst du eigentlich hier?“, fragt er. „Bist du nur hergekommen, um mich runterzumachen?“
„Hattest du was Besseres vor?“
„Warum bist du so?“
„Wie bin ich denn?“
„Feindselig bist du.“
„Zu allen Leuten?“
„Nein, zu mir.“
„Denk mal drüber nach!“
„Okay, ich hab’s verstanden. Du hältst mich für ein Riesenarschloch. Aber wenn das so ist, dann verrat mir, was du hier willst! Warum kommst du an Weihnachten vorbei, setzt dich auf mein Sofa und putzt mich runter? Erklär es mir! Ich kapiere es nicht!“
„Du bist die Grenze. Irgendwie wollte ich heute Abend wissen, wie es da aussieht.“
„An der Grenze?“
Ich schaue in mein Weinglas und schwenke den Wein ein bisschen rum.
„Weißt du noch, wie die Pocher zu mir gesagt hat, dass du mich nie fallen lassen würdest? Sie hat Recht. Du bist der einzige Mensch, der mich noch nie enttäuscht hat.“
„Was angesichts deiner Einschätzung meiner Person nur sehr bedingt ein Kompliment ist.“
Ich höre das Grinsen in seiner Stimme. Ich muss ein bisschen lachen. Aber eigentlich ist mir auch zum Heulen zumute.
„Das war richtig scheiße mit meiner Familie“, sage ich.
„Klar“, sagt er leichthin, „ist halt Weihnachten.“
Aus der Küche kommt ein Geräusch, das klingt wie ein Gong.
„Was ist das?“, frage ich.
„Essen ist fertig.“
„Was ist denn Essen?“
„Currywurst aus dem Ofen.“
„Häh?“
„Bratwurst von gestern kleinschneiden, Auflaufform, Currysoße drüber, in den Backofen bis es gongt.“
„Du bist ja ein echter Gourmet!“
„Was meinst du, wie geil das zum Weißwein ist?“
Ich ertappe mich beim Lachen. So wirklich tief innen drin. Der Typ hat sie nicht alle.
„Na komm schon!“, sagt er.
Annika Büsing
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24 | Sigune Schnabel
Aschetage
Hier ist der Raum tiefer
als jeder Gedanke,
fällt Regen von Dachkanten.
Seit Stunden
raschelt es in meinem Kopf,
und etwas brennt sich ein,
wenn wir so schütter beieinander liegen.
Im letzten Wortbruch
suche ich nach Scherben
für mein Sommerhaus.
Doch du greifst mich am Nachtsaum,
schleifst mich fort,
aus Angst, hier zu verwittern.
Sigune Schnabel
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23 | Martin Peichl
Wie man Dinge repariert (Auszug)
WEIHNACHTEN – das ist verkatert den Zug ins Waldviertel verpassen und zwei Stunden lang auf den nächsten warten. Es ist kurz nach Mittag, die Geschäfte am Hauptbahnhof haben noch offen. Ich überlege mir ein Bier zu kaufen, aber dann fällt mir ein, was du dir von mir zu Weihnachten gewünscht hast, also setze ich mich auf eine Bank und öffne meinen Laptop. Irgendwo nach Tulln ist ein Baum auf die Schienen gestürzt. Ich muss die S-Bahn nach Absdorf-Hippersdorf nehmen und dann weiter Richtung České Velenice. Ich will dir 3 FUN FACTS über Absdorf-Hippersdorf schicken, aber eine schnelle Internetrecherche ergibt, dass es nicht einmal 1 FUN FACT über Absdorf-Hippersdorf gibt.
Die -30-Prozent-Schilder in der Auslage sind genauso rot wie die -50-Prozent-Schilder, sind genauso rot wie die -70-Prozent-Schilder. Es wäre besser, denke ich, wir würden uns alle selbst Rabattschilder umhängen, das würde vieles erleichtern, wenn ich mir zum Beispiel ein -30-Prozent-Schild umhängen würde, das wäre ehrlich, weil 100 Prozent zu verlangen, wenn man genau weiß, dass man selbst keine 100 Prozent geben kann, ist dreist, ist auch irreführend, ist schlichtweg Betrug. Und je nach Lebensphase oder Situation könnte man die Rabatte auf das eigene Ich anpassen. In der Bar nach dem vierten Bier zum Beispiel könnte man mit dem Preis noch weiter runtergehen. Oder, wenn man ausnahmsweise mal ausgeschlafen ist, ein wenig rauf. Angebot und Nachfrage würden sich ganz natürlich selbst regulieren. Und zu Weihnachten dann Ausverkauf, runter mit den Preisen, ALLES MUSS WEG.
Es ist eine seltsame Zeit mit dieser Endjahresstimmung direkt unter der Haut, wenn die Listen im Kopf ganz schwer werden und die Gedanken einstürzen wie Schneehöhlen, wie Vanillekipferl-Bruchstücke hineinbröckeln in deine Wahrnehmung und aus dir rausbrechen in Form von sentimentalen Ungenauigkeiten. Ich überlege, dir das zu schreiben, immer überlege ich, dir zu schreiben, aber du bist nicht alleine, du bist besetzt, bis ins neue Jahr hinein. Stattdessen schreibe ich ein paar Listen für dich: die 10 schönsten (alternativ: die 10 schirchsten) Hauswände, gegen die ich dich gedrückt habe. Oder: die 10 Momente, in denen ich Angst gehabt habe, es könnte dich jemand schwängern (alternativ: die 10 Momente, in denen ich Angst gehabt habe, du könntest ein Kind wollen von mir).
Länger schon schreibe ich an einer Liste mit Wörtern, die wir betrunken besser aussprechen können als nüchtern. Deine Nummer 1: BINDUNGSHORMONE. Meine Nummer 1: KURZFRISTIG. Die Liste ist WORK IN PROGRESS, und wärst du jetzt hier, würdest du sagen, weil alles für mich WORK IN PROGRESS ist, auch unser Verhältnis, unsere Fast-Beziehung oder unsere Manchmal-Beziehung oder was auch immer das ist, was wir uns da einbilden. Du hast ja recht: alles WORK IN PROGRESS, vor allem das eigene Ich. Und egal an wie vielen Leben ich mich parallel versuche, kein einziges davon habe ich im Griff. Und ich will dir schreiben: Schau, ich weiß nicht, wer du für mich bist, aber ich weiß, dass niemand so schön das Wort SCHNAPS ausspricht wie du.
Martin Peichl
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