Im Karzer

Prinz Harrie war mal eine große Nummer. Eintausendundachtzig. So viele Pils hat das Aas beim Paule angeschrieben. Das sind fünfzehn am Tag. Das sind sechs Tage die Woche. Nur Montag, da braucht der Paule Abstand von dem ganzen Geschmeiß. Außerdem kommt da immer die Lieferung und er muss zur Metro. Das sind zwölf Wochen. Das ist Death Row. Der Hamad hat das so genannt. Der hört gerne Tupac im Benz. So sind sie, die Jungen. Der Harrie ist ein Alter. Den schreibt man mit ie, weil wir hier in Deutschland sind. Der hört zuhause Nina Simone, aber wünscht sich Reinhard Mey im Karzer. Den Karzer hat der Paule dem Jörgen abgekauft, als Tupac noch gelebt hat und der Harrie noch eine kleine Nummer war. 25 Jahre ist das her und im Karzer hat sich nicht viel verändert seitdem. Nur das Pils kostet mittlerweile 2,50 Euro. Weil hier keiner nur eins trinkt und der Paule dann nicht so viel Wechselgeld braucht. Trinkgeld gibt hier sowieso niemand, also warum 2,60 verlangen? Der Hamad hat jetzt 26 Zoll auf der G-Klasse. Chrom. Der ist ein Junger, aber die Rolex kann er tragen. Der ist ein Junger, aber kann dein Todesurteil sprechen. Der Harrie hätte es wissen müssen. Aber da war er schon nur noch Flickwerk.

Der Paule kann sich noch daran erinnern, wie der Harrie das erste Mal im Karzer war. Im weißen Anzug und mit Damenbegleitung. „Kellner, zwei Flaschen Champagner“, hat er gerufen und noch mal „Kellner“, als der Paule auch nach drei Minuten keine Anstalten machte, ihn zu bedienen. Der Erwin hat ihn kurz fragend angeschaut, weil der Neue hier den Luftikus spielte. Der Erwin war damals Boxer auf Landesebene, aber als die Marie von ihm schwanger war, da musste er ins Stahlwerk. Und dann der Schnaps und der Raub und der Knast und das waren einfach andere Zeiten. Der Paule schüttelte den Kopf und der Erwin zuckte mit den Schultern. Dann ging der Paule zu Harries Tisch, setzte zwei Pils ab und sagte: „Gekokst wird draußen.“ Da ist der Stieglitz kurz übergeschnappt und hat ihm erklärt, dass er Prinz Harrie sei, aber als der Erwin ihm die Hand auf die Schulter legte, da war er rasch wieder vernünftig. Der Paule mag vernünftige Gäste. Die sind besser fürs Geschäft. Zwei Wochen später kam Prinz Harrie wieder in den Karzer. Im roten Anzug, mit einem halben Frauenhaus im Schlepptau und schließlich immer öfter. Dem Paule war es immer ein Dorn im Auge, wenn der Harrie auf seinen Absacker reinschneite. Doch es bedeutete auch immer anständige Frauen. Der Paule mag anständige Frauen. Die sind besser fürs Geschäft als die Handvoll Eulen, die hier sonst verkehrt. Und tatsächlich hat der Harrie sich nie beim Koksen erwischen lassen, bis auf das eine Mal vor sieben Jahren. Zwei Tage später hat der Paule den Kalle getroffen, als er in der Metro war. Dem Kalle gehört der Trichter und da war der Harrie auch rausgeflogen, genauso wie im Pacha und im Hirsch. Das hätte der Markus vom Wirtschaftskontrolldienst erzählt. Der Kalle und der Markus kennen sich noch aus der C-Jugend und deshalb passt das schon mit den Kontrollen.

Beim Harrie passte nichts mehr. Der Hamad wusste das. Der Harrie wusste das. Und so konnte er auch nicht ablehnen, als der Hamad ihm seine neuen Sitzbezüge zeigen wollte. Schwarzes Leder mit goldenen Nähten. Wirklich schöne Bezüge, wirklich. Aus der G-Klasse nimmt man alles ganz anders wahr, intensiver. Was man für einen Überblick hat. Über die Straße, die Menschen, das Geschäft. Wirklich ein tolles Auto, wirklich. Der Hamad war ein schlauer Junge. Er war clean und er war überzeugend. Wirklich ein großzügiges Angebot, wirklich. Und als der Harrie nach zwei Runden über Bahnhofstraße und Neue Straße wieder ausstieg, da war er Hamads Knecht.

Für eine Weile ging das gut und dann kamen die Wetten. Anfangs hatte der Harrie nur mit dem Mario gewettet, dass Italien rausfliegt und Recht behalten. Marios Eltern kamen damals aus Kalabrien und haben hier das La Spezia aufgemacht. Ihrem Sohn haben sie beigebracht, dass die Deutschen keinen echten Mozzarella auf ihrer Pizza brauchen, weshalb mehr auf der Haben-Seite bleibt. Deshalb war es für den Mario kein Problem, seine 200 Euro Wettschulden beim Harrie einzulösen. Für den Harrie aber war es ein immer größeres Problem, seine Drogen zu zahlen. Und so wurde Koks zu Pep und Pep zu Crack und der Ivan vom Tipico wollte seine Kohle und der Harrie dachte, dass der Hamad es nicht merken würde. Aber weil der Hamad ein schlauer Junge war und der Harrie ein immer größeres Problem, sitzt der Harrie jetzt wieder im Karzer und wartet. Die letzten zwölf Wochen brachte er hier zu und weiß, dass er es hätte wissen müssen.

Die ganze vertrackte Angelegenheit könnte auch schon lange erledigt sein. Aber der Hamad ist ein schlauer Junge und weiß, dass der Harrie dafür zu viele Gläubiger hat. Als endlich alles geregelt war, schickte er den Deniz in den Karzer. Der Deniz ist ein Junger und würde gerne Rolex tragen. Deshalb macht er, was der Hamad ihm aufträgt und unterbreitete dem Paule ein Angebot. Doch der Paule will damit nichts am Hut haben, denn er ist kein Mörder. Schließlich wurde er damals nur wegen Totschlags verurteilt. Das sollte der Hamad eigentlich wissen. Ist doch ein schlauer Junge. Aber der Harrie dürfe hier wieder rein, wenn der Hamad die Rechnung zahlt.

Seitdem ist der Harrie wieder jeden Abend hier und säuft. Außer montags. Jetzt säuft er seit zwölf Wochen und merkt trotzdem, wie Deniz sich an Tisch 4 setzt. Der Harrie schaut dem Paule in die Augen. Das erste Mal seit sieben Jahren. Er rappelt sich auf und wankt hart nach Lee zur Kellertreppe, stürzt hinunter ins Klo, reihert eine Woge Kotze an die Wand über den Pissoirs und kann nichts mehr halten. Deniz steht auf, nickt dem Paule zu und geht hinterher. Der Paule trinkt beim Arbeiten schon lange nicht mehr. Jetzt schenkt er sich einen Klaren ein. Ausgerechnet bei ihm auf dem Klo muss das passieren. Noch einer zum Nachspülen. Aber wohin soll der Sünder auch rennen? Der Harrie war in seiner eigenen Pisse ausgerutscht, wird es später heißen. Platzwunde. Erstickt im Pissoir. Harries Muskeln entspannen und milder Druck bettet sein Gesicht in die Wärme der Kotze, bis die Lichter nach und nach ganz im Regengrau verschwimmen. Deniz hat sein Geschäft verrichtet und kommt wieder hoch. Er nickt wieder und legt einen Umschlag auf den Tresen. Der Paule muss das Geld nicht zählen: Es sind genau zweitausendsiebenhundert Euro. Und Prinz Harrie, der war mal eine große Nummer.

 

Sebastian Franz

 

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