4 | Andreas Mayer

hof

ein fenster hinaus
in aussichtslosigkeit
kinder falten das grau
zu fliegern die flüstern
einmal
soll alles anders werden
auf balkonen
schwenken ausgewischte ihre gesichter
weiße laken vor dem leben
hinter scheiben
starren erstarrte
harte blicke in blöcken
aus eis
leis falten sich ins schicksal
fraktale
bis die vorhersehung
tauwetter spricht

 

Andreas Mayer

 

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3 | Anne Büttner

Tapetenwechsel

Springsteen hat ihr den Urlaub in die Wohnung geholt. Acht Bahnen Bali-Traumurlaub aus Vlies: Traumstrand, Traumpalmen, Traummeer, ein Traum von Abendsonne.

Dass sie ja jetzt nicht mehr so verreisen können, wie sie gern würden, weil das ja immer mehr werden wird, dass Elke sich immer weniger bewegen kann. Deswegen ja auch der da, hat er gesagt und zum schmucklosen Rollator neben dem Puky mit Pokémonwimpel und Hamburgerklingel genickt, den ich bis dahin nicht zuordnen konnte. Müssten sie dann mal sehen mit den Treppen und allem, wie sie das dann machen. Weiß man ja nicht, wie lang das noch geht. Sie war jetzt schon froh über jedes Mal, die sie ihr erspart blieben.

Stimmt, dachte ich. Sie hatte ich schon länger nicht gesehen, sah eigentlich nur noch ihn. Sah ihn mit der Post, den Einkäufen, dem Müll, dem Pfand, den Apothekentütchen.

Deswegen, weil ihnen da niemand was Genaues sagen und man da nur schätzen konnte, hat er ihr den Urlaub in die Wohnung geholt. Jetzt schon, bevor es wieder kalt wird draußen. Wenn dann auf dem Balkon ja auch kein schönes Sitzen mehr ist, so schön sie es da auch haben. Und das haben sie ja, betonte er. Auf jeden Fall haben sie es sehr ordentlich, dachte ich und nickte. Regelmäßig werden Stuhlpolster und Auslegware gesaugt, wird drübergewischt über Wachstischdecke, Armlehnen und Geländer, werden Lichterkette, Zierkrähe, Wetterhahn und Korbregal abgestaubt, wird der Efeu gestutzt, werden die zwischen Petunien, Pelargonien und Geranien steckenden bunten Solarschmetterlinge von Blütenstaub befreit. Einen neuen Sonnenschirm gibt es auch, einen weniger bunten, dafür deutlich größeren. Damit seine Elke sich nicht immer in den Schatten bewegen muss, wenn die Sonne zu viel wird. Und das wird sie ja schnell, wenn man sich nicht immer in den Schatten bewegt.

Ob ich einen Hometrainer gebrauchen könne, fragte er, mich dabei ganz selbstverständlich duzend. So einen, sagte er, umschloss mit den Händen zwei unsichtbare Griffe, während er die Arme abwechselnd vor und zurück bewegte und die Fußballen zeitgleich auf und ab. Ich verneinte. Geschenkt, er wolle da nichts für haben. Das sei ja jetzt kein Profigerät oder so, aber noch mit Garantie und zum Rumstehen einfach zu schade. Trotzdem nicht, trotzdem danke. Oder ob ich jemanden kenne, der einen braucht, überlegte er weiter. Dass ich mal rumfrage, sagte ich und wusste, dass nicht.

Ich kann nicht mehr sagen, was dem Gespräch vorausging. Was den Auftakt dazu bildete, dass er mir davon erzählte, neulich, an den Briefkästen. Ich den Müll in der Hand, er ein Schlüsselmäppchen und die Tür. Bislang hatten wir kaum mehr als Behelfsmimik, ein paar Höflichkeiten und Benachrichtigungskärtchen gegen gescheiterte Zustellversuche ausgetauscht.

Ich wohne eine Etage höher, genau über Springsteen und Elke. Wir haben also die Adresse, den Grundriss und Wände gemeinsam, die Räume teilen und nicht selten darin Geschehendes. Wenn Springsteen angestrengt hustet oder engagiert schnäuzt, dann ist das zu hören. Erst recht, wenn er niest. Jeder seiner Nieser, wirklich jeder, klingt nach Tobsuchtsanfall und so, als wäre unterdrücken gesünder. Wenn der Fernseher zu laut ist, hört man das und auch, wenn Elke das ebenfalls findet. Das Klingeln des Telefons und ihr gegenseitiges Inkenntnissetzen darüber? Das Zischen fettheißer Pfannen? Das Rauschen des Badewannenhahnes? Staubsauger? Einschätzungen zu Spielgeschehen und Personalpolitik seiner Borussia? Ebenso.

Und hin und wieder hört man Springsteen, also den echten. Ich weiß gar nicht mehr, wann es anfing. Wann ich das erste Mal mein Handy an die Tapete hielt und Shazam die Töne abnehmen ließ, die sich darin verfingen.

Vermutlich war es ein Mittwoch. Ziemlich sicher sogar. Denn immer mittwochs ist Jutta von nebenan zu Besuch. Ich kenne Jutta nur vom Grüßen, die drei kennen sich noch aus Konsumzeiten: Jutta und Elke Kasse, Springsteen Fahrer. Natürlich war er Fahrer. Straßen sind Straßen geworden, damit Typen wie Springsteen sie fuhren und Lederwesten Lederwesten, damit Typen wie er sie trugen. Dazu meist Schalke-Trikot oder T-Shirt mit Flockprint, Jeans, Allzweckschlappen und etwas, von dem ich annehme, dass es eine Mischung aus Old-Spice-Rasierwasser und, wenn es das gibt, Axe-Raststätte ist.

Sobald Jutta ihr stakkatoartiges Juttaklingeln klingelt, bleibt noch ungefähr eine Stunde, die Buchhaltung, oder was eben ansteht, fertigzubekommen. Danach ist es vorbei mit der Konzentration. Dann ist die Musik zu laut und Juttas Lachen, das an Old MacDonalds Farm erinnert. Je später der Mittwoch, desto mehr Tiere lacht sie.

Wenn die drei auf dem Balkon sitzen, setze ich mich zum Feierabend manchmal leise auf meinen, höre ihnen zu und der Musik. Wie heute. Im Moment läuft Scott McKenzie. Davor kam Supertramp und danach müsste Born to run kommen. Es ist immer dieselbe Reihenfolge. Inzwischen habe ich die komplette Mittwochsplaylist zusammen. Und auch die meisten Mittwochsgeschichten.

In letzter Zeit geht es oft um die Scheidung von Juttas Tochter und darum, dass Jutta ihre nie bereut hat, und zwar keine davon, es geht um „uns hier unten“ und „die da oben“, womit sie zu meiner Erleichterung nicht mich meinen, sondern die Regierung, die man komplett in den Skat drücken könne. Es geht um mir größtenteils unbekannte Nachbarschaft, um Parkraumbewirtschaftung, Balkongestaltung und Schädlingsbekämpfung, um Wetter, gestiegene Preise trotz gesunkener Qualität, fast immer auch um den Flaschenautomat beim Netto, der mal wieder oder immer noch kaputt ist.
Und es geht um früher, als vieles leichter war, aber bei Weitem nicht alles gut. Das mit dem Reisen, dass man das nicht konnte, nicht so jedenfalls, wie man wollte, das war, vor allem für Hungry-Heart-Springsteen, das Schlimmste.
Das macht schon einen Unterschied, ob man in Binz am Strand liegt oder auf Bali, ob man durch die hohe Tatra wandert oder durch den Grand Canyon, wo sie zwar nie waren, aber geht ja ums Prinzip. Elke war immer fürs Warme, Bali oder Thailand, aber am liebsten Bali, Springsteen fürs Kernige, die Rockies oder den Grand Canyon. Geeinigt haben sie sich dann meistens auf Kroatien oder Gran Canaria.

Heute kein Wort vom Reisen. Den ganzen Abend nicht. Und auch kein Born to run. Wenn Jutta heimgegangen ist und Elke schon rein, läuft der Song immer nochmal. Nur für Springsteen allein, der noch austrinkt, was auszutrinken ist, raucht, hickst, mitbrummt, dabei, so zumindest stelle ich es mir vor, vornübergebeugt sitzt, Ellbogen auf den Knien, der Kopf nickend, die Füße wippend, beides knapp am Takt vorbei, während er von der Freiheit träumt. Von den Rockies und dem Grand Canyon, von Kroatien und Gran Canaria. Inzwischen vielleicht auch von Binz. Weil es nun mal einen Unterschied macht, ob man Bali an der Wand hat oder in Binz am Strand liegt.

 

Anne Büttner

 

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2 | POEDU: Ari – Maurits – Stine

Die Wunschliste

 

Ich wünschte, ich könnte jede Sprache sprechen
Ich wünschte, dass ich alles außer nichts mache
Ich wünschte, nie mehr in die Schule zu müssen
Ich wünschte, dass ich nie im Leben egoistisch bin
Ich wünschte, dass ich mich nie verletze
Ich wünschte, dass ich keine Angst mehr vor Hunden habe
Ich wünschte, dass wir nie Hausaufgaben machen müssen

 

Ari, 6 Jahre alt

***

 

Ich wünschte, es gäbe eine Zeitmaschine.
Ich wünschte, ich hätte alle guten Bücher.
Ich wünschte, niemand beginge Straftaten.
Ich wünschte, es ließe sich alles ohne Geld regeln.
Ich wünschte, es gäbe eine mathematische Formelsprache, mit der man bei einem Streit einfach ausrechnen könnte, wer recht hat. (Davon hat bereits ein früherer Denker namens Leibniz geträumt.)
Ich wünschte, ich könnte bis Unendlich zählen.
Ich wünschte, ich wüsste alles Lernbare.

 

Maurits, 9 Jahre alt

***

 

Ich wünschte, es würde schneien.
Ich wünschte, wir bauten dann Schneefiguren.
Ich wünschte, ich könnte einen Schneeengel machen.
Ich wünschte, wir könnten Oma und Opa an Weihnachten sehen.
Ich wünschte, ich könnte meine Freunde treffen.
Ich wünschte, dass die beiden Schmetterlinge in unserer Kammer den Winter überlebten.
Ich wünschte, wir blieben alle gesund.

 

Stine, 12 Jahre alt

***

 

POEDU | Poesie von Kindern für Kinder.
Monatlich gibt ein*e Autor*in online einen poetischen Anstoß.

 

Dieser Impuls kam von Anke Bastrop:

Poesie und Wünschen sind fest miteinander verbunden, und zwar das ganze Jahr lang. Genau genommen kennt das poetische Wünschen keinen Raum und keine Zeit, keine Bedingungen und keine Grenzen. Stellt euch also vor, euer Wünschen wäre ganz frei. Alles, einfach alles dürft ihr sagen … natürlich auch eure Herzensdingwünsche – alles ist erlaubt ...

 

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1 | Susanne Gurschler

Lichter Schauer

Ins Unbestimmte des ersten Tages geschnitten
überall Zeichen – später
Zottelhund, der um die Ecke huscht
blonde Zöpfe die Steinstiege hinauf
Teufelskralle und aufgescheuchte Krähen
wie Kohlestücke aus dem erkalteten Steinkreis am Bödele

Unweit davon der Steilvorhang, über dem sich Büschel
bauschen wie Leinen im Wind
der Untergrund nur Unwissenden gewiss
allen anderen längst ein freier Fall
ein Kiesel ein Stein Größeres weithin zu hören

Ein Baumstamm, dessen Finger sich ins Lose kletten
verödet unter der Sonne
ein anderer meinte sich zu retten
indem er seinen Kopf nach oben warf
nun hängt sein dürrer Leib über dem Abgrund
die Wurzeln zu Hörnern verformt oder Schlimmeres

Etwas windet sich durchs immer bewegliche Grieß
die Schwanzspitze wühlt im Berg das Maul voller Geröll
ersoffen darin Kiefern Tannen Fichten so viele
hinunter- und hinausgeschwemmtes Leben
über die Kante gestoßen ins tosende Nichts

Modrig das Haar auf der Holzbrücke dann
doch noch denken an Dante: ein Blick hinab
und sandblaues Wasser so nah
dass lichter Schauer durch die Spalten greift

 

Susanne Gurschler

 

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freiTEXT | Marlene Schulz

Auf der Melibokusbank

In der Nacht hatte es geregnet. Die Wiesen waren noch feucht und die Luft war kühl an den Wangen und frisch. Ein feiner Nebel zog über den Gräsern auf.
Sie gingen hoch zu der Sitzgruppe, einem Tisch und davor einer Sitzbank aus grobem Holz, mit Blick auf den weit entfernten Melibokus. Oben stiegen sie über die Bank auf den Tisch und stellten sich nebeneinander. Das Holz war zu feucht, um darauf zu sitzen. Sophia tippte wortlos den gestreckten Zeigefinger an die Lippen und zeigte dann auf den Waldrand. Da stand eine Ricke mit einem Kitz. Nada nickte. Sie schauten eine Weile zu, sahen die Rehkuh aufschrecken und die Tiere davonlaufen.
Gestern hatte ich eine seltsame Begegnung, sagte Sophia.
Hier im Wald?, fragte Nada.
In der Bahn. Ich bin von Frankfurt nach Darmstadt zum Nordbahnhof gefahren. Wenn du da in den Zug steigst, kommt dir die Welt viel kleiner vor. Der Zug hat zwei kurze Wagen und alles wirkt wie ein größerer Bus auf Schienen, der in die Jahre gekommen ist.
Auf halber Strecke, da waren die meisten Leute schon ausgestiegen, kam ein Mann auf mich zu, ich saß auf einem Vierer, und der fragte, ob er sich zu mir setzen dürfe. Klar, hab ich gesagt, und da streckt der mir seine Hand entgegen und sagt seinen Namen. Ich war so perplex, dass ich ihm auch die Hand gab. Komisch irgendwie. Die hat er dann mit zwei Händen festgehalten, für mein Gefühl ein bisschen zu lang.
Hast du deinen Namen auch gesagt?
Ich hab erst mal gar nichts gesagt. Er hat dann geredet, hat gesagt, ich kann mir vorstellen, dass Ihnen das etwas eigenartig vorkommt. Nicht ganz gewöhnlich, hab ich gesagt. Ja, das trifft es.

Wissen Sie, sagte er, ich habe in einem Magazin über eine Studie gelesen. Solche Analysen sind immer sehr aufschlussreich. Da hieß es, dass körperliche Berührungen von Menschen und Tieren Schmerzen lindern können und Depressionsgefühle und Ängste.
Hm, hab ich gesagt.
Ich finde das sehr beeindruckend, sagte er. Die körperliche Gesundheit kann jeder Mensch dadurch selbst beeinflussen und seitdem ich das weiß, habe ich angefangen zu sammeln.
Was sammeln Sie denn?, hab ich gefragt.
Berührungen, meinte er.
Deshalb haben Sie meine Hand vorhin so festgehalten.
Sie haben es erraten, sagte er und dabei streckte er seinen Zeigefinger gefährlich nah zu mir herüber. Glücklicherweise blieb er sitzen.
Und führen Sie darüber Buch, was Sie so am Tag gesammelt haben?, hab ich gefragt. Vier Mal Händeschütteln, drei Mal Armberührung, zwei Mal Anrempeln in der Straßenbahn im Berufsverkehr? Weihnachtsmärkte müssten da ja sehr ergiebig sein oder Demos.
Nein, wo denken Sie hin, sagte er. Ich mache keine Strichlisten, ich sammle einfach nur die Berührungen. Volksfeste sind ein guter Fundort, auch Bahnsteige. Da stelle ich mich am ankommenden Zug vor die Tür und bleibe einfach kurz vorm Reingehen stehen, während die anderen alle in die Bahn wollen. Da gibt es ganz viel Berührung, nicht immer freundlich, aber Körperkontakt von mehreren Seiten. Je häufiger, umso gesünder. Umarmungskissen gehen natürlich auch, sagte er. Oder Gewichtsdecken. Aber so etwas habe ich nicht zuhause. Ich mag es lieber natürlich, so von Mensch zu Mensch. Und wissen Sie, was die herausgefunden haben?, fragte er.
Die Forscherinnen meinen Sie?
Forscherinnen?
Ja, die Forscher stecken ja sowieso im Wort, sagte ich. Sie machen mich neugierig, was die entdeckt haben.
Ach so, sagte er, und ja, stimmt. Die haben herausgefunden, dass es gar nicht auf die Länge der Berührung ankommt. Da gibt es keinen Unterschied, ob es um zehn Sekunden geht oder um eine Stunde.
Okay, sagte ich.
Aber noch interessanter ist, sagte er, wo die Berührung am wirkungsvollsten ist.
Irgendwie war ich plötzlich alarmiert und dachte so bei mir, hoffentlich ist das jetzt harmlos. Ich hab mir alles Mögliche ausgemalt, wo das sein wird, auf Herzhöhe oder direkt unterm Bauchnabel oder am Hintern, und dass der mir dann die Stellen genau an sich zeigt und hoffentlich nicht an mir.
Am Kopf, sagte er da.
Am Kopf, hab ich dann wiederholt und war erleichtert.
Kurz vor der nächsten Haltestelle stand er dann auf, guckte mich an und sagte: Hätten Sie etwas dagegen?
Gegen was?, hab ich gefragt.
Nur eine kleine Berührung, so von Stirn zu Stirn, also von Kopf zu Kopf. Für meine Sammlung.
Für Ihre Sammlung, hab ich gesagt.
Ich sammle doch Berührungen.
Ja, das sagten sie, sagte ich. Er stand ja da so vor mir und ich, ich hab gesessen. Von mir aus kann der ja sammeln, was er mag. Ich bin auf jeden Fall für gesunde Sachen, und dass da einer für sich selbst sorgt und alles, finde ich wirklich super. Der kann vor jeder Zugtür stehen bleiben und warten, bis alle eingestiegen sind und beim nächsten und übernächsten Zug nochmal das Gleiche, von mir aus den ganzen Tag und meinetwegen auch die Nacht, alles fein, aber stell dir vor, dich will auf einmal jeder Mensch am Kopf anfassen, da wirst du doch verrückt von diesem ganzen Kopfgetatsche.
Und was hast du gemacht, fragte Nada und guckte mich von der Seite an. Ich schaute auf den Melibokus.
Hast du’s gemacht? Nada kräuselte die Augenbrauen und legte den Kopf ein wenig schief. Hast du nicht, sagte sie. Oder?
Ich hab ihm gesagt: Tut mir leid, aber ich habe da einen ganz schlimmen unsichtbaren Ausschlag am Kopf, ich möchte sie auf keinen Fall anstecken. Ich mag Ihre weitere Sammlung nicht gefährden.
Da hat er seine flache Hand auf den Mund gelegt und große Augen bekommen, ist dann sofort aus dem Vierer raus auf den Gang und weg war er.

 

Marlene Schulz

 

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freiVERS | Torsten Siche

letztlich nutzlos die Kraft
in den Fingern die Melodie
klebt an den Lippen kostbar
wie Brausepulver einst
und immer übrig geblieben
als jede jeden zum Essen rief

keine Vögel kommen vorbei
trotz Herbst keine Not auf dem Spielplatz
hocken die Krähen im Sand zwischen den Fingern
zerrinnen die Krümel eine Spur hinter der Scheibe
verschwimmen die Lippen zum Sumpf
da wo einst Wärme war und Wimpernschlag

kein Igel im Laub kein Scharren
im Dickicht lauert kein Trost
von der Schaukel tropft es
Tränen zäh oder zögerlich
nichts drängt sich auf
oder will willkommen sein

kein getretener Hund streunt
vor deiner Tür klafft keine Wunde
kein Wimmern hinter der Wand
nur das Kinderlachen scheppert
im Fahrstuhl hinab

 

Torsten Siche

 

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freiTEXT | Carolina Reichl

Plus, Minus, Notizen

mit L. zusammenbleiben:
+ er liebt dich
+ du liebst ihn
+ du kannst mit ihm lachen, über alles und nichts
- ihr streitet zu viel
+ ihr streitet eigentlich nur, wenn ihr betrunken seid
- er trinkt zu oft und zu viel
+ er sagt, er will sich ändern
- er hat schon oft gesagt, er würde sich ändern
- deine freundinnen sagen, du verdienst was besseres
+ deine eltern mögen ihn
+ seine mama mag dich
+ seine freunde sagen, du tust ihm gut
+ ihr seid seit 6 jahren zusammen
+ er ist dein erster freund
- er ist dein erster freund
- du fragst dich manchmal, wie es wäre, mit jemand anderem zusammen zu sein
+ du kannst bei ihm sein, wie du bist
- er sagt, deine oberschenkel wären fester geworden
+ der sex
+ die neue wohnung
- seine eifersucht
+ er sagt, er will dich nicht verlieren
+ er sagt, er kann sich eine zukunft mir dir vorstellen
+ du bedeutest ihm viel, ohne dich fühlt er sich leer
- er hat dich bitch genannt
+ er ist kreativ
+ er ist ehrgeizig
+ du kannst ihn glücklich machen
- das glück ist nie von dauer
+ er sagt, du bist was besonderes
+ du weißt, es fällt ihm nicht leicht, sich zu öffnen, aber für dich versucht er’s trotzdem
+ so offen wie mit dir spricht er sonst mit niemandem über seine vergangenheit
- er ist unpünktlich
- er entschuldigt sich für seine unpünktlichkeit nicht
- wenn du weinst, wird er wütend
+ er schenkt dir blumen
+ er mag dieselben serien wie du
+ er kocht gerne
- du hasst es, wenn er in seiner nase bohrt und glaubt, du merkst es nicht
+ du magst, dass seine augen unterschiedlich sind, das eine grün, das andere blau
- er hat dich betrogen
- er hat es nicht zugegeben, als du ihn danach gefragt hast
+ es ist nur einmal passiert, sagt er, und er war betrunken
+ es tut ihm leid
+ er sagt, es war ein fehler
+ er sagt, dass es für alles eine lösung gibt
- was, wenn er wieder fremdgeht?
- was, wenn du ihm nicht verzeihen kannst?
+ du kannst mit ihm über alles reden
+ er hört dir zu, wenn dich was bedrückt
+ er vertraut dir
+ du bist die einzige, die weiß, dass er antidepressiva nimmt
+ er sagt, er kann sich nicht vorstellen, mir jemand anderem so glücklich zu sein
- du hast angst, dass es dir irgendwann zu viel wird
+ er gibt dir selbstbewusstsein
+ er sagt, du gibst seinem leben sinn
+ du kannst an dir arbeiten, wenn du genug an dir arbeitest, wird alles wieder gut
- du schreibst diese liste nicht zum ersten mal
+ er liebt dich
+ du liebst ihn

 

Carolina Reichl

 

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freiVERS | Magdalena Resch

EINS

Blätter kitzeln einander
und tanzen im
Windestakt
durch den
Nebelnieselregen.
Ader für Ader.
Wie oben so unten.
So halten die vergrabenen
Wurzeln
die flatternde
Leichtigkeit
die mit einer
nadeldicken Ader
an der Starrheit des
Stammes hängt.
EINS.

 

Magdalena Resch

 

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freiTEXT | Jan David Zimmermann

Onkel Fritze

Schmerz ist das stärkste Mittel der Mnemotechnik. – nach F. Nietzsche

Haarmann hat sich aufgerichtet. Er hat sich aufgerichtet und hat die Teerbrocken ausgehustet, die jeden Morgen auszuhusten sind. Immer, ausnahmslos… ja, jeden verdammten Morgen das durch das Rauchen verursachte Aushusten von Teerbrocken. Zumindest fühlen sich diese klumpigen Rachenablagerungen so an wie Teer, dachte Haarmann nun in der Dämmerstimmung des Morgengrauens.
Er hat sich aufgerichtet, sein feister Körper hat sich in der Mitte also rechtwinkelig geknickt, wobei ihm die abgewetzte dünne Decke wie eine zweite Haut von der breiten Brust um den Bauch rutschte. Dann hat er die Beine ausgestreckt und die Arme ebenfalls. Warum macht man das?, hat sich Haarmann wohl gefragt, warum streckt man sich in der Früh? Versucht der Körper etwas loszuwerden, was in der Nacht in ihn fälschlicherweise hineinkam?, klang es in seinem Ohr. Haarmanns Lippen haben unter dem vom Polster der Nacht aus der Ordnung gebrachten englischen Schnurrbart kurz gezuckt. Er hat neben sich eine zweite, zerwühlte Decke gesehen, aber neben ihm lag niemand. Ihm war eigenartig zumute. Und nun war es ihm auch wie ein Déjà-vu, in der Früh so aufzuwachen und sich dies zu denken, die Lippen zucken zu spüren, die zerwühlte Decke zu sehen, und sich eigenartig zu fühlen, ein leichtes Grausen zu fühlen, das um ihn waberte. Er hat nun genauer in das Halbdunkel der Frühe geschaut, angestrengt hat er versucht, Neues zu entdecken, herauszufinden, warum ihn das leichte Grausen befiel. Da ist ihm plötzlich im Dämmerdunkel das konstante Sehfeld aufgerissen und ebenjene schwarzen kleinen Kristalle sind durch den Raum geschwebt, die entstehen, wenn man sich zu lange nach unten bückt und anschließend schnell wieder aufsteht. Warum zerbröselt mir die Sicht derart, wenn ich mich aber doch gar nicht nach unten bücke und dann schnell wieder aufstehe, sondern nach wie vor im Bett sitze?, hat Haarmann sich gefragt und ihm war noch seltsamer zumute als zuvor. Der entblößte schwammige Brustkorb ist nun auch zusätzlich von der kalten Luft angegriffen worden, die das undichte Fenster mit der dünnen Scheibe einströmen ließ. Einem innerlichen Frösteln folgte also, mehr oder weniger, aber eher mehr, ein äußeres Frösteln. Langsam beruhigte sich sein Sehfeld wieder etwas. Haarmann hat die Arme links und rechts neben sich in die quietschende und durchgelegene Matratze gestützt, hat einen dunklen Fleck in die Grobkörnigkeit seiner Decke geschaut, die noch um seine Füße geschlungen war. Dachte, er hat dort etwas gesehen, hat aber nicht gewusst, ob es nur das zu lange Starren auf einen Fleck war, das ihn dort, auf seiner Decke etwas vermuten ließ. Die Dämmerung des Morgens entstellt die Dinge, klang es in seinem Ohr. Haarmann hat genickt und die allgemeine Grobkörnigkeit der Dinge und Gegenstände bemerkt und sich nun wieder hinlegen wollen, hat sich die Hautlappen der glatzigen Decke geholt und seine Brust wieder bedeckt, den Kopf in die Kissen gesenkt. Auf den Plafond starrend war er nun aber wach und musste an Hildesheim denken, es strömte nun unaufhaltsam auf und in ihn ein; die Schwere der Dinge in der Nacht kann bisweilen von einer noch größeren Schwere der Dinge in der Früh abgelöst werden, klang es in seinem Ohr. Er musste nun an das Kranksein denken, er erinnerte sich an die Worte des Arztes und konnte sich an dessen von Schweißperlen umkränzten Mund erinnern, als dieser damals die Diagnose aussprach. Haarmann musste nun also das Wort Jugendirresein in sein Bewusstsein lassen, musste also am Ende sich in einem kranken Zustand und seine Krankheit und alles damit Zusammenhängende in sein momentanes Bewusstsein eindringen lassen, ohne Unterlass. Das Wort Jugendirresein penetrierte seine Gedanken und zerhackte die Wohlgeformtheit seiner Gedanken, zerrieb die Syntax seiner Gedanken, zerstob die Semantik seiner Gedanken, zersetzte die Logik seiner Gedanken. Ein Summen und Surren dieser losen, zerbrochenen, nunmehr wirren Gedanken. Nun hörte er in all diesem dröhnenden Gedanken-Strömen die Jungen sprechen, die Puppenjungs, wenn sie ihn zärtlich „Onkel Fritze“ nannten. Dieses „Onkel Fritze“, das sie von sich gaben, wenn sie sich um Haarmann geschlungen hatten, mit ihm so im Bett lagen, ihn dann küssten und so weiter. Dieses Bild stach nun in Haarmanns Kopf, flackerte auf.
Haarmann hat sich daher wieder vollkommen aufgerichtet, so als könnte er dadurch den Gedanken entkommen, so als gäbe es die Gedanken und Bilder nur in einer bestimmten Position. Haarmann hat sich also aufgerichtet, hat sich im schweißverwetzten Bett herumgedreht, sich mit erhöhtem Oberkörper die Decke noch fester um die Beine geschraubt, die zweite Decke lag nach wie vor zerwühlt neben ihm und er fragte sich nun endgültig, was es mit ihr auf sich hatte, wo er doch alleine war. Im langsam sich erhellenden Zimmer konnte er nun eigenartige Flecken auf dieser Decke erkennen. Er fasste einen Entschluss und begann, auf die zweite Betthälfte zu kriechen. Haarmann ist nun also im morgendlich erhellten Raum mit von seiner eigenen Decke umschlungenen Beinen zu der anderen Betthälfte gekrochen, ist an und über die zerwühlte zweite Decke gekrochen und hat schließlich beim Lüpfen der anderen Decke das Blut bemerkt, das sich in dieser Betthälfte befand und das Laken darunter getränkt hatte. Haarmann hat die Augen entsetzt aufgerissen und ist weiter bis zur Bettkante gekrochen.
Da hat er am Boden einen liegen sehen, hat gesehen wie die Morgensonne, nunmehr endgültig in das Zimmer eingedrungen, auf den Körper des toten Jungen fiel. Haarmann sah den nackten und schönen Körper des Puppenjungen, sah aber gleichzeitig dessen zerwühlte Kehle; zerwühlt wie Decken in der Früh.

 

Jan David Zimmermann

 

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freiVERS | Dörthe Huth

In Gesellschaft des Wassers

Du betest für Regen
in der Hoffnung
dass er singt
wie ein krächzender Vogel
während der Dürre des Sommers
im Tanz der Tropfen fühlt sich
das Leben leichter an
glaubst du
umschlossen von dumpfer Stille
halte ich das Gleichgewicht
und spiele toter Mann
mit geöffneten Augen
fixiere ich die Wolken
damit die Vorzeichen
nicht aus dem Blickfeld verschwinden
die schweren Wolken ziehen vorüber
Regen fällt nicht.

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Dörthe Huth

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