freiTEXT | Katharina Pressl

Hawaii ohne Schinken

An der Straßenbahnhaltestelle legt ein Mann den Kopf in den Nacken und stochert zwischen den hintersten Backenzähnen mit einem Schlüssel herum. Er findet etwas, holt es mit der Schlüsselspitze heraus, begutachtet die Hülse vom Maiskorn und wischt sie in die Hose. Mit der Zunge kontrolliert er, ob der Schlüssel wirklich alles herausholen konnte, was es zwischen den Zähnen herauszuholen gibt. Er schmatzt und steckt den Schlüsselbund zufrieden ein.

Die falsche Straßenbahn kommt.

Ich bin mit Josi für Pizza verabredet. Wir werden reden müssen und dabei Schwierigkeiten haben, eine Art zu finden, die nicht wie jammern und nicht wie angeben ist. Unser Gespräch wird in der Art eines Systemupdates sein, etwas, das man wegklicken will, aber noch abwarten muss, bis man zur Verwendung der eigentlichen Software kommt.

Mit Josi kommt man dort hin, mit Josi kommt man überall hin. Selbst in einen Zustand, in dem ihr Jammern ertragbar ist, besser als jedes andere frühzeitige Aufgeben aller anderen Menschen. Nach ihrem Jammern schafft Josi es in den allermeisten Fällen noch heraus, und hinein in diese goldene Zone, wo alles glänzt, wo ihr Mund eine Muschel ist und mein Ohr ein Ohr und wir, wir diskursiv am Strand liegen. Ach, Josi du softeste aller Softwares, nie würde ich dich wegklicken.

Die richtige Straßenbahn kommt und der das Leben offensichtlich ohne jegliche Furcht bestreitende Dentalhygieniker steigt ein, ohne vorher aussteigen zu lassen.

Die Türen piepsen, mein Körper will mit. Mein Körper weiß, entweder er steigt sofort ein, oder es gibt Probleme: Steigen Sie bitte nicht mehr ein, sie verzögern die Abfahrt.

Ich gehorche, steige nicht mehr ein, keine Probleme, nichts zu danken. Ins Handy tipp ich: Kann leider doch nicht kommen, tut mir voll leid, Josi.

Meine Daumen halten inne.

Ich schaue nach rechts; niemand sieht mich, Josi nicht, kein Richter, allen alles egal.

Geht mir nicht gut, schreibe ich und drehe um, meine goldenen Hauszahnstocher klimpern in der Hosentasche, ich seh mich schon aufsperren und doch zuhause sein, und stumm.

Die Straße entlang bergab trifft man immer wen von den Verrückten. Ich habe mich mit ihnen darauf geeinigt, dass, wenn ich es ausspreche wie Farugde, dann ist es losgekoppelt vom Wort verrückt und den pathologischen, abwertenden Bedeutungen. Und ich kann die Beschreibung als Beschreibung verwenden. Ich habe mich mit ihnen darauf geeinigt. Ich habe mich mit ihnen stumm darauf geeinigt, ohne sie zu fragen.

Eine der Farugdn sammelt jedes Papierstückchen auf, das auf dieser Straße liegt, speibt sich manchmal ein bisschen vorne aufs T-Shirt und sitzt bei allen Wetterlagen ohne Leggins auf der Bank bei der Bushaltestelle. Der andere Farugde bietet pantomimisch Massagen an. Auch dem Farugdn, der nie schnorrt, nie fragt er um etwas, raucht die Tschickstummel vom Boden auf.

Und es gibt noch den hübschen Farugdn.

Der hübsche Farugde trägt mal einen Blaumann von oben bis unten, einen Wintermantel im Sommer, mal Baggy-Fishbone-Hose, mal Hemd, mal Trainingsjacke mit Hornbachaufdruck. Seine Kleidungsstücke sind sauber und groß, die Haare und das Gesicht hübsch. Er geht auf und ab. An manchen Tagen murmelt er vor sich hin, als hätte er seine Farugdheit einem Film abgeschaut, und nicht umgekehrt. Sechs Jahre haben die Farugdn noch, dann ist die U-Bahn-Erweiterung fertig, ich vermute, dass sie dann hier nicht mehr, oder nicht mehr auf so gerader Linie gehen werden. Einmal in diesen nächsten sechs Jahren bekomm ich den Mut zusammen und frage den hübschen Farugdn eine Frage, ich weiß noch nicht welche.

Geht man pferdezopfig, hautcremeglänzend täglich zur exakt gleichen Zeit außer Haus, so, dass man beim Today-Shop vorbeikommt, gerade wenn der Besitzer die Kisten unter die kleinen Markisen räumt, jeden Tag gerade als er die Paprikakisten neben die Wassermelonenkisten stellt, dann ist der hübsche Farugde eine Herausforderung. Zuerst gefallen einem die Sandalen, dann fängt man an ihn zu beneiden, ihn dort zu berühren, wo der Bart grob wird. Dass er gar nicht mehr anders konnte. Dass er so entsprechend auf die Umstände reagiert. Dass seine Fähigkeiten an einem unverkäuflichen Ort liegen, von dem nur er weiß. Ob man es schaffen könnte, so sein wie er? Ob man sich in Farugde verlieben darf? Er geht auf und ab, mit sich, gibt nur das Allernotwendigste an die anderen ab. Nicht wie ein Säugling, wie ein unzufriedenes großes Tier in einer kleinen, schlecht durchlüfteten Wohnung, und wenn wer die Wohnung sieht, schütteln sie den Kopf, sagen unisono, Wohnungen seien die falschen Lebensumstände für solche Tiere. Diese kompromisslose Unzufriedenheit bekommen ich und der Supermarkt nicht hin. Jeden Tag sperren wir auf. Die Welt mag eskalieren, aber so mag der Zopf gemacht werden, das Gesicht eingecremt, die Paprika herausgeräumt. Bus noch erwischen, Wassermelone halber Kilo 6 Euro.

Josi Namen blitzt am Handybildschirm auf wie ein Schulterklopfer aus einem Paralleluniversum: Davon geht die Welt nicht unter.

Ich komme an der Post vorbei, dort steht ein Mann im Rollstuhl vor der Abholstation B. Eine Frau tritt mit einem kleinen Hund an der Leine heraus, der am Rollstuhl und am Mann schnuppert und beginnt hochzuspringen. Die Frau versucht ihn zurückzuhalten, reißt an der Leine, Güüünther. Der Mann erstarrt. Der Hund heißt Günther? Die Frau nuschelt den Beginn einer Geschichte, irgendwas mit Wer wird Millionär. Der Mann unterbricht: Ich heiß auch Günther!

Ihr Lachen macht mich hungrig. Josi mit einer Lüge abzusagen war doch farugd, farugd auf die schlechte Art. Essen muss man ohnehin, und dazu zu jammern eigentlich toll, aufnehmen, abgeben. Und wem gehts schon irgendwie. Der Zeigefinger tut dort weh, wo ich mit dem Daumennagel meine Reue über die Absage hineinsteche. Morgens zur Paprikakisten-Zeit das Haus verlassen, aber abends nicht in die Pizza-Straßenbahn einsteigen, Zahnhygienen beurteilen und selber keine machen. Benennungen durchführen, außer für sich. So geht das nicht, da ist doch – ich stolpere.

Ich stolpere über eine Weinflasche vorm Altglascontainer schräg gegenüber von der Post, ich stolpere und komme mit dem Nasenbein dort auf, wo die Flaschenhälse aufkommen, wenn man nicht ganz in das Loch trifft, und die Scherben auseinanderbersten und darunter auf den Boden fallen und den neugierigsten Volksschüler:innen am nächsten Tag in die Finger schneiden. Ich denke an ihr Blut, während meines in die runde Buntglasöffnung tropft. Ich halte meine Nase wie einen Dartpfeil senkrecht. Ist mir schwindelig, wird mir schlecht? Ist reden angeben? Ist jammern aufhören? Sind Muscheln gute Zuhörer? Sperren Schlüssel Zähne? Geht Josis Welt echt nicht unter, wenn sie Pizza Hawaii isst, ohne Schinken, und ohne mich? Welchen Namen geben die Farugdn mir?

Ich tropfe einen Blutweg bis vor die Haustür. Es gibt so einen Trick, wenn man richtig an der Haustür zieht, geht sie ohne Schlüssel auf und mit einer Hand. Mit einem Spar-Prospekt versuch ich meine Nase zu trocknen. Das Haus wird frisch ausgemalt. Die Treppe und das Geländer sind von oben bis unten in Plastikfolie eingepackt. Am Boden liegt graues Vlies, mit bunten Fäden. Die Klingel, der Lichtschalter und Türgriff sind mit Malerkrepp abgeklebt. Zu jedem vom Vlies gedämpften Schritt über die Stiege hoch halten mir die Wände dumm dumm dumm dumm dumm dumm vor. Obwohl hin und wieder ein Hund ins Stiegenhaus kackt und es keiner wegräumt, versuche ich keine Rotzblutspuren zu hinterlassen als Einstimmung auf die Vorsicht, die einem ein sehr weißer Raum abverlangt. Wo werden die Hunde dann kacken? Während es in der Nase weh tut, denke ich darüber nach, wie ich davon erzählen soll, dass es weh getan hat. Nie weiß ich, wie man spricht. Was ich schon weiß, im Rückblick wird die Chronologie von der Absage an Josi und Nasenbluten durcheinanderkommen, zuerst Glascontaineraufprall, dann erst keine Pizza.

Vors Badezimmerfenster, das zum Gang hingeht, ist eine Plastikfolie gespannt. Gestern blieb nach dem Duschen der gesamte Dampf im Badezimmer. Ich habe mit der Nagelschere Löcher in die Folie hineingestochen. Heute war das Fenster von außen wieder mit Malerkrepp zugeklebt. Diese Genauigkeit, diesen Schutz der Scheibe vor weißen Flecken, diese Abgepacktheit wünsche ich mir. Oder verachte ich. Beides zutiefst. Selbst die Wohnungstür ist jetzt mit Plastikfolie abgeklebt. Ich steige durch einen Schlitz in die Wohnung wie ein Kind ins Trampolin. So riecht also das eigene Leben. Plus Blut. Oder minus Blut. Von der Couch schicke ich Josi ein Foto mit dem zusammengeknüllten Prospekt in meinem Gesicht. Sehr tragisch. Ich grinse. Vielleicht ist es die beste aller Möglichkeiten. Vielleicht geht es nicht besser als ausmachen und unterwegs absagen; losgehen, aber nicht weiter. Auf etwas zusteuern, dann umdrehen. Turnier ohne Finale. Farugde ohne Heilung. Und Hawaii ohne Schinken für Josi allein.

 

Katharina Pressl

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