freiVERS | Marie Sophie Römer
Bis das Vergehen bleibt
die hundejahre vergehen
und die hundejahre vergehen
und die hundejahre vergehen
bis das vergehen bleibt
special films
i’m going mentally ill
neoliberal hell
glee moments i'll still be thinking about when i'm 60
gaza death toll hits 37,900
donna tartt interview
tradwife
is the far right gay friendly now?
incel baiting
hopecore
obama is not my hero, i'm a socialist
die hundejahre vergehen
und die hundejahre vergehen
und die hundejahre vergehen
bis das vergehen bleibt
supreme court rules trump immune from prosecution
i'm everywhere i'm so julia
jacob elordi in saltburn
subtle ways my stepdad groomed me
hannah horvath being the voice of her generation
kamala is brat
how antisemetic are pro palestine protests
hot rodent boyfriend
die hundejahre vergehen
und die hundejahre vergehen
und die hundejahre vergehen
bis das vergehen bleibt
genz z too lazy to work
israel fears the very existence of palestine
how do you get pussy?
this election is so joever
ikea haul extreme edition
spongebob moments that were surprisingly communist
pussy from abortion ban
cringecore
pussy from 4b movement
donald trump is president
i'm so eepy
die hundejahre vergehen
und die hundejahre vergehen
und die hundejahre vergehen
bis das vergehen bleibt
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiTEXT | Sean Keibel
Die Regeln unseres Hauses
Die Regeln unseres Hauses landeten wie vom Himmel gefallen eines Tages einfach auf dem Tisch. Dort wurden sie dann ohne Umschweife ausgebreitet, wie man einen Fächer öffnet, und als vollendetes Regelwerk ohne Diskussion eingeführt. Zeit für eine Diskussion wäre zweifellos gewesen, auch in der Folgezeit für viele Diskussionen noch, man machte uns sogar das Angebot dazu, offerierte kleine Geschenke, bettelte uns schließlich geradezu auf Knien an – alles umsonst, wir konnten nichts mit den Regeln anfangen außer sie zu befolgen. Etwas anderes ließen sie nicht zu. Allein schon weil beim Lesen – wenige wagten sich an das Unterfangen alles durchzulesen, und wessen Augen durch die tausend Querverweise noch nicht nach links und rechts ausgeschlagen waren, der konnte sie fortan für nichts mehr benutzen und war als unbrauchbar gezeichnet für das Haus – weil beim Lesen schon die nächste, die übernächste Regel sich dreist hineinschob, schließlich eine oder mehr von einem ganz anderen Ort, allein schon deshalb blieb uns nichts anderes übrig als sie alle abzunicken.
Mancher Fremder, der kam, um Gast zu sein in unserem Haus, zeigte sich schockiert über unsere vollständige Einbindung ins Regelwerk, über den Grad unserer Aufopferung, und natürlich witterte er Ausbeutung, was er uns freilich verschwieg, um uns ein würdeloses Eingeständnis zu ersparen. Stattdessen wurde zu einer späten Stunde – wir lauschten in solch einem Fall – der Hausherr konfrontiert, der sich zur Überraschung noch jeden kritischen Gastes überaus verständig zeigte. Mit einem Ton der Dankbarkeit, wie wenn man nach jahrelangem Alleinstehen mit einem Problem endlich ein offenes Herz und Ohr gefunden hat, versicherte er dann seine eigene Unzufriedenheit mit der Lage, worauf der Gast beruhigt gehen konnte, denn er hatte seine Schuldigkeit getan.
Die Regeln griffen ineinander, und selbst wenn sie es nicht getan hätten, wären sie voneinander gerade einmal soweit entfernt gewesen wie Bruder und Schwester; aus dem gleichen Leib kamen sie, den wir natürlich nicht kannten, in den wir also keine Einsicht hatten, weshalb wir auf ihre Sinnhaftigkeit und Unaustauschbarkeit vertrauen mussten – das wiederum hatte der Hausherr nicht gern, doch beschwerte er sich nie bei uns, allzu bewusst war ihm das Zutun seines eigenen mangelnden Umgangs mit uns zu unserer Hilflosigkeit. In der Konsequenz all dessen wurden wir zu den fleißigsten Regelbefolgern überhaupt, denn der einfachste Umgang mit Regeln ist, sie zu befolgen. Schon beim leisesten Versuch, einmal zwei oder gar drei Regeln gedanklich zusammenzubringen, wurde uns schwindelig. Die Regeln des Geschirrspülens überschnitten sich mit den Regeln des Kücheputzens, dies über das Element des Fußbodens, der sowohl gewischt zu werden hatte als auch nass werden konnte beim Geschirrspülen; über denselben Fußboden überschnitten sich die Regeln des Kücheputzens mit denen des Dieleputzens; die überschnitten sich mit denen des Kohlenschaufelns und -lagerns, welches sich in der Kammer unter der Treppe abspielte; die mit denen des Auskratzens und Wiederbeladens der Feueröfen. Nur einer war verantwortlich für nur eine Aufgabe, die Regel saß an der Verbindungsstelle zweier Aufgaben, derer es pro Aufgabe einige gab, sodass ein Einzelner durchaus mehrere Regeln beherrschen, aber niemals mehr als eine auf einmal beherzigen musste. In der Aufgabe lag die völlige Verausgabung.
Daran hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert. Der Vorabend des Aufstands ist noch fern; werden wir auch einmal unseren Hausherrn stürzen, und so kommt es gewiss, wird doch keine Revolution daraus werden; schon sehe ich uns Kopf kratzend um das Regelwerk stehen, den Hausherrn im Ofen, wir allesamt unfähig, Justierungen daran vorzunehmen. Hätte man es uns nur nicht als Ganzes, als Fertiges vorgelegt – so aber kann man es nur ganz annehmen oder ganz verwerfen. Ist auch fast alles darin hervorragend gelungen und nur eine Regel missraten – das Werk ist entweder ganz geglückt oder ganz verdorben. Aber das müssen meine Brüder und Schwestern selber begreifen, wenn er da ist, der Moment, dass man bereit sein müsste, eine ganze Zivilisation zu verwerfen, wenn man nicht flicken kann. Die Regeln unseres Hauses werden bleiben, nicht solange der Hausherr, sondern solange das Haus bleibt.
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiVERS | Christina König
ich freu mich so für dich
die worte wachsen aus deinem mund wie
blumen in pink und senfgelb
sie krabbeln kriechen kitzeln über deine lippen
entfalten sich mit allem was sie
zur fortpflanzung brauchen
narbe griffel fruchtknoten
und hängen dir aus den mundwinkeln
und alle sagen schau wie hübsch
du streichst dir die haare zurück und die
efeuranken rascheln unter deinen fingern
du rupfst und zupfst und reißt sie aus und
machst ein extrakt daraus und
schmierst es über alle deine worte
wenn du es richtig gemacht hast dann
heilt es und
wenn nicht dann
ist es gift
aber nur für dich
knorrend kratzt du dir die adern auf und das
harz tropft wie hässlicher honig über deine haut
fängt die fremden triumphe ein und
sperrt sie in bernstein bevor sie
in deinen blutkreislauf dringen
dort trägst du sie wie schmuckstücke aus
prähistorischen zeiten und hoffst dass sie
brechen und bröckeln und
von deinem körper verschwinden bevor
jemand sieht dass sie
nicht dir gehören
die anderen wässern deine blüten bestäuben und
befruchten sie und
streuen die nächsten samen
ihr lachen liefert sonnenlicht
ihre worte atmen kohlendioxid und
die keimlinge winden sich um deine zunge
ich freu mich so für dich sagst du
und die nächsten blumen quetschen sich an deinen
zähnen vorbei
alpenveilchen und amaryllis
du duftest wie der garten eden
nach dem sündenfall
ranken schlängeln sich durch deine adern und ihre
dornen brechen aus dir heraus wie felsnadeln
schneiden dir waffen an die haut an denen du
dich selbst schneidest
alle bewundern deine blüten und du
bist das unkrautjäten müde das
düngen stutzen mulchen rechen
damit du nicht untergehst in deiner
blütenpracht und die
blätter dir nicht die lunge verstopfen
inzwischen erkennst du die fleischfressenden pflanzen hast
venusfliegenfalle und sonnenkraut identifziert und
reißt dir die wurzeln aus auch wenn sich
dann alles entzündet
deine adern schimmern grünlich durch die
verbrannte haut du kriegst
zu viel sonnenlicht ab aber deine
pflanzen wollen gedeihen
du verdeckst die bienenstiche mit
einem vorhang aus laub und
tupfst blut und eiter und pflanzensaft ab
aloe vera wächst dir noch nicht
die ränder der blüten rollen sich ein wie der
rote teppich nach der premiere
braun kräuselt sich das grün es
färbt sich braun und erbricht sich
vor deinen füßen
du gehst über blumenleichen und
hinterlässt welke fetzen
deine borken vertrocknen verblassen vereisen
es ist winter und du wirst
grau und kahl und
schließlich
stirbst du ab
deine knollen speichern nichts
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiTEXT | Clemens Braun
Halbzeit
Ich bin zu fünfzig Prozent in die Falle gelaufen, dachte ich, Jots Worte noch einmal wiederholend, die nicht nur ihre, nein, ursprünglich auch die Worte jenes Querulanten gewesen waren, der seit Jahren meine Familie, die Familie meines Onkels und somit eines berühmten österreichischen Dichters mit seinen unerwünschten Wortspenden und noch weniger erwünschten Bittgesuchen in strafrechtlich relevanter Weise zu belästigen pflegte, der aber tatsächlich, wie er bei seiner Einvernehmung, die einstweilige Verfügung gegen ihn betreffend, zu Protokoll gegeben hatte, zu fünfzig Prozent in die Falle gelaufen war. Seine in jeder Beziehung prekäre Lage, die natürlich auch Gesprächsthema auf der Familienfeier im Waldviertlerhof war, erinnerte mich an Jot, an ihre Verfassung als wir uns vergangenen Juni, mühevoll der Rube-Goldberg-Maschine der Deutschen Bahn entkommen, in einem winzigen bayerischen Kurort wiederfanden, um an einer wissenschaftlichen Tagung teilzunehmen.
Seitdem sie ihre Fünfzigprozentsstelle angetreten hatte, bei der er sich de facto um eine Hundertprozentstelle handelte, so wie alle de jure Fünfzigprozentsstellen de facto Hundertprozentstellen sind, hatte sich ihre ohnehin ins Katastrophische tendierende Weltanschauung nur verdüstert. Das Unglück, sagte sie, fange jeden Tag aufs neue in der Früh an, habe man Schlafstörungen, gebe es den Morgen, der die dunkle von der hellen, die insgeheime von der offiziellen Arbeitszeit trenne, ohnehin nur als soziales Ritual, bei dem man wohl oder übel mitspiele. Man wache auf, sagte sie, und finde sich seelisch wie geistig zerklüftet vor, mürbe, zusammenhangslos, bevor man langsam und unter Rückfällen der schmerzvollsten Art die nächste Bewusstseinsstufe ansteuere. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich begonnen hatte, Notiz von ihren Monologen zu nehmen, die immer stärker jenen philosophischen Schriften ähnelten, die Jot sich zur eigentlichen Lebensaufgabe gemacht hatte zu untersuchen und von denen sie mehr als einmal gesagt hatte, sie sollten ebenso gewürdigt und bewundert werden, wie man das Chamonix-Mont-Blanc-Tal oder ähnlich erhabene Gebirgslandschaften bewundert. Gerade weil sie diesen Vergleich selbst mehr als einmal angestellt hatte, war ich überrascht, wie gleichgültig sie die geradezu kitschige Alpenkulisse ließ, die sich vor dem Frühstückssalon des Kurhotels Höllrigel erstreckte. Ein einziges Frustfressen, murmelte ich Jot halblaut zu, die zwei Teller mit den dick bestrichenen Buttersemmeln und dem Schwarzwälder Schinken in den Händen, Jot, die zerklüftet über ihrem doppelten Espresso vor sich hin weste, und im Gegensatz zu mir, der unter den Verwerfungen des akademischen Arbeitslebens immer fülliger wurde, mit jedem neuen Tag dünner zu werden schien. Diese Gegenüberstellung, dachte ich, ließe sich beliebig fortsetzen, denn während ich immer ausgiebiger dem Alkohol zusprach, wurde sie beklemmend nüchtern, ich fing zu rauchen an, sie hörte mit dem Rauchen auf etc. Auf so unterschiedlichen Wegen näherten wir und unsere Symbolkörper uns seit geraumer Zeit, seit wir unser chronisch unterfinanziertes, im Grunde unter Selbstausbeutungsbedingungen betriebenes Langzeitprojekt zu stilometrischen Analysen begonnen hatten, einem Zustand der völligen Erschöpfung und Erniedrigung, aber zugleich: der Weltvergessenheit, glücklich nicht, aber ebensowenig traurig.
Der Körper, setzte ein Philologe mit morgendlichem Stück Schwarzwälderkirschtorte neben uns trocken an, der Körper brauche bis zu zwei Kilogramm reinen Zucker täglich, das bilde Blut, das Gemüse hingegen sei völlig verbleit und verstrahlt, gerade in sogenannten Mondjahren. Ganz zu schweigen von Jahren mit dreizehn Monden, schmunzelte die Salzburger Psychoanalytikerin, deren Anwesenheit ich jetzt erst vollends bemerkte; eine Anspielung, auf die hin der Philologe zwischen den gebleckten Zähnen Luft entweichen ließ und anmerkte, dass er tatsächlich im Besitz eines handschriftlichen Briefes von Rainer Werner Fassbinder an seinen Astrologen wäre und dass jener ja nur Ende Mai auf die Welt hätte kommen können, gar nicht weit von hier, dass ein Charakter wie Fassbinder ja ein geradezu klassischer Zwillingscharakter wäre. Von hier aus entspann sich ein Gespräch, das mit Unterbrechungen bis zur Mittagspause andauerte, und an dem Jot, die sich nicht für Astrologie, sehr wohl aber für Geistespathologien aller Couleur interessierte, rege Anteil nahm. In den geschlossenen Abteilungen, sagte sie zu mir auf dem Weg zur Sonnenterrasse im Halbstock, wo ich eine Zigarette rauchen und Jot den Wunsch unterdrücken würde, eine Zigarette zu rauchen, in den geschlossenen Abteilungen säßen ja Tausende von Leuten, die sozusagen eine Verrücktheit begangen haben, die nicht annähernd so verrückt sei wie die ihrige. In den geschlossenen Abteilungen würden Leute festgehalten, die nur einmal nicht Nein gesagt haben, wo sie Nein hätten sagen sollen, die einmal gelächelt haben, wo sie nicht lächeln hätten sollen, sagte Jot, das müsse man sich einmal vorstellen. In der Psychiatrie, fuhr sie fort, zeige sich unser eigenes Doppelbild, das Doppelbild von uns allen, nämlich verrückt zu erscheinen und es nicht zu sein, verrückt zu sein und nicht so zu erscheinen. Auch aus meinem Onkel hätte ebensogut ein berühmter Verrückter wie ein Dichter werden können, aber weil er in Wahrheit verrückt sei, wie ich bestätigte, erscheine er nicht so. Nein, in Wahrheit brauche mein Onkel den Querulanten, den Jot durch meine Erzählung zur Genüge kannte, wie der Polizist den Kriminellen brauche, ein unseliges Zwillingsgespann wie in diesem Meme der zwei aufeinander zeigenden Spidermen, in das ich Jot auf der Zugfahrt eingeweiht hatte.
Nicht zuletzt, schien es mir, dachte sie bei diesen Ausführungen an sich selbst, immerhin hatte man in dem Moment, als sie ihre quasi unkündbare Fünfzigprozentsstelle angetreten hatte, begonnen, über ihre Geistesverfassung zu munkeln, nur, weil sie es gewagt hatte, statt wie bisher zu allem Ja zu sagen, nur zur Hälfte der an sie herangetragenen Verpflichtungen Ja zu sagen, was logischerweise bedeutete, dass sie begonnen hatte, zur Hälfte Nein zu sagen. Aus der Fluchtlinie, die ihre Fünfzigprozentsstelle hätte bedeuten sollen, wurde eine Falltür, hatte man doch aus Jots aufflackernder Selbsterhaltung den Schluss gezogen, die Entfristung wäre ihr restlos zu Kopf gestiegen und zöge eine nachhaltige intellektuelle Verheerung mit sich. Jedes Dienstverhältnis sei auch ein Verhöhnungsverhältnis, sagte sie, wohl wissend, dass ich als Neffe eines berühmten österreichischen Dichters keineswegs arbeiten hätte müssen, mir keineswegs erniedrigende Schlupflöcher durch den universitären Mittelbau hätte bohren müssen. Unser gewissermaßen freigewähltes Unglück verband uns auf besondere Weise, verschwisterte uns, dachte ich später, den Waldviertlerhof verlassend, hatte Jot doch ihre nicht wenig erfolgreiche Künstlerkarriere aufgegeben, um in die akademische Halbwelt ein- und in dieser abzutauchen, um Luft ringend, bis man ihr den bleiernen Rettungsring der Entfristung um den Hals gelegt hatte.
Spätabends, als wir uns durch Wogen von Kölner Fußballhooligans, deren freundschaftlicher Rückenklopfer mir die halbe Luft aus dem asthenischen Brustkorb gepresst und in mir einmal mehr das Bedürfnis geweckt hatte, der verbrecherischen Tragikomödie der Menschheit ein Ende zu setzen, den Weg aus der Bierstube des Höllrigelschen Hotels bahnten, wo die Psychoanalytikerin wiederum meinem Onkel, von dem sie nicht wusste, dass es sich um meinen Onkel handelte, dem berühmten österreichischen Dichter jedenfalls attestiert hatte, in Wahrheit ein Kolonialdichter zu sein, der mit herrischem Blick die halbe Erdkugel abschreiten würde, fragte mich Jot, ob ich mir dieser, meiner Entscheidung bewusst wäre. Man suche sich die eigene Falle nicht zur Gänze aus, sagte sie, aber vielleicht zur Hälfte, als wollte sie mir an diesem Abend die Augen öffnen, als wollte sie mir ihrerseits einen letzten Rettungsring zuwerfen, mein halbes Leben läge ja noch vor mir, sagte sie. Wie gerne wollte ich ihr glauben, als ich mich anschickte, den Waldviertlerhof durch den Garten zu verlassen, an der vom Blitz gespaltenen Robinie vorbei, im Kopf noch die Geräusche und Formulierungen meines Onkels, die längst mein Neffenbewusstsein kolonisiert hatten, längst meine Geräusche und Formulierungen geworden waren, sein lautes Grüßgott etwa, das ich nicht weniger gewohnheitsmäßig als er bei Betreten eines Raumes mit ostentativer Höflichkeit in selbigen Raum hineinbellte. Auch das Familientreffen hatte ihm gehört, seine Stimme tönte weiter, den abwesenden Querulanten verwünschend, und die Gummiknödel schwer im Magen war mir, als füllte die riesige, geradezu orwellianische Visage meines Onkels mit seinen schwarzen Augen den Waldviertlerhofhof, drängte sich mir aus zwei der vier Ecken auf und zwänge mich hinaus, zwänge mich zur Flucht, hinaus auf die Schönbrunner Straße, stadteinwärts, in Richtung Universität.
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiVERS | Christine Johanna Seidensticker
Heimat
Die Zeit sickert in das Land, sickert mitten in die brüchigen
Knochen. Jetzt markieren Herzschrittmacher
die Territorien, beschwören mit ihren elektrischen Impulsen
den Takt des Landes, stimulieren
das zu langsame Herz.
Als Kind wusstest du die Namen aller Tiere, kanntest
ihre geheimen Wege, ihr Einfluggebiet. Manchmal
warfst du den Nachbarshühnern Mutters geköpfte Regenwürmer
über den Zaun, schautest nach dem aufgeregten
Gackern, ihrem Flügelschlag. Jetzt meinst du, ihn in deinem Herz
zu spüren, in deinen flatterhaften Augen
beim Niederschlag. Abgründe
tun sich dir auf beim Schmieren des Brots, beim Lösen
eines Kreuzworträtsels. Die Seiten verblassen in deinen Händen.
Die Stube scheint immerzu kühl, die vielen Stühle, Tassen und Teller
braucht es nicht mehr, sie sind nunmehr Requisiten
deiner Einsamkeit. Ein kleines Gerät hält Kontakt zum Herz.
Christine Johanna Seidensticker
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiTEXT | Ann-Christin Kumm
pflanzen beneiden. schreiben gegen ohnmacht
ich nehme mir vor, mehr lyrik zu lesen, besonders morgens, es räumt mir den kopf auf. ich lese mary oliver. ich lese selma merbaum, regen als tränen.
selma merbaum wurde nur achtzehn jahre alt. von den nazis in ein zwangsarbeitslager verschleppt, starb sie 1942.
ich lese ihre biografie (marion tauschwitz: „selma merbaum. ich habe keine zeit gehabt zuende zu schreiben. biografie und gedichte.“) und erfahre, dass sie nach ihrem tod unter falschem namen erinnert wurde und wird, ihr wiki-eintrag führt den noch.
ich erfahre, dass sie sich um die kinder im lager kümmerte. sie ging mit ihnen muscheln suchen, steine und pflanzen. naturkundeunterricht am fluss. ein fluss, der am lager vorbeifloss, ein fluss, an dem sich die leichen zu stapeln begannen, die über die böschung geworfen wurden.
der schmale grat zwischen bewunderung und inspiration porn. zwischen aus der vergangenheit lernen und sich in den zeiten nicht mehr zurechtfinden.
merbaum schreibt:
„und wenn die gärten verlassen sind,
dann sind sie es nur für mich.“
ich lese katrin de vries, die ihren garten verwildern lässt („ein garten offenbart sich. erzählung von einem anderen leben“).
abgestorbene bäume werden von pilzen zersetzt. wilde stiefmütterchen wachsen unter dicken bohnen. ein rasen wird ungemäht zum wiesendickicht. ein prozess, durch den sie sowohl den garten als auch sich selbst zu verstehen beginnt. der mensch als eines von anderen tieren. sich selbst weniger wichtig nehmen. ich beneide de vries um das stück land, auf dem sie eine wiese wachsen lassen, auf dem sie sich in beobachtungen vertiefen kann ganz nach ihrem ermessen. niemand, die_der ihr da reinredet, weil grundbesitz. ich beneide sie, dabei – und ich blende jetzt materielle gründe aus, denn weder meine generation noch die nach mir kann sich mal eben häuser mit gärten leisten – finde ich eigenen grund und boden in diesen zeiten eine eher schlechte idee. ich möchte zumindest das gefühl haben, jederzeit gehen zu können, die zelte abbrechen, die brücken abbrennen. privilegien, all das. wenn ich gehen will, obwohl ich bleiben kann.
stichwort privileg: ich fahre ans meer, was ähnliche auswirkungen auf mich hat wie lyrik lesen am morgen. der kopf wird klarer, das gefühl, nichts ausrichten zu können und sinnlos vor mich hinzuvegetieren, wird kleiner.
es ist so ähnlich, wie unter dem sternenhimmel zu stehen und erleichtert zu sein über die eigene nichtigkeit, nur andersherum: in der natur komme ich mir weniger nichtig vor. eher wie teil von etwas großem. vielleicht ist das widersinnig.
meanwhile zu viele handlungsskizzen, zeilenanfänge und lose enden, ich weiß nicht wozu und wohin. welchen „ideenkeimen“ (patricia highsmith) mich zuwenden?
wenn ein text auf dem papier steht, aber nicht gelesen wird, ist er dann ein text?
ich rette einen silberfisch aus der badewanne. am nächsten tag sitzt they wieder darin, oder es ist ein anderer, der them extrem ähnlich sieht, was, sage ich, hoffst du in der badewanne zu finden. dabei weiß ich genau, dass es nicht die schuld der silberfische sein kann, wenn menschen silberfischtodesfallen in ihre badezimmer einbauen. ich bin mir nicht sicher, ob das schreiben über „zur urtümlichen insektenordnung der fischchen“ (wikipedia) gehörige mitbewohner_innen zu nature writing zählt. aber ich lerne nebenbei, dass sie auch zuckergast genannt werden. sie mögen kohlenhydrate. feel you, silberfischchen.
ich beneide sie, weil politische entwicklungen für sie keine rolle spielen. sollte es irgendwann keine küchen und badezimmer mehr geben, überleben sie auch unter steinen.
ich lese viel, aber anders als früher. ich lese zeitungen, onlineartikel und newsletter. ich lese bücher von hinten nach vorn oder nur in der mitte, um sie dann wegzulegen und ein anderes anzufangen. ich sammle wörter, denn winter is coming. ich lese thriller und essays und abhandlungen über toxische männlichkeitsbilder bei jane austen.
ich experimentiere mit genres und gattungen, lesend wie schreibend.
ich experimentiere mit textschnipseln auf bluesky. zu anfang vermisse ich instagram, das ich wegen METAs vorauseilenden gehorsams gegenüber trump verlassen habe. dann beginnt es mir besser zu gehen ohne instagram. ohne das beständige hin und her zwischen politischem und pseudo-apolitischem content – ich schreibe pseudo, weil auch das eine entscheidung und damit sehr politisch ist. ohne function follows bildästhetik. ohne hassinhalte, die mir der algorithmus ungewollt anbietet. ich fühle mich ein bisschen wie nach einer entgiftung.
eine freundin schreibt mir: für dich selbst zu sorgen ist ein akt der rebellion. ich schreibe ihr, dass ich in diesem jahr (stand märz) mehr nachrichten gelesen habe als in den jahren davor zusammengerechnet. aber meine informationsaufnahme ist gezielter geworden. bewusster. vieles lässt mich verzweifeln. manches macht mir hoffnung. ich fühle mich klein angesichts der weltlageTM. ich gehe auf eine solidarität-mit-der-ukraine-demo. ich überklebe naziaufkleber. ich reposte kritische kommentare von menschen, die mehr verstehen als ich. ich probiere bandenbildung. tropfen auf heiße steine.
dieser tage beneide ich nicht nur die zuckergäste und gartenbesitzerinnen, sondern auch die pflanzen, die sich immer wieder anpassen, die sich weiterentwickeln und dem klimawandel trotzen. über_lebenskunst. sie wachsen in lücken im mauerwerk, ihre resilienz ist unvergleichlich. ihre geduld auch: jahre und jahrzehnte verharren manche samenkörner im boden und warten. auf wärme. auf regen. auf bessere zeiten.
es tut mir gut, über pflanzen zu lesen. über pflanzen zu schreiben. fast so gut, wie die finger in die erde zu schieben und die wurzeln freizulegen zum vereinzeln in der pflanzenkinderstube.
eine pflanze braucht keine hoffnung, sie macht einfach weiter. das zumindest kann ich mir von ihr abschauen. weitermachen.
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiVERS | Lisa Spoeri
diese tage
ich wache
einem schlaf nach
trauernd
tausendjähriger einsamer
von dem wir träumten
es war
ein-, zweimal
zwischen rauschen und
schäumen
den salzkronen
zwischen sand
und zehen
spitzen deine träume
vor vielen jahren
hier verunglückt
vor vielen jahren
ich war
ein-, zweimal
zwischen toben und donner und
du warst
eine
idee in meiner magengrube
faustgroß dort
wo ich den uterus
versehentlich verortete
du warst
zwei
sich entfernende beine
zwischen dem zischen und flüstern
der sandkörner
und eine weitere
in wellen
kommen und gehende gelegenheit
für eine
verpasste heimat
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiTEXT | Stefan Volkmann
Grünspan
Der 16jährige Ich-Erzähler und zwei Freunde sind nach Stuttgart gefahren, um ein Konzert zu sehen. Das Konzert wird kurzfristig abgesagt, sie sind mindestens drei Stunden früher als gedacht wieder zurück in Wörth am Rhein zuhause.
Wir gingen zum Golf, stiegen ein. Uwe hielt an der Tankstelle, kaufte eine Tüte Chips und ein Sixpack. Wir glitten über die Autobahn.
„War besser als Zuhausebleiben.“
„Looking on the street, better than tv.“
Uwe parkte vorm Jugendzentrum.
„Wir sagen allen, 's war 'n Superkonzert. Hate Convoi ham zwei Stunden gespielt, die Vorband Spätzlekiller is 'n Geheimtip.“
„Ja, so geheim, dass sie nich mal aufgetreten is.“
Olli drehte einen Joint, kurbelte das Beifahrerfenster runter, zündete ihn an und lachte. Ich hoffte, Lene sei bei mir und wollte aussteigen.
„Ich brauch unbedingt die neue Spätzlekiller-Platte.“
„Ich geh nach Hause.“
„Er will zu seiner Kleinen.“
„Mittwoch, Spitz ins Loch.“
„Heut is Donnerstag.“
„Wenn du verliebt bist, is jeder Tag Mittwoch.“
„Ich bin gefahrn und steh nich auf.“
„Ich häng am Joint und kann nich aufstehn.“
Uwe seufzte, stieg aus und klappte den Sitz vor. Ich kletterte von der Rückbank, aber der Asphalt wankte wie ein Schiff bei leichtem Seegang.
„Komm gut nach Hause.“
„Grüß die Kleine.“
„Mach ich.“
Ich ging am Spielplatz, den Schrebergärten und Tennisplätzen vorbei, dachte, wenn die Sportanlagen unter den Flutlichtern fertig seien, lägen beim Freibad oben größere Tennisplätze als die alten hier unten. Würden hier neue Schrebergärten angelegt oder Wohnblöcke hoch gezogen? Ich lief durchs Einkaufszentrum, kam am Kleinstadtwol- kenkratzer vorbei und suchte Nadines Fenster. Es war dunkel, sie schlief. Ich kam an der Bücherei vorbei, ging über die Fußgängerbrücke und schaute zu unserer Wohnung, alle Fenster waren dunkel, Lene nicht da. Ich lief zum Wohnblock, ging das Treppenhaus hoch und schloss die Tür auf, schaltete Licht an, zog meine Converse aus und stand in der Küche. Lenes Jacke hing über einem Stuhl, ihre Tasche lag auf der Eckbank. Ich dachte, sie schlafe, schaltete Flur- oder Küchenlicht aus und schlich in mein Zimmer. Mein Bett war leer, ich hörte Geräusche, ging zu Jens' Zimmer und öffnete seine Tür. Die Schreibtischlampe mit dem grünen Schirm tauchte sein Bett in morsches Licht. Er lag auf seinem Rücken, sie saß auf ihm, ihre Schenkel waren gespreizt, er streckte seine Arme aus, legte die Hände auf ihre Brüste, aber seine Basketballerhände schienen zu groß oder ihre Brüste zu klein. Jens streichelte sie sanft, wie ein Schmetterling, der mit seinen Flügeln schlägt. Sein Unterwäschewerbewaschbrettbauch spannte und entspannte sich in kürzer werdenden Abstän-den. Ich spürte Schleier vor meinen Augen, als regnete Sand unter meinen Lidern.
„Jens sieht aus wie Apollo oder Amor“, hatte Tamara mal gesagt.
„Ja sicher“, hatte ich gelacht, „ne Mischung aus Adonis und Alain Delon, von Rodin gemeißelt.“
Er lag mit dem Kopf zur Tür, hätte mich nicht sehen können, blonde Haare fielen über ihre Brüste, bedeckten seine Hände und Unterarme. Lene öffnete zeitlupenlangsam ihre Augen, starrte mich an, aber schloß die Augen wieder. Ihr Hüftrhythmus geriet ins Stocken wie eine Maschine, die stottert, aber reibungslos weiter schnurrt. Ich dachte, ich sei auf der Rückbank im Golf eingeschlafen, stolperte rückwärts, wankte in mein Zimmer und fühlte mich, als wären Jahrzehnte vergangen. Aus ihren Mündern rieselte Sand, ihr Keuchen, Stöhnen und Atmen wehte Körner in mein Zimmer. Feuchte Dünen bedeckten meine Knie und türmten sich um meine Hüften. Ich kämpfte mich hoch, wankte in die Küche und warf ihre Tasche vor seine Tür, schloß mein Zimmer ab, barg meinen Kopf unterm Kissen und weinte. Dampflokomotiven stürzten auf meinen Körper, Eisen verdichtete sich zu Dunkelheit, die nicht schwarz genug war, darin zu verschwinden. Ich schaute in den Flur, ihre Tasche lag nicht mehr vor seinem Zimmer, und ging in die Küche, ihre Jacke hing noch überm Stuhl. Schlich zu Jens' Zimmer, drückte die Klinke und schob seine Tür auf. Er lag auf dem Rücken, atmete wie ein Baby, sie auf ihrem Bauch, aber hatte ihr Gesicht in seiner Achselhöhle vergraben. Seine Boxershort hing über einem Stuhl, ihr Slip lag am Fußende des Bettes auf dem Teppich. Jens war dunkel und trainiert, Lene schmal und hell, ein schönes, vom Liebemachen oder von Liebe erschöpftes Paar. Ich sah die Schere auf dem Tisch, nahm sie und schlich ans Bett, schnürte ihre Haare zum Zopf, setzte die Schere an und drückte beide Griffe. Lene lag so ruhig, als schliefe sie, aber lächelte, als empfinge sie eine Strafe, die sie für gerechtfertigt hielte und die sie erlöste.
„Kennst du Lene?“
„Ja, die mit den langen blonden Haaren.“
Ich stolperte in mein Zimmer, der Zopf schleifte über den Teppich, glaubte, sie weinen zu hören, aber sie hätte Tränen unterdrückt, bis ich im Flur war. Falls ich sie weinen hörte, war es ein Traum, weil ich hoffte, sie sei traurig. Ich ging in die Küche, öffnete den Abfalleimer und warf ihren Zopf in den Müll, war halb aus der Küche draußen, drehte mich wieder um und öffnete den Abfalleimer, zog eine blonde Strähne raus, rollte sie in meiner rechten Hand zu einer Schlinge und ging in mein Zimmer. Steckte die Schlinge – ihre Strähne – in einen Briefumschlag, legte ihn in die unterste Nachttischschublade und zog mich an, brachte den Müll zur Tonne, holte Brötchen und wartete auf ein Gefühl, was in Ordnung gebracht zu haben, aber es kam nicht, nichts kam, niemand.
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiVERS | Nicole Prosser
Stundenlose Tage
Dein taunasser Blick:
die Pupille umzingelt
von Weltmeeren
Deine blinden Hände
übersehen das Eigentliche
ertasten die Leere
die entsteht
morgens neben dem Theatercafé
stolperst du rücklings –
Und die Möwen –
Der Sommer an der Drau
glänzt noch
in deinen Augen
während du
das Herbstlaub stapelst
wie ein Kind, das
die Stunden nicht zählt
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiTEXT | Ben Rinosch
Der Sturz – Ein MRT-Bericht
Bin ich ein auf dem Rücken liegender, blau schimmernder Tintenkäfer? Oder bin ich ein auf dem Rücken liegender, kleiner Vogel, ein Zaunkönig vielleicht? War ich bisher nur ein Zaungast, der den Menschen dabei zusah, wie sie sich amüsierten, wie sie miteinander sprachen, lachten und stritten?
Ich sehe durch ein kleines Fenster hindurch auf das weite Meer hinaus. Das stetige Hämmern und Klopfen ist beunruhigend. Ich erinnere mich an nicht enden wollende Nächte, in denen ich frühmorgens in dunklen und kalten Technobunkern strandete. Völlig besoffen.
Menschen in Reih und Glied stampfen nach elektronischer Musik und auch dort ein stetiges Hämmern und Klopfen. Das Herz rast davon, als würde es sich in den frühen Morgenstunden nach einer langen Nacht weiter am Leben abarbeiten. Und ein Discjockey oben auf der Bühne, ummantelt mit Aluminium, steht vor seinem Cockpit. Er drückt Knöpfe und fährt Schalter rauf und runter. Ab und zu jault er auf und dreht sich im Kreis.
Ich liege in einer Metallkapsel flach auf dem Rücken.
Die Metallkapsel ist Teil eines Raumschiffes. Schon bald wird es die Erde verlassen. Ich umklammere meine Kopfhörer, in der Hoffnung sie würden die Störgeräusche abschirmen. Ich frage mich, warum die Menschen andauernd produktiv sein müssen. Und dann wird andauernd gebaut und dabei Lärm erzeugt. Grobe Materialien, die mit schweren Maschinen bearbeitet werden. Überall Maschinen. In den Wohnungen. In den Gärten. Auf den Gewässern. In den Händen der Bauarbeiter:innen und Handwerker:innen. Fahrende Maschinen auf den Straßen und auf den Gewässern und in der Luft fliegende Maschinen, Milliarden von Maschinen, die wir in unseren Händen halten...
Denke an das Meer, sage ich mir. Schau genau hin. Dort wirst du vergessen.
Vorgestern hatte ich noch in einem Bio-Supermarkt gearbeitet, war auf nassen Fliesen ausgerutscht, die kurz zuvor gereinigt wurden. War also kurz in der Luft. Dann der Aufprall. Warum hatte ich danach weiter gearbeitet, als wäre nichts gewesen? Und wie kam ich auf die bescheuerte Idee in einem Supermarkt zu arbeiten? Weil ich als Buchhändler ein mieses Taschengeld bekam und ich bei gleicher Arbeitszeit im Supermarkt 500 Euro mehr im Monat bekomme? Aber so langsam geht mir ein Licht auf: Obwohl die Kolleg:innen im Bio-Supermarkt zueinander freundlich sind und trotz harter Arbeit andauernd lächeln, weiß ich noch nicht, ob ich das jemals erreichen kann. Und ob ich das überhaupt will. Schon am ersten Tag hatte ich das Gefühl, dass ich das nicht lange durchhalten werde.
Ich liege in einer Metallkapsel, flach auf dem Rücken, immer noch. Das dunkle Blau des Wassers und das helle Blau des Himmels fließen weich ineinander. Ein kleines Fenster lächelt mir zu. Lässt mich ruhig und tief atmen.
Von sechs bis zehn Uhr am Morgen zwölf riesige Kühlschränke nach Mindesthaltbarkeitsdaten durchgehen, die Produkte, die am selben Tag auslaufen, mit
25%-Aufklebern und die Produkte, die am folgenden Tag auslaufen, mit 15%-Aufklebern versehen. Die Produkte, deren Mindesthaltbarkeitsdaten gestern abgelaufen sind, aus dem Warenbestand herausnehmen, löschen und in eine grüne Tonne werfen. Den Restewagen aus einer Kühlkammer holen und die Molkereiprodukte, die gestern nicht mehr in einen Kühlschrank gepasst hatten, in die Kühlschränke füllen. Immer darauf achten, dass die Produkte vorne im Regal ein kürzeres Mindesthaltbarkeitsdatum haben, als die Produkte weiter hinten in der Reihe. Dann die Bestellung für den nächsten Tag. Mit einer Bestellvorschlagsliste arbeiten. Die zwölf Kühlschränke nacheinander durchgehen. Welcher Artikel wie oft? Gibt es Fehlbestände? Wenn ja, dann müssen die später korrigiert werden. Die vorgenommene Bestellung speichern. Dann ins Büro flitzen und die gespeicherten Daten am Computer sichten. Die Bestellung öffnen, prüfen und freigeben. Ausloggen.
In der Nacht nach dem Sturz war mir sehr übel gewesen. Es war für mich unmöglich auf dem Rücken zu liegen. Um 04:05 Uhr war ich aufgestanden und hatte mir überlegt, trotz des Sturzes zur Arbeit zu gehen. Kurze Zeit später hatte ich im Bio-Supermarkt angerufen und mich krankgemeldet. Der behandelnde Arzt hatte mir wenige Stunden später einen Überweisungsschein für die Radiologie mitgegeben.
Die Störgeräusche sind immens, das kleine Fenster meine Rettung. Ich muss immer wieder an die Arbeit denken und ich komme auf den Gedanken, dass der Verkaufsjob im Bio-Supermarkt so etwas wie eine Ameisenbeschäftigung ist. Wie kann es sein, dass ich in meiner Freizeit andauernd an die Arbeit denken muss! Alles ist so leidenschaftslos durchorganisiert und was sich vielleicht von einem Ameisendasein unterscheidet, ist, dass meine Kolleg:innen Humor haben und dass immer mal wieder gelacht wird. Obwohl ich den Humor nicht schön finde. Ich weiß schon, was drunter liegt: Arbeit, Arbeit und noch einmal Arbeit.
Ich will den Sturz als eine Art von Protest begreifen. Der Sturz ist meine Rettung und ich will dem Reinigungsmann danken, dass er zu viel Seifenlösung in das Putzwasser getan hatte. So falle ich für ein paar Tage aus. Und vielleicht wird mir schon in ein paar Tagen ein Licht aufgehen: Ich arbeite für ein Bio-Supermarkt-Imperium und da bringt es mir auch nichts ein, dass sich alle duzen und übertrieben freundlich miteinander sind. Ich kann nicht schreiben. Ich kann mich nach der Arbeit nicht konzentrieren. Ich will weiterschreiben, mir neue Stoffe ausdenken, aber ich kann mich nicht konzentrieren. Ich muss damit Schluss machen.
Ausloggen. Wieder raus auf die Fläche und schnell die gelieferte Ware reinziehen. Handschuhe an, hunderte von Kartons aufreißen und die Ware verräumen.
Dann an die Kasse und hunderte von Produkten in den restlichen ein bis zwei Stunden über den Kassenscanner ziehen. Ich bemühe mich freundlich zu sein. Ich denke mir, dass ich ein schleimiger Verkäufer bin. Ich hasse es, während meiner Arbeit freundlich sein zu müssen.
Mir ist es ein Rätsel, wie man über Jahre hinweg so hart arbeiten kann. Werden mir nach ein paar Wochen Maulwurfhände wachsen?
Ich liege auf dem Rücken in einer Metallkapsel. Durch meinen Kopf gehen magnetische Strahlen. Störgeräusche. Über mir ein kleiner Sehschlitz. Strand. Runzel-Rosen, Strandhafer und Krähenbeeren. Nordseewellen. Eine Idee davon, dass alles einem stetigen Wandel unterliegt und die Angst davor zu verschwinden.
Aber erst einmal werde ich kündigen. Und dann werde ich weiter schreiben, immer weiter.
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at