freiVERS | Pauline Vogelsanger

zeitverbleib

der ice sechshunderteins
nach münchen hauptbahnhof
krächzt und ächzt -
auch im ruhebereich.

bin wieder haltlos geworden,
mit dem lösen eines tickets,
bange und range
um vergangene zukunftssorgen.

kurze lebensabschnittspause
zieht wie zugvögel, ich
weiß und scheiß
drauf, nirgendwo zu hause.

holprige hoffnung schwingt schwach mit
in jede schienenkurve,
verweht und säht
die wurzelsaat (ungeschickt).

warten, warten, warten, warten,
zu rhythmischem regengeprassel,
jage und frage
nach dem sinn – warten in raten.

und ich hege diese ewigkeit
im drehen meiner daumen,
bedenke und verschenke
meine zeit.

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Pauline Vogelsanger

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freiVERS | Anna Draxl

gehöft

1

du hast einen schädel im garten liegen sehen und konntest es nicht lassen du hast
die finger durch die augenhöhlen gesteckt
die risse an der kühlen oberfläche gefühlt
ihn schließlich aufgehoben
dabei feine wurzeln mit aus dem moosigen boden gerissen
als du gesehen hast dass unten noch ein wurm dranhängt
hast du dich unheimlich erschreckt den schädel fallengelassen bist weggerannt
hinein ins haus
um schokoladenkuchen mit marmelade drauf zu essen den die großmutter gerade
aus dem ofen geholt hat
iss nur iss
hat sie gesagt und ist dir mit der hand durch die haare gefahren

2

du hast gesehen wie sich das gesicht des zynischen mannes im stahl seiner maschinen
gespiegelt hat du hast
die weißen haare in seinem nacken gezählt siebzehn achtzehn
bis er sich umgedreht und dich davon geschickt hat
du konntest seine falten aber noch von weitem sehen elf zwölf
abends ist der zynische mann hinein ins haus gegangen
hat sich schmieröl von den händen gewaschen und mit einem scharfen messer speck
und dunkles brot geschnitten
du hast schokoladenkuchen mit marmelade drauf gegessen und ihn beobachtet
zu seinen nackten füßen ist der kater gelegen
iss nur iss
hat der mann gesagt

3

du hast gehört wie sich der stumme gärtner vor dem haus die erde von seinen stiefeln
geklopft hat du hast
als er dann in der küchentüre gestanden ist mit dem luftzug von draußen
den waldboden gerochen
die großmutter hat ihm vom holzofen aus zugenickt da ist er in die stube getreten
hat in seine taschen gegriffen ein bündel zwiebeln herausgezogen
von denen die erde leise auf den küchenboden gerieselt ist
du hast schokoladenkuchen mit marmelade drauf gegessen
während die großmutter weinend die zwiebeln geschnitten und sie dem stummen gärtner
zum brot gereicht hat
iss nur iss
hat sie gesagt und sich tränen und rotz in die schürze gewischt

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Anna Draxl

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freiVERS | Syna Saïs

mein weltenbrand

in meine verlassenheit traut sich
keiner hinein / noch nicht einmal zu sehen / und
in mein gedicht traut sich nur ganz selten mal ein
verirrter leser denn dort hagelt es immer ruinen
dort regnet es abgehalfterte silben, dort hügelt es
talwärts ins leere / in mein gedicht traut sich
kein lyrisches du mehr kein kyrillisches я seit jenes eine
dort einen krater der winterdürre hinterliess
und meine verlassenheit einfrostete
wie ein kristall wie das eis wie eine
sehnsucht in kunstharz
aber dann kamst du, hineingefühlt
in den weltenbrand des wiedererwachten
begehrens

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Syna Saïs

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freiVERS | Florian Kranz

Du hast ein Anagrammgesicht

(Anagramm-Hommage an Unica Zürns „Das ist ein Anagrammgedicht“)

 

Sein Anagrammgedicht haust
im Auge des Grams. Hat nicht an
mir das Schema genagt? In Haut
hat sein Damm echt grausig an
sein Anagramm gedacht, uh! Ist
das Auge im Gesicht? Mann (hart,
grimmig) hastet, denn auch Aas
macht Tigerhaie nass und mag
das Amt. Graue Gischt nahm ein
Gramm Anna. Gut, ich hasste die
Gischt eh. Au, niemand grast am
Haus! Gemacht in dem Anti-Sarg
ist unser Gamma-Gedicht. Ah! An
einem Hang saugt dramatisch
dumm Satans Haar. Geige nicht
im schaumigen Sand. Er hat Tag
um Tag gereimt, sah danach ins
achtseitige Gras und nahm am
Gang uns die Sicht. Er hat Mama
arm gesagt: „Nie hast du an mich
gedacht!“ Hut, iss ein Anagramm!

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Florian Kranz

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freiVERS | Nora Hofmann

im naturhistorischen museum

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und der saal 4 legt deine finger in falten
du knüllst an sammelst ein schmiegst dich an
krümmst dich ein (bitte nicht am glas aufstützen)
wühlst dich ein schmiegst dich an aufgeplatztes
an arme / an geröll / an die zeit
die lithogenese greift dir die haut ab

.

.
und der meteorit im saal 5 fühlt sich an wie ein narbengeflecht
an körpern: leuchtendes speist sich in den adergang
bleibt stehen geronnene mundflächen gesichter
schmelzfelder geschlossene augen dich wegstellen
aus der luft räumen als feuerkugel einschlagen lassen
krater in wälder / in straßen ohne einen laut

.

.

und im saal 7 verliest du ein fossil zum altschmerzschupper
der zersetzung übergeben angeschwemmte
irrgärten vom sand umwispert im rückgrat
verschlungenes eng an der zeit getragen
die ammoniten / die belemniten / die seelilien
jahre orte schlaf diverse gründe in stein gestoßen

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Nora Hofmann

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freiVERS | Alexandra Regiert

Pink Ladies

nun steht dir das meer offen
ein unendlicher ozean
betauchbar an der oberfläche
lichtreflektierend wie frischhaltefolie
perlmuttschimmernd
muschelrauschend
deephouse tanzende plastikkorallen
lecken die füße mit rauen zungen

ein meer aus pink-lady-äpfeln
und 3-D-drucker-landschaften
universell bahnbrechend berauschend

haarfarben wie regenbögen
mitte april und namen
die wie karamell auf der zunge zergehen
erfahrene bonbons
die herde klatscht beifall
in der zigarettenpause
wirft plastikblumen
an den strand
bejubelt echtes leben

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Alexandra Regiert

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freiVERS | Marco de las Heras

Das Flaschendrehen hört niemals auf.
Blieb sie da stehen und zeigte zu mir, wütend
als hätte ich mich jahrelang im Sitzkreis
in einer solch' verstohlenen Art und Weise positioniert
damit sie mich nicht treffen kann:
Gestern starb mein Vater.

Seltsam regungslos lag er da im Zimmer, es war still;
eine Schnake störte meine Trauer.
Sie kam nach jedem Anlauf meiner Tränen
aus dem Hinterhalt, wie ein schiefer Geigenton im Ohr.

Als ich sie dann endlich müde rastend
an der Wand entdeckte, zog ich den Schuh aus,
holte mit ihm Schwung und erinnerte
während ich die Schnake auf der Stelle tötete
das Gewicht in meinen Fingerkuhlen von schweren, biergefüllten Plastiktüten
den Augenblick, als wir zusammenstießen
und siehe da: Aus der Schnake drang der Lebenssaft
klebte an der Wand.

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Marco de las Heras

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freiVERS | Johannes Bruckmann

Kaltes Feuer

Wir fügen immer noch ein Scheit hinzu und sprechen davon, dass das Holz aus uns sein möge
Wir fügen immer noch ein Scheit hinzu und sprechen davon, dass es unser Feuer sein möge
Wir fügen immer etwas hinzu, auf dass das Feuer in unseren Farben brennen möge
Aber immer ist es noch nicht unser Feuer
Immer zünden wir das Feuer noch nicht an

Das Feuer brennt noch nicht in unseren Farben
Wir beargwöhnen das Feuer, das noch nicht brennt
Früher haben wir auch Scheite abgetragen
Heute fügen wir nur noch Scheite hinzu
Und zünden das Feuer nicht an

Die Scheite werden immer größer, immer schwerer
Wir können die Scheite nur noch gemeinsam tragen
Weil das Feuer nicht brennt, fügen wir noch mehr Scheite hinzu und Scheite hinzu
Wir fügen verzweifelt immer noch etwas hinzu
Die Scheite werden immer größer, immer schwerer

Du willst das Feuer nicht entzünden, es hat zu lange nicht gebrannt
Die Scheite sind feucht und modrig geworden unter der Last der immer neuen Scheite
Wir leben von dem Feuer, das noch nicht brennt, das nicht mehr brennen wird
Aber wir fügen immer noch mehr Scheite hinzu
Wir können sie nur noch gemeinsam tragen

Niemand soll wissen, dass das Feuer nicht brennt, wir geben vor, dass das Feuer brennt
Dass das Feuer in unseren Farben brennt, dass es unser Feuer ist
Wir ersticken in dem kalten Feuer
Wir ersticken unter den schweren Scheiten, wir vermodern unter den schweren Scheiten
Wenn sich das Feuer entzündet, dann verbrennt es unsere Leichen

 

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Johannes Bruckmann

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freiVERS | Roland Grohs

Brüche

Ihre Haut ist brüchig geworden.
Wir verkeilen uns,
wie Bauklötze, die ein Kind gegeneinander hämmert.
Das Bett ein Bauklotz, sie ein Bauklotz, ich ein Bauklotz.
Ehe wir fertig sind, möchte ich aufstehen,
träume von einer glatten Oberfläche, um zu puzzeln.

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Roland Grohs

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freiVERS | Christl Greller

und sind wir frass

und holt der fuchs das süße kitz im gras,
der böse fuchs.
nein, mutterfähe,
wir lernen: und füttert sie im bau.

und adler holt den fuchs,
ist böse. nein,
wir lernen: adlerjunge brauchen fraß.
naturgesetz ist: eines lebt vom andern.

mein liebes, mein geliebtes kind.
und lebt in deinem kopf etwas, das
von dir frisst und
wächst in deinem hirn auf deine kosten.
dein streichel-lieber kopf. und lebt darin
und frisst und wächst was,
nicht zu tilgen mehr, im kopf auf
deine kosten.
wir lernen - naturgesetzlich, eines lebt
vom andern.

ich habe es gelernt.

will’s nicht verstehen.

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Christl Greller

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