freiVERS | Anne Martin

sieben punkte gegen einsamkeit

aus der apothekenumschau seite 16

ausgabe märz

erster punkt im rotgerahmten schaukasten
der apothekenumschau, seite 16/ ausgabe märz
Denken sie positiv über sich. Sagen sie sich:
'ich bin so liebenswert wie jeder andere hier auch.'

denken sie postiv. sagen sie sich ich so liebenswert.
denken sie positiv. sagen sie. ich bin
denken sie postiv, sagen.
denken
ich bin.

ich bin anne und das meine ich positiv
überaus
es ist die wahrheit
denn oft sage ich mir
anne, was machst du hier und wofür

ich trage dunkle trauben durch die stadt
ich sage mir, anne, die trauben sind zucker, wasser und kern
ich sage mir, anne, dass das alles zusammenhängt
die anzahl der kerne
das einzugsgebiet
wie wenig proportional zu meinem durst
die straßen liegen in diesem bezirk

ein sonnenfleck klebt noch am stromkasten
die restlichen liegen versprengt auf dem kies
als wär die platane ein tollpatsch
dem das tageslicht runterfiel
ohne scherben und schrei

das feste und flüssige
wo es anfängt
und übergeht
gegenseitig und in sich
welche sachen sinken und welche schwimmen
was mir kern und was mir hülle
das soll der kanal mir wissen
da lauf ich hin
mit dunklen trauben durch den kiez

das setting ist ein violettes quartier
da sind linien aus gummi und linien aus stahl
die lenken verkehre und lenken menschen
wie erstaunlich es ist
wie selten wir an uns rempeln
und auch sonst dabei nicht berühren
und wahrnehmen als wolken im hintergrund

gerüche kleben an steinen.
an mündern und drüsen.
an dönerrollen und flacons

zweiter punkt im rotgerahmten schaukasten
der apothekenumschau, seite 16/ ausgabe märz
Kleider machen Leute: Ziehen Sie etwas an,
in dem Sie sich wohlfühlen und sich schick finden. 

(der requistige wurde inflationsbedingt der etat gekürzt)
ich trage schwarzes fleece seit sieben jahren
und braune schuhe aus rhythmischem material
mit taktschlägen auf zwei und vier
einen schlüssel
zwei klemmen
drei abgekaute nägel einer entzündet bis ins fleisch
zwei zusammengenähte namen
und blaue trauben zum halben preis

ein leuchtender sticker schreit es mir zu
alles sonderangebote
ich fühl mich sonderbar, kurz vorm schließen der läden

ich steuer eine klimax an
der kanal mir als illustration
wie schwer es mit dem unterschied von festem und flüssigem ist
dem was wir natürlich nennen und dem, was wir konstruieren

dritter punkt im rotgerahmten schaukasten
der apothekenumschau, seite 16/ ausgabe märz
Eine offene Körperhaltung signalisiert Interesse.
Arme beim Reden nicht vor der Brust verschränken.

(hier rät die regie:
scheitel gen himmel
hände fallend herab
locker nach außen
lass die schultern nicht hängen
und wusstest du, dass du ein hohlkreuz hast)

ich trage dunkle trauben durch die stadt
ich presse sinne in die gegend hinein
eine blassblaue minute aus allem getropft
und zwei sekundenvogelschwarm
ich quetsche gehörtes. ich keltere ahnung
aus der ankündigung von einem next-big-thing
ein abgelaufenes prospekt rät: kalzium essen im september
ich bin auf dem weg zu künftigem. warum also nicht
kalzium essen in entsprechung denn
aus vorauseilendem gehorsam
verbrennen die espen ihr laub
ich trage trauben die tragen kalzium
aus veranlagung und für den herbst

und manchmal bin ich traurig
aber eigentlich oft
über das viele was im umfeld liegt
und das wenige, was darin grüßt

vierter punkt im rotgerahmten schaukasten
der apothekenumschau, seite 16/ ausgabemärz
Halten Sie Blickkontakt. Lächeln Sie,
das bringt Ihnen Sympathiepunkte ein.

die zeit geht am stock den fußweg entlang
ich geh untergehakt mit ihr am rand.
ich frag sie nach wurzeln, die den asphalt sprengen
und wieviele platanen man braucht
für einen coup
wir würden gut aussehen in tweed und cord
doch ich trage trauben und angst
wir wollen bier trinken im park
als gäbs kein morgen. einfach sitzen bleiben
und mutmaßungen anstellen
über das alleinsein. wie ein therapeut aus westfalen
zum veröffentlichen
auf hochglanz in bunt
es kann die kranke hüfte sein, die am besuch der sportgruppe hindert
und manchmal liegt es daran, dass man zu hohe erwartungen hat,
die sich nicht erfüllen
(oder vielleicht dass man keinen vereinssport mag
oder keine gruppen
aus vereinsssportliebhabern)
oder gar nichts mehr erwartet vom kuchenbasar
der freiwilligen feuerwehr im ort
und doch würden wir gern mitglied sein in einem club
die zeit und ich
und briefe schreiben
an mitglieder

fünfter punkt im rotgerahmten schaukasten
der apothekenumschau, seite 16/ ausgabemärz
Erzählen Sie über sich, aber gehen Sie auch
auf Ihr Gegenüber ein. Fragen Sie interessiert nach.  

die letzte google anfrage+
die ich kürzlich stellte
wie depressionen überwinden
erzielt an erster stelle den treffer
www.ghostwriter-arbeiten.de
masterarbeit schreiben lassen
in fünf bis sechs raten

passieren ihnen auch solche bescheuerten dinge
ich frage hier
mit interesse

ich tragen dunkle trauben durch die stadt
ich sage mir, anne, die trauben sind wässrig im mund
die kerne haben mir einen schlarz in den zahn geknackt
ich sage mir, thomas, sich an das feste im flüssigen zutschen
ich sage mir, anne, du bist wasser und wunsch

auf dem weg zu festem und flüssigen
von weiten eine szene am bahnsteig mit zweien
der eine schlägt sich die stirn, nachdem er aufprallt
und rot fließt es ihm über die linke seite
wie sich festes und flüssiges bedingen
und dann rappelt der sich auf wacklige beine
und der andere verbiegt seinen arm so geschickt
durch den schlitz des mülleimers als wär er wasser
und eine flasche zieht er heraus und darin glitzert noch was
und der wacklige setzt zu rennen an
als sei der goldene spuckrest darin
die härteste währung im land

sechster punkt im rotgerahmten schaukasten
der apothekenumschau, seite 16/ ausgabemärz
Machen sie ehrlich gemeinte Komplimente.
Sprechen sie Gemeinsamkeiten an, falls sie diese erkennen.

hallo, sie hier
an dieser stelle im text
schön, dass sie es bis hierher geschafft haben
danke
mir fielen auch schon dinge leichter

siebter punkt im rotgerahmten schaukasten
der apothekenumschau, seite 16/ ausgabemärz
Sagen sie am Ende des Gesprächs,
dass sie es schön gefunden haben
 und sich auf ein baldiges wiedersehen freuen.

auf bald.
es war schön.
der kanal führt dunkles wasser
in festen bahnen
ein bewältigungsversuch
beton und stahl
bin ich fisch und fleisch und fest und flüssig
ein organ wünsch ich mir wie die plötzen es haben
damit ihre silbernen bäuche nicht oben treiben
zum halt
eine schwimmblase für trockenes
knapp überm kies
sich zu halten
in mittleren lagen

.

Anne Martin

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mosaik36 - Eine Wohnung mit Zukunft

mosaik36 - Eine Wohnung mit Zukunft

Winter 2022

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INTRO

Wir wohnen seit zehn Jahren im bedruckten Papier.
Literaturzeitschrift.
Eine Zeitschrift mit Zukunft.
Hier wollen wir alt werden.

Man macht das eigentlich nicht, aber wir hoffen auf Milde aufgrund unseres Alters: Wir haben uns für diesen Einstieg einer Textstelle von Pia Schmikl (S. 20) bedient und an unsere Situation angepasst. Es ist nämlich so, dass wir dieser Tage das zehnjährige Jubiläum der mosaik1 feiern. Und es ist auch so, dass wir traditionell lieber nach vorne als zurück blicken. Vor zehn Jahren haben wir das nicht gemacht: Niemand hat sich überlegt, was wir dereinst beim 10-jährigen Jubiläum wohl machen sollen. Und so feiern wir unseren ersten runden Geburtstag etappenweise: In dieser Ausgabe findet ihr ein paar wenige, ausgewählte Texte, die uns besonders in Erinnerung geblieben sind. Im Herbst werden wir mit euch allen gemeinsam ein mosaik-Fest feiern. Und dann fällt uns sicher noch weiterer Jubiläums-Schabernack in diesem Jahr ein.

Und gleichzeitig blicken wir weiter in die Zukunft – mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Es warten spannende Projekte auf uns: Bücher, Kooperationen und neue Ideen! Aber gleichzeitig hat sich auch nach zehn Jahren wenig an der prekären Situation des Projektes mosaik geändert. Wir arbeiten gerne und nur von Idealismus getragen – hinterfragen diese Praxis aber immer öfter und fragen uns, wie es weitergehen kann.
Bevor wir jetzt aber selber zum Partycrasher oder zur Spaßbremse werden, wünschen wir euch viel Freude mit dem neuen Heft. Aber nicht vergessen: „Lesen ist eigentlich asozial.“ (Stefanie Stegmann, S. 82)

euer mosaik

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Inhalt

Spezial: 10 Jahre mosaik

Stell dir vor, du kommst nach einer Lesung ins Gespräch: Was es bräuchte, wäre eine stärkere Förderung junger und neuer Autor*innen, am besten mittels einer Zeitschrift! Man beschließt die Gründung einer solchen. Gefühlt drei Tage später feiert man das 10-jährige Jubiläum.

Wir sind keine großen Freund*innen von Sentimentalitäten, aber wir erinnern uns in dieser Ausgabe sehr gern zurück, haben Wegbegleiter*innen des mosaik gefragt, an welche Texte sie sich erinnern, welche hängen geblieben sind – und präsentieren eine nicht repräsentative Auswahl auf den ersten Seiten. Nur original auf kariertem Papier (wie bei mosaik1). Viel Freude mit dem bisschen Nostalgie.

Wellengang oder Geflüster

Pia Schmikl – Ein Fisch kennt keine Angst vor dem Ertrinken
Georg Großmann – Altokumuli | Einige Pilzarten
Stefanie Nebenführ – Das Haus
Sigune Schnabel – Kindheit
Giovanna-Beatrice Carlesso – Der Hase rennt

dringende seelenstoffe

Elke Steiner – ich schenke dir mein natternhemd
Christina König – Gegenüber
Jimmy Brainless – Der Eiswürfel
Ronja Lobner – mein letzter rest

halb Wunschvorstellung

Leo Lemke – Der Wasserwandler
Signe Ibbeken – Kurz vor Glücksstadt
Hannah Beckmann – Dunkel, Linie, Dunkel
Vera Hohleiter – Fundstücke
Anja Bachl – Kaleidoskop

Kunststrecke von Ursula Wimmesberger
BABEL – Übersetzungen

Miklós Radnóti, geboren am 5. Mai 1909 in Budapest, war ungarischer Dichter jüdischer Abstammung. Sein Werk war beeinflusst von der tschechisch-ungarischen Avantgarde und dem französischen Expressionismus. Seine Tätigkeit als Handelskorrespondent im Unternehmen seines Onkels legte er 1930 nieder, um Ungarische
und Französische Philologie zu studieren. Im selben Jahr veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband ‚Pogány köszöntő – Heidnischer Willkommensgruß‘.

Der zweite Gedichtband wurde aufgrund des Vorwurfs der Obszönität verboten und brachte ihm beinahe eine Haftstrafe ein. In den frühen 1940er Jahren wurde er zur Zwangsarbeit eingezogen und schließlich nach Bor im heutigen Serbien deportiert. Bei einem Gewaltmarsch Anfang November 1944 kollabierte er nahe der österreichisch-ungarischen Grenze und wurde mit 21 anderen Mithäftlingen hingerichtet. Sein Leichnam konnte später in einem Massengrab identifiziert werden. Bei sich trug er ein Notizbuch mit seinen letzten Gedichten. Darunter den hier vorliegenden Zyklus ‚Razglednicák‘.

Miklós Radnóti – Homály / Dämmerlicht
– Két karodban / In deinen Armen
– Razglednicák / Razgledinicen

[foejәtõ]

Wo findet (denn eigentlich) Literatur statt? Im Kulturteil setzen sich diesmal gleich mehrere Texte mit möglichen, neuen und sinnstiftenden Orten der Literatur, von Lesungen, von Gesprächen über Kunst auseinander: Raoul Eisele bewandert den urbanen Raum, Hartmut Hombrecher und Martin Peichl beleuchten jeweils innovative Ideen und Umsetzungen von unabhängigen Lesereihen, Stefanie Stegmann berichtet im Interview von ihrer zwischen/miete – Lesungen in WGs!

Kreativraum mit Friedrich Rücker

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>> Infos, Leseprobe und Bestellen


mosaik29 - neutral wie üblich

mosaik29 - neutral wie üblich

Fernreisende
  • Christiane Quandt – Chak Mool
  • Daniel Klaus  Angeln
  • Paul Jennerjahn  fensterstudie
  • Thomas Ballhausen  Stormy Miranda
  • Anne Laubner  so gut wie wir
Artgenossen
  • Anne Martin  sanft
  • Christoph Schwarz  Der Kanzler
  • Camilla Schütz  manchmal wird es wenigstens abend
  • Knut Birkholz  Ausflug
  • John Sauter  Flaggen
Vierzehn Fremnde
  • Martin Peichl  Evolution
  • Gloria Ballhause  Rendezvous mit Vogel
  • Thordis Wolf  48komma3 gigabyte du
  • Thyra Thorn  Kakerlake
  • Stefanie Schweizer  Nachricht nach dem Tonsignal
  • Katherina Braschel  Die Wippe als Metapher für einen Früchstücksgedanken.
Kunststrecke von Vanessa Steiner
BABEL – Übersetzungen
  • Jerzy Jarniewicz – Drzwi zamyka kto ostatni / Der Letzte schließt die Tür (aus dem Polnischen von Michael Pietrucha)
  • Camelia Iuliana Radu – Îmbrățișare / Umarmung (aus dem Rumänischen von Manuela Klenke)
  • Alen Besic – Poezija nastaje / Die Poesie entsteht (aus dem Bosnischen von Jelena Radovanovic)
  • Peter Spafford – People with kids / Leute mit Kindern (aus dem Englischen von Matthias Engels)
Kolumne
  • Peter.W.: Das halbe Glas, Hanuschplatz #17
Rezension
  • Andreas Neuhauser – „Das Problem mit der Geschichte“ (Rezension BELLA triste #53)
Zeitschriftenschau
  • Josef Kirchner: Dadasophie & Deutschland
Interview
  • Marko Dinić – „Lyrik für 1354 Menschen“
    (Interview mit Daniela Seel vom Verlag kookbooks)
Kreativraum mit Zoltán Lesi

>> Leseprobe & Bestellen <<