freiVERS | Markus Kloimwieder

An die Nachgeborenen, reloaded

Brecht schreibt
Neunzehnneununddreissig:

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!

Auf FM4 ein commercial für die Kronenzeitung.
Später dann werden die Weltnachrichten
abgelassen.
Die Sportnachrichten sind Best of Breed.
Der Baum im Hof tropft
nach dem Regen.

Wir sind keine Zeitgenossen.
Keine Widersprüche, nur Ergänzungen.

.

Markus Kloimwieder

.

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freiVERS | Dorina Marlen Heller & Sofie Morin

bachmann*brennt*immer

ein lyrischer Funkenflug zwischen Dorina Marlen Heller und Sofie Morin

 

*bachmann brennt*

sie brannte in der nummer 66
sie ist dort verglimmt wo
man den tiber schon riechen kann
jeden tag der boccanera in den
schwarzen schlund gestiegen
treppe rauf treppe runter
immer die wörter im kopf
die wörter im mund
immer im wettlauf mit der
verhassten gestundeten zeit
im traum wieder an den gittern gerüttelt
seine hände halten sie nicht
schon lange nicht mehr
morgens für den ersten rauchlungenzug
den kopf auf die via giulia gebeugt
ein paar häuser weiter der wutgesang delle donne
no alle isteriche nel movimento
no algioca di potere fra donne
sie nimmt noch einen zug
glühende asche auf den küchenboden
heute nur ein brandfleck
morgen
brennts.

.

Dorina Marlen Heller

.

.

denn eine brennt*immer

und längst ist nichts gelöscht
was nur so scheint
wie wir und wir und
unsere brandgefährlichen Reden
Das sind all unsere Todesarten
heute oder war es gestern
morgen bestimmt immerdar festgelegt
auf den HöllenschlundzwischenunserenBeinen
dunkle Erdteile wie Venus
die uns bewohnt uns insbesondere
wie Rausch und Sperrung im Mund
In einer Zeit von unregelmäßiger Bedeutung
schrieb sie und sie beschrieb sie
auf dem Spielfeld Sprache fraglos zumutbar
Erklär mir: Leben
Denn kein treffenderes Blatt schwamm je
einer Mündung entgegen
nicht eines darunter das nicht Bläue gewesen wäre
Und was wenn es nicht mehr reicht
aus dem Zimmer zu gehen
wenn das Ersticken bereits anfängt?
Denn irgendwann reicht es
Nicht mehr.

.

Sofie Morin

 

Ingeborg Bachmann verbrannte am 17. Oktober 1973 in ihrer Wohnung in Rom, in der Via Giulia Nr. 66.

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freiVERS | Verena Dolovai

love’s end

ich könnte verstummen
und du würdest es zulassen
weil du nicht mit mir sprichst

ich könnte weggehen
und du würdest es nicht merken
weil du nicht bei mir bist

ich könnte mich verwandeln
und du würdest mich nicht erkennen
weil du mich nicht ansiehst

ich könnte verschwinden
und du würdest mich nicht finden
weil du mich nicht suchst

 

Verena Dolovai

 

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freiVERS | Patrick Siebert

An der Regengrenze

Weißt du noch, du saßt am Fenster
Den Vorhang nur für das Licht geöffnet
Wenn es donnerte wie Bergriesen
Und der Sturm das Haus fortriss
Bis ans Ende der Welt
Und wie du gerechnet hast
wie lang es dauert heimzulaufen von dort

Und sie saß immer da
Hart an der Regengrenze
Das Spinnrad fest im Griff
Wie es sich drehte im Akkord
Sie saß da und atmete tief

Wie sie dir winkte zu kommen
Nur einen Moment oder zwei
Und wie sie es wieder schaffte
Unentwegt spinnend
Deinen Blick zu bannen auf den Faden
wie sich das Rauschen aus den Ohren zurückzog
Wie sie es wieder schaffte
Das Gewitter zu packen auf die Spule
Als Kratzen der Wolle auf Haut

 

Patrick Siebert

 

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freiVERS | André Patten

Startschuss

schon immer war die Richtung klar:

nach oben sollte es gehen

ganz nach oben

da oben, wo es weitergeht

wo die Sterne warten

wo Geräusche langsam zündeln

einen Punkt im All

wählen wir zum Startschuss aus

schnüren dem Sprachlosen

den Verstand ab

wir schießen gegen Wolken

und wissen doch:

wenn es still wird bei uns

schlägt es anderswo ein

 

André Patten

 

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freiVERS | Alexandra Regiert

Die Loreley vom Vorderhaus

Meine Lunge pumpt Luft.
Pumpt sie weit über die Kondensstreifen hinaus.
Pumpt sie in Schweinelungen.
Rosa und fast neugeboren
festigt sich das Rosenkelchorgan
wie eine fleischfressende Pflanze.
Betörend recke ich mich am Fensterbrett
für die Fliegen,
strecke die Glieder, spiele mit den Haaren
und singe:
Es ist ein lauter, Glut gebärender Gesang,
den eine Schallmauer nicht abwehren könnte.
Wie der der Loreley vom Vorderhaus,
vor deren Fenster blaue Hortensien wachsen
und die Feuerwehr regelmäßig
ein weißes Tuch spannen muss.

 

Alexandra Regiert

 

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freiVERS | Frau Sara

STROM II

Strömen
ohne
mein Zutun.

Einfach raus aus mir.

Meine Begrenzung wird still, an der Peripherie des Körpers kommt alles zur Ruh.
Die Ruhe dehnt sich aus.
Ich spüre mich, beim Warten.

Ich nehme mich wahr, als grosses Stück Menschenfleisch, ganz unaufgeregt & ergeben,
warte ich, nehme die Stösse & Wellen in mir zur Kenntnis, staune, wie ich Frau, es geschehen lassen muss. Wie meine Weiblichkeit zu sich nimmt, sich vorbereitet & wieder gehen lässt.

Im Rhythmus,
unsichtbar aber nicht heimlich.

Ich sitze da & das Leben strömt aus mir heraus.

Meine Gebärmutter arbeitet,
zuverlässig, ohne mein Zutun.

Ich sitze da, die Welt aussen rückt ab von mir. Ich bin da mit meiner innersten Höhle.
Ich spüre mir beim Arbeiten zu.

Ich habe ein Wunder in mir drin.

 

Frau Sara

 

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freiVERS | Anke Werner

Ausflug ins Grüne

Der Zündschlüssel löst sich,
als nächstes der Gurt,
schon stehe ich abseits des Autos.
Den letzten Gegenverkehr abgewartet
und zügig die Straße überquert.
Die Schritte werden schneller,
fliegen übers Feld
bis zum Waldrand,
an erste Büsche reihen sich Bäume
und nehmen mir Tempo.
Ich höre sie hupen,
aber hier findet mich niemand.
Irgendwer wird sich um den Stau schon kümmern.
Ich knicke Zweige,
trete nach Laub,
keine Euphorie,
nur nach Hause kommen,
zielsicher suche ich mein Nest.
Ein Bär hauste im Winter darin.
Ich kann ihn noch riechen
und fühle das Moos,
voll fremder Haare,
aber das macht mir nichts.
Die Geräusche und das Gefühl sind unverändert.
Meine Kleidung behalte ich am Körper,
noch darf sie bleiben,
mit der ersten Wäsche im Bach wird sie lästig werden.
Letztes Mal sah ich ihr nach,
wie sie dem Gewässer folgend entschwand.

 

Anke Werner

 

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freiVERS | Sarah Claire Wray

die schwarze putzfrau sitzt nicht mit am tisch feat. faschisten blei

manchmal weiß ich nicht warum
die Leute mich so angucken
wie sie mich angucken.

ich weiß nicht
findet ihr mich
wegen meiner hautfarbe unglaubwürdig?

glaubt ihr
ich sei die putzfrau
wenn ich mit am tisch sitze und nicht
nach meinem namen gefragt werde
wo alle anderen sogar
einen feuchten händedruck bekommen

ich weiß nicht
hab’ ich keinen namen
weil ich bin nur eine von vielen
mit der hautfarbe
und den namen könnt ihr euch eh nicht merken?

und im gespräch da wendet ihr nie
das Wort direkt an mich
seht hastig weg wenn doch
ein höflicher augenkontakt
das mindestmaß an nähe
zwichen fremden ist.

ich kann euch nicht mehr zuhören
weil eure worte mir wie das kalte blei der faschisten
abartig distanziert vorkommen
weil euer sprechen
nicht ein sprechen mit mir ist
nur über mich hinweg

 

Sarah Claire Wray

 

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