freiVERS | Liza Wandermaler

17 Luchse

Wusstest du, dass jeden Abend,
Siebzehn Luchse, leise trabend,
Auf den kleinen Waldseewiesen
Ihrem Schlaf entgegenwarten?

Ich hab sie gesehen… Glaub mir,
Nichts ist schöner, als ein Raubtier,
Das an einem blautürkisen
Abend kreist im Eden-Garten.

Und es fegen dunkelgrüne
Efeuranken die Tribüne,
Während jeder Stern die schlauen
Katzenaugen wiederspiegelt.

Warm benetzt das Moos die Steine;
Dunkel dämmern Fichtenhaine,
Während in den flachen Augen
Jemand seine Tür verriegelt.

Doch, wenn ich dir dies erzähle,
Lachst du und beteuerst sachlich,
Dass ein Luchs in uns‘ren Breiten
Sicherlich nicht hausen würde,

Dass die Phantasie endgültig
Den Verstand in mir verwirrte
Und dass du dich langsam fürchtest,
Ob mir noch zu helfen wäre.

Doch du hast sie nicht gesehen.
Und du ahnst nicht, was ich ahne.
Denn ich bin mir sicher: Luchse
Wissen mehr, als sie verraten…

Also muss ich wieder gehen,
Weg vom Lärm der Straßenbahnen,
Um erneut auf siebzehn Luchse
In dem Wald gebannt zu warten.

.

Liza Wandermaler

.

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiVERS | Sabrina Saase

just do it

den tod zum lachen
sisyphos zur ruhe
bringen
leben den lebenden
der blick zurück
selbst versteinerung bringt
entscheidungen gegen dich
immer leichter
als der sprung über den eigenen schatten
jump jump
over the gap
oder bis alles einstürzt

.

Sabrina Saase

.

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiVERS | Otto Dvoracek

Nichts ist größer

Ein Schwingen hervorrufen, Achterschleifen-Schwingungen
Endlosschleifen, die Milch übergehen lassen, die Milch
An vier Seitenwänden herabrinnen, über vier Seitenwände
In die Auffangwanne (weiß gekachelt) rinnen lassen
Das Milchweiß, das Weiß stampfen
Kind, Vater und Großvater stampfen
Auf einer weißen Kachelplatte, Kameras vor den Beinen
Aufnahmen im Stampfen, mit angewinkelten Beinen
Mit durchgestreckten Beinen, das Durchstrecken der Beine
Auf dem Weiß der Fliesen, Kalkweiß
Das Beschmieren der Wände, mit gleicher Beinstellung
Statt Titanweiß Kalkweiß, über eine Trennlinie schmieren
Kreuzweise über gravierte Stellen mit dem Text
NICHTS IST GRÖSSER schmieren, das Durchstrecken der Arme
So muss es wohl sein, schräg oben, nach oben
Einen wilden Bogen schmieren
Vater und Großvater tauschen Position
Kind und Vater tauschen Position
Großvater und Kind tauschen Position
Und alle Zeit gewinnen, Zeitpunkte, alles Geschehene
Alle Filme sehen, Aufnahmen im Stampfen
Dauer ohne Zeit, ein Schwingen
Achterschleifen-Schwingungen
Endlos weit

.

Otto Dvoracek

.

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiVERS | blume (michael johann bauer)

always adapt to your latest li(f)es

das hochhaus erhaelt sehr fragile seitenfluegel du ziehst ungestuetzt
um in den elften stock deine wohnung besteht aus vielen scherben
& querfeldein gesammelten naturrelikten die in neukombinationen
spannende eigenleben zu entwickeln scheinen sowie wurzelfaeden
brachliegende verbindungsmoeglichkeiten hoechstens in traeumen
flieszen fluessigkeiten durch diese dann stark vergroeszerten rohre
& versorgen dich mit allerlei daten deren volumen nicht chronisch
im widerspruch zu deinem fassungsvermoegen steht das bedeutet
dir hilft die zeit deine impulse zu verarbeiten & hin & wieder gar
nach kritischer selektion umzusetzen was du fuer sinnvoll haeltst

.

blume (michael johann bauer)

.

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiVERS | Johannes Bruckmann

Neubeginn

Es ist schon wieder hell geworden
Aber dieser Morgen begann vor vielen Jahren
Als die Zeit
Noch für mich zuständig war

Es ist, als bräuchte ich jetzt einen Anhaltspunkt
Es ist, als wäre ich mit meiner eigenen Erzählung
Zu weit gegangen
Und müsste jetzt etwas tun
Das ich bereuen kann
Um dann
Neu zu beginnen

.

Johannes Bruckmann

.

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiVERS | Donka Dimova

Manchmal, wenn ich mir anschaue

wie der weiße Kater meines Nachbar
unverschämt das Fensterbrett im vierten Stock abmisst,
dann frage ich mich,
ob ein paar Zentimeter Gleichgewicht ausreichen?
Wie viele der sieben Leben schon verbraucht sind?
Vielleicht sind Kater auch mal lebensmüde?
Manchmal, wenn ich ihn anschaue, frage ich mich:
Was für eine wahnsinnige Neugierde?

Doch, was verstehe ich vom Wahnsinn,
der aufm Fensterbrett stolziert,
der furchtlos wählen kann:
viele vernünftige Leben
oder einen irrsinnigen Sekundenflug.

Ich glaube nicht an Schicksal.

Ich erinnere mich an meinen Nachbar,
dessen weißer Schatten noch stolziert
in meinen Augen.
Er, der Wahnsinnige wählte die Sekundenfreiheit.
Ohne Schutzgeländer, ohne Mühe
sprang durchs Fenster seine Furchtlosigkeit.

Vielleicht glaubt der Kater,
sein Herr hatte viele Leben und sucht ihn noch?

Warum ist er gesprungen?

Für den Sekundenflug?
Und danach Scherben der Fehldeutung.
Sekundenflug, klackernde Uhrzeiger, Räder, Kolben
vermessen den Wahnsinn.

Aber wie soll ich an die Zeit glauben,
wenn das Weltall vergisst
die Jahre des Lichtes zu zählen,
wenn mein Kopf sogar
langsamer altert als die Füße.
Ohne Erdanziehungskraft würden wir ewig leben.
Es stimmt. Frage die Physik!
Die Zeit ist nicht linear. Sie ist in uns.
Die Uhrwerke sind der Entwurf
von kranken Geistern ohne Zeit.

Dann warum soll diese selbstmörderische Kleinzeit
von meinem Nachbarn keine Ewigkeit fortdauern?

Der Wahnsinnige im Sturzflug nach unten
der Kater hinterher
in einem unmessbaren Glück.

Alle Uhrmacher schauen zu, wie ihre Zeit abläuft.

Der Körper wird auf dem Boden prallen,
aufplatzen wird neben Hirn und Adern
auch das Wissen.
Die Haare werden zerstreut aufm Bürgersteig,
die Vernunft zermatscht in eine Pfütze.
Zahnräder, Gelenke und Vorstellungen
werden herrenlos durch die Straßen rollen.
Nur der Wahnsinn feiert.
Wenn ich all diese Bruchstücke aufsammel´,
werde ich dann besser schlafen können?
Wird der weiße Schatten dann verschwinden?

Manchmal schaue ich mir
den weißen Kater meines Nachbar an
und frage mich:
„Was für eine wahnsinnige Neugierde?

.

Donka Dimova

.

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiVERS | Tara Meister

pflaster

früh und zahnpasta
frostig atmet die stadt
wand zu wand
mich grüßt die schrille
doppler-symphonie der straße
jagt mich durch die gassen
gefolgt von einer
unterwelt der wünsche
mich hält der tag
bis die wohnungstür ins schloss fällt
bade eng
fließt es weiß aus dem drucker
über mich
süß statt zucker
flockt am rand vom wasserglas
die angst
schlucke und dann straßenbahn
sehe mir die anderen an
die auch darauf verzichten
auszusteigen

.

Tara Meister

.

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiVERS | Enno Ahrens

Auf dem Weg nach Feuerland

war mir ein stummer Mensch begegnet.
Den genauen Standort verrate ich nicht.
Er war von kleiner, gedrungener Statur,
seine Haut wie ein grauer Neoprenüberzug.

Erst dachte ich: Ein Pinguin.

Im Glastlicht der Abendsonne
schaute ich von oben auf ihn herab;
da wurde er plötzlich unsichtbar.
Sah ich ihn schräg von der Seite an,
zeigte er sich in Giftgrün.
Er selbst verzog dabei nie eine Miene.

Kurzzeitig dachte ich: Ein Chamäleon.

Aber das traf auch nicht zu, wie ich
nach genauer Untersuchung, von
ihm geduldet, feststellen durfte.

Leuchtstoffspuren ließen sich
ebenfalls nicht nachweisen.

Es konnte nur in meinem Blick gelegen haben.

Egal, wie das Licht einfiel, sogar im Halbdunkeln,
von oben herab betrachtet, löste er sich auf.
Schräg von der Seite angestarrt,
erschien ein warnendes Giftgrün.

.

Enno Ahrens

.

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiVERS | David Howald

In einem anderen Land

Kleine Fingerspitzen klauben peripher am großen Wattebausch der Gedanken,
wenn ich ihn so zu bündeln versuch', dass er schweigt;
zuerst halte ich ihn statisch, dann schwebend, dann vollflächig.
Ich verkaufe mir die alten als neue Gedanken.

Ich betrete deine Domäne hoch oben im Wald,
wo du einen neurotisch-psychotisch reinigenden Trank vorbereitest.
Der Dampf steigt dir wohlriechend zu Gesicht,
du spiegelst dich in deinem Werk.
Es ist das, worauf du immer gewartet hast
und das, worauf du immer warten wirst.
Ich werfe dir Selbstbetrug vor,
du verbannst mich dafür aus dem Kreis des Waldes.

Der Anflug eines Gespenstes
stößt mich über die Kante eines hohen Felsens
ins stachlige Dickicht der Föhren hinab.
Auf dem Weg nach unten, hab' ich mich zahlreiche Male verwandelt:
Engel scheren an meiner Kontur aus,
hartes Gefieder flackert wie Lederriemen in der konzentrieren Sturzluft.
Mit dem Plastik-Zauberstab taktet klein Oona meine Metamorphose:
Sie sitzt im Schoße Gottes, dieser wiederum sitzt im Schoße eines anderen Gottes.
Alle sind sie sich einig, dass das Kleinkind die Pforte zur Unendlichkeit sein soll,
aber keiner mag entscheiden, wo diese ihren Endpunkt finden wird,
wie in einem Exzess, der sich im Übermut endlos verkettet.

Oona zaubert weiter und schaut mich mit meinen eigenen Augen an.
Ihr Glitzern erfüllt mich von innen,
wie Champagner-Bläschen steigt Liebe in mir hoch.
Der Rohbau der Zukunft steht irgendwo weit entfernt,
in einem andern Land.

.

David Howald

.

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>