freiTEXT | Martina Berscheid
Nach dreißig Jahren
Margret legt die Hand auf die sonnenwarme Fensterbank. Einen Moment lässt sie sie ruhen, wie auf dem Rücken einer Katze. Sie hat nie ein Haustier besessen, der Vermieter erlaubte keine, sie hat das immer bedauert. Heute ist sie erleichtert darüber.
Früher stand Margret oft hier am Fenster des Wohnzimmers. Blickte nach unten auf den Spielplatz. Halb von der Gardine verborgen sah sie den Kindern der anderen Hausbewohner zu, wie sie schaukelten und rutschten. Nur kurz, damit sie Margret nicht bemerkten und sie ihre Unbefangenheit beim Spiel behielten.
Früher glaubte sie, keine eigenen Kinder zu haben, wäre das größte Unglück in ihrem Leben. Da hatte Kurt sie noch nicht verlassen. Sie ihren Job gehabt. Glaubte noch an das Gute im Menschen und dass sich im Leben alles fügen würde.
Sie blinzelt gegen die Sonne, die durch die blanke Scheibe fällt. Schweiß tritt ihr aus. Die Wintersonne bündelt ihre Kraft. Die täuscht. Die Temperatur draußen beträgt vier Grad unter Null.
Unter dem Wintermantel trägt Margret drei Pullover übereinander. Zwei weitere hat sie eingepackt, den Rest verschenkt. Viel kann sie ohnehin nicht mitnehmen.
Dreißig Jahre hat sie in dieser Wohnung gelebt. Erst mit Kurt, später allein. Sie befolgte immer sämtliche Hausregeln, sogar die unsinnigen, putzte den Flur, wenn sie an der Reihe war. Entsorgte den Müll ordentlich, und mit der Miete war sie auch nie in Rückstand.
Sie hat niemandem erzählt, dass das heute ihr letzter Tag hier ist. Nicht mal den besten Freunden. Vor allem denen nicht.
Erst kam die Mieterhöhung. Dann die Kündigung, wegen Verkaufs. Der Vermieter sagte, jeder müsse schauen, wo er bleibt. Er wird eine Menge Geld bekommen für die Wohnung, Altbau, in einer neuerdings beliebten Gegend.
Wenigstens lässt ihr der Vermieter diese halbe Stunde. Zum Abschiednehmen. Sie solle einfach zuziehen und ihm die Schlüssel bringen, er habe sowieso noch nebenan zu tun und schließe dann später ab.
Ihr Nachbar ist vor ein paar Monaten gestorben, dessen Wohnung gehört auch dem Vermieter.
Noch ein letzter Blick. Auf den Spielplatz, die Sträucher dahinter, die im Sommer blühten, die Bänke, wo die Mütter und manchmal auch Väter saßen und erzählten. Die beiden Kastanien, den Rosenbusch, von dem sie manchmal heimlich eine Blüte abschnitt, in eine Vase stellte und jeden Tag mehrmals daran roch, bis die Blätter welk auf den Küchentisch fielen.
Margret kehrt dem Fenster den Rücken. Zieht den Rucksack auf und greift nach der Tasche neben sich. Die macht sich schwer, als wolle sie auch bleiben.
Geht nicht, flüstert Margret in die Stille. In die Leere. Der Wohnung und in ihr drin.
Ihre Schritte hallen auf dem Parkett, das sie regelmäßig pflegte. Sie mochte es, wenn es glänzte und nach Politur roch. Die Abnutzung sieht man dem Boden dennoch an. Die Jahre, die vergangen sind. Er ist wie ein Spiegel ihrer selbst.
Margret schließt die Tür und hat für einen Moment das Gefühl zu fallen. Sie atmet in den Bauch. Bis der Schwindel nachlässt.
Sie klopft an die Nachbartür, wie vereinbart. Bevor der Vermieter öffnen kann, legt sie die Schlüssel auf den Boden, steigt die Treppe nach unten. Schweiß läuft ihr über die Stirn.
Zum letzten Mal öffnet sie die Haustür. Schließt sie leise hinter sich.
Draußen schwappt ihr ein Schwall kalte Luft ins Gesicht. Sie tastet in die Innentasche ihres Mantels. Dort stecken ihr Pass und das Geld, das sie für die Möbel bekam. Viel weniger, als sie wert waren.
Hastig setzt Margret sich in Bewegung. Der Wind schneidet durch die Straßenschluchten, über ihr Gesicht. Sie geht bis zur Kreuzung, überquert sie. Passiert den Dönerladen, wo ihr der nette Angestellte zuwinkt. Sie denkt an die Wohnung, leer und doch so voll von Erinnerungen und Gefühlen, die sie besser auch zurücklässt.
Der Schmerz nährt sich nur davon.
Die Sonne steht tief. Margret wird sich bald einen Schlafplatz suchen müssen.
Sie kann sich nicht vorstellen, wie sie in der Kälte überleben soll. Sie weiß, dass es Einrichtungen gibt. Für Leute wie sie. Sie hätte sich kümmern müssen.
Bis zuletzt hat sie geglaubt, dann gehofft, dass sie doch bleiben kann.
Wie unsäglich dumm.
Die nächsten Tage werden zeigen, ob sie sich das letzte bisschen Stolz erlauben kann.
Das schmiedeeiserne Tor des Friedhofs taucht vor ihr auf. Es steht einen Spalt offen, wie eine Einladung. Margret geht hinein.
Die Sonne verglüht schon, gießt orangefarbenes Licht über die Grabreihen. Sie war lange nicht mehr hier, zuletzt an der Beerdigung einer Freundin.
Eingerahmt von Eichen, lässt sie sich auf einer Bank nieder. In diesem Teil des Friedhofs liegen die Kleinsten, die Totgeborenen. Die Sternenkinder.
Sie holt Decken und den Schlafsack aus dem Rucksack. Wickelt sich darin ein. Die Kälte frisst sich dennoch durch die Stoffschichten, bis auf ihre Haut. Wie Säure.
Sie betrachtet den Grabstein vor ihr, wie sich seine Farbe verdunkelt, bis sie die Inschrift nicht mehr lesen kann.
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freiTEXT | Suse Schröder
Formtat
Unsere Eltern warten auf Nachricht. Die sind wir ihnen schuldig. Ständig rufen sie an, aber wir gehen nicht ran. Wir wollen nicht die immer gleichen Gespräche führen. Wir beschließen, aus einer Brauselaune heraus, ihnen zu schreiben. Dafür brauchen wir Input, um ihnen glaubwürdig zu erscheinen und uns selbst zu glauben, und Briefpapier. Bis-dann-H holt ihre alte Postmappe und Stifte. Wir greifen zu.
Wir spielen Wetter Befinden Tätigkeit Essen.
Hab‘s-schön-M schreibt: Gewitter Gabelspagetti Gehen Gut.
Viele Grüße-O findet das zu fad, greift aber auf Hab’s-schön-Ms Gs zurück:
Gerölldonner Gähnen Gnoccisgebraten ganzgutsoweit. Gegen das Gähnen hat Bis-dann-H was. „Gähnen kann auf Langeweile und Müdigkeit hinweisen. Erschöpfung sogar. Da rufen deine Eltern doch erst recht an.“
„Wir könnten Fragen stellen.“
„Ja, kurze! Auf die sie Lust haben schriftlich zu antworten.“
Tschüss-K hört gar nicht mehr auf zu nicken, hat aber auch keine Idee für eine mögliche Umsetzung.
„Unsere Eltern sind doch Generation Handy. Die wollen digital und nicht Zettel und Stift. Meine tippen selbst ihre Einkaufszettel ins Phone.“
„Aber über Post freuen sie sich auch, oder?“
„Wenn‘s keine Rechnungen sind, ja!“
„Sollen wir Fragen zu offenen Rechnungen stellen? Vielleicht sind sie dann erleichtert, dass sie keine haben und wollen uns das dann mitteilen.“
„Mhhh…“, meint Bis-dann-H, während Tschüss-K, Viele-Grüße-O und Hab’s-schön-M wie wild zu schreiben anfangen. Alles-Liebe-Ch schaut zu, wartet ab. Beim G hatte er nicht geglänzt, sich viel blaue Tinte über die Schreibhand geschmiert und nicht mal vorlesen wollen.
„Morgensonne Marmorkuchen mittelmäßig Machen“, liest Tschüss-K und merkt beim Vorlesen, dass sie damit nicht punkten wird. Kein*e andere*r hat eines ihrer Wörter. Diese zählen nur, wenn sie für die anderen ansprechend und für die elterliche Post inspirierend sind.
Viele-Grüße-O liest wieder als Letzter. Auf seinem Blatt stehen mehrere Wörter zu jedem Buchstaben.
„Montagswetter Mäuseschwänze Mittagslaune Magnolienschauen.“
„Mensch, Viele-Grüße-O, richtig lyrisch“, sagt Tschüss-K, weil sie das Gefühl hat, die Stimmung etwas anheizen zu müssen, um sich nicht allein defizitär zu fühlen. Die anderen schweigen, kritzeln Kreise, malen Quadrate auf ihre Briefpapierränder.
„P“, sagt Hab’s-schön-M und tobt übers Papier.
„Pfützenregen Pfannkuchen Piktogrammezeichnen platt“, liest sie schreiend vor, nachdem sie den letzten Buchstaben aufs Papier gesetzt hat. „Eierkuchen oder Pfannkuchen?“, fragt Bis-dann-H und Hab’s-schön-M kann sich nicht entscheiden, weil Pfannkuchen so gut passt, sie aber lieber Eierkuchen mag. „Mit den Piktogrammen finde ich stark“, sagt Viele-Grüße-O und Tschüss-K: „Ja, vielleicht schreiben wir gar nicht, sondern zeichnen.“ Für Minuten ist es still. Hier wird gedacht. „Joa“, sagt Alles-Liebe-Ch und kritzelt auf seinem Papier. Mit rotem Kopf zeigt er seine Zeichen-Zeichnungen in die Runde. Wir raten, aber auch nach dem zehnten Versuch schüttelt Alles-Liebe-Ch den Kopf. Eine Chance haben wir reihum noch. Trotz gegenseitiger Beratung lösen wir keines seiner Bilder auf und verlieren die Lust. „Wollen wir fertig werden? Auf mich übt das ganz schönen Druck aus“, sagt Viele-Grüße-O und Bis-dann-H verschwindet wieder in ihrem Zimmer. Wir hören sie kramen. Sie kommt freudestrahlend mit einem Stapel Postkarten zurück, verwischt sie auf der Tischplatte und legt Briefmarken dazu. Für jede*n von uns eine. „Sucht euch das Bild aus, was euch als erstes anspricht“, sagt sie und Tschüss-K muffelt: „Spielen wir Therapie oder was?“ Bis-dann-H ignoriert Tschüss-K’s Kommentar und formuliert ein mögliches Ziel: „Wir schreiben jetzt jede*r für sich, lecken die Briefmarken an, kleben sie auf und ab geht die Post.“ „Einfach so aus der Kalten?“, fragt Alles-Liebe-Ch. Alle nicken instant, weil das jetzt ein Ende finden soll.
Hab’s-schön-M stellt ihren Handywecker: „Auf! Fünf Minuten!“ Und dann schauen wir uns an, grabschen uns einen Stift, greifen eher wahllos jede*r eine Postkarte und kritzeln los. Als Hab’s-schön-Ms Wecker schrillt, haben wir rote Gesichter, eine flache Atmung, beschriebene Postkarten und Durst. Bis-dann-Hs Vorräte sind bereits aufgebraucht. Wir gehen gemeinsam zum Späti, auch weil davor ein Briefkasten steht. Nach und nach werfen wir alle etwas zu feierlich, Alles-Liebe-Ch sogar sehr albern, unsere Post ein. Ob sich unsere Eltern gefreut, uns gar zurückgeschrieben haben, erzählen wir uns ein anderes Mal. „Abgemacht?“, fragt Tschüss-K. Und dann legen wir alle unsere Hände übereinander und sagen unisono: „Abgemacht!“, sehr laut zur eingeschalteten Laterne hinauf und also in die Nacht, erleichtert und froh, dass wir Dinge geregelt kriegen.
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freiTEXT | Marlene Schulz
Auf der Melibokusbank
In der Nacht hatte es geregnet. Die Wiesen waren noch feucht und die Luft war kühl an den Wangen und frisch. Ein feiner Nebel zog über den Gräsern auf.
Sie gingen hoch zu der Sitzgruppe, einem Tisch und davor einer Sitzbank aus grobem Holz, mit Blick auf den weit entfernten Melibokus. Oben stiegen sie über die Bank auf den Tisch und stellten sich nebeneinander. Das Holz war zu feucht, um darauf zu sitzen. Sophia tippte wortlos den gestreckten Zeigefinger an die Lippen und zeigte dann auf den Waldrand. Da stand eine Ricke mit einem Kitz. Nada nickte. Sie schauten eine Weile zu, sahen die Rehkuh aufschrecken und die Tiere davonlaufen.
Gestern hatte ich eine seltsame Begegnung, sagte Sophia.
Hier im Wald?, fragte Nada.
In der Bahn. Ich bin von Frankfurt nach Darmstadt zum Nordbahnhof gefahren. Wenn du da in den Zug steigst, kommt dir die Welt viel kleiner vor. Der Zug hat zwei kurze Wagen und alles wirkt wie ein größerer Bus auf Schienen, der in die Jahre gekommen ist.
Auf halber Strecke, da waren die meisten Leute schon ausgestiegen, kam ein Mann auf mich zu, ich saß auf einem Vierer, und der fragte, ob er sich zu mir setzen dürfe. Klar, hab ich gesagt, und da streckt der mir seine Hand entgegen und sagt seinen Namen. Ich war so perplex, dass ich ihm auch die Hand gab. Komisch irgendwie. Die hat er dann mit zwei Händen festgehalten, für mein Gefühl ein bisschen zu lang.
Hast du deinen Namen auch gesagt?
Ich hab erst mal gar nichts gesagt. Er hat dann geredet, hat gesagt, ich kann mir vorstellen, dass Ihnen das etwas eigenartig vorkommt. Nicht ganz gewöhnlich, hab ich gesagt. Ja, das trifft es.
Wissen Sie, sagte er, ich habe in einem Magazin über eine Studie gelesen. Solche Analysen sind immer sehr aufschlussreich. Da hieß es, dass körperliche Berührungen von Menschen und Tieren Schmerzen lindern können und Depressionsgefühle und Ängste.
Hm, hab ich gesagt.
Ich finde das sehr beeindruckend, sagte er. Die körperliche Gesundheit kann jeder Mensch dadurch selbst beeinflussen und seitdem ich das weiß, habe ich angefangen zu sammeln.
Was sammeln Sie denn?, hab ich gefragt.
Berührungen, meinte er.
Deshalb haben Sie meine Hand vorhin so festgehalten.
Sie haben es erraten, sagte er und dabei streckte er seinen Zeigefinger gefährlich nah zu mir herüber. Glücklicherweise blieb er sitzen.
Und führen Sie darüber Buch, was Sie so am Tag gesammelt haben?, hab ich gefragt. Vier Mal Händeschütteln, drei Mal Armberührung, zwei Mal Anrempeln in der Straßenbahn im Berufsverkehr? Weihnachtsmärkte müssten da ja sehr ergiebig sein oder Demos.
Nein, wo denken Sie hin, sagte er. Ich mache keine Strichlisten, ich sammle einfach nur die Berührungen. Volksfeste sind ein guter Fundort, auch Bahnsteige. Da stelle ich mich am ankommenden Zug vor die Tür und bleibe einfach kurz vorm Reingehen stehen, während die anderen alle in die Bahn wollen. Da gibt es ganz viel Berührung, nicht immer freundlich, aber Körperkontakt von mehreren Seiten. Je häufiger, umso gesünder. Umarmungskissen gehen natürlich auch, sagte er. Oder Gewichtsdecken. Aber so etwas habe ich nicht zuhause. Ich mag es lieber natürlich, so von Mensch zu Mensch. Und wissen Sie, was die herausgefunden haben?, fragte er.
Die Forscherinnen meinen Sie?
Forscherinnen?
Ja, die Forscher stecken ja sowieso im Wort, sagte ich. Sie machen mich neugierig, was die entdeckt haben.
Ach so, sagte er, und ja, stimmt. Die haben herausgefunden, dass es gar nicht auf die Länge der Berührung ankommt. Da gibt es keinen Unterschied, ob es um zehn Sekunden geht oder um eine Stunde.
Okay, sagte ich.
Aber noch interessanter ist, sagte er, wo die Berührung am wirkungsvollsten ist.
Irgendwie war ich plötzlich alarmiert und dachte so bei mir, hoffentlich ist das jetzt harmlos. Ich hab mir alles Mögliche ausgemalt, wo das sein wird, auf Herzhöhe oder direkt unterm Bauchnabel oder am Hintern, und dass der mir dann die Stellen genau an sich zeigt und hoffentlich nicht an mir.
Am Kopf, sagte er da.
Am Kopf, hab ich dann wiederholt und war erleichtert.
Kurz vor der nächsten Haltestelle stand er dann auf, guckte mich an und sagte: Hätten Sie etwas dagegen?
Gegen was?, hab ich gefragt.
Nur eine kleine Berührung, so von Stirn zu Stirn, also von Kopf zu Kopf. Für meine Sammlung.
Für Ihre Sammlung, hab ich gesagt.
Ich sammle doch Berührungen.
Ja, das sagten sie, sagte ich. Er stand ja da so vor mir und ich, ich hab gesessen. Von mir aus kann der ja sammeln, was er mag. Ich bin auf jeden Fall für gesunde Sachen, und dass da einer für sich selbst sorgt und alles, finde ich wirklich super. Der kann vor jeder Zugtür stehen bleiben und warten, bis alle eingestiegen sind und beim nächsten und übernächsten Zug nochmal das Gleiche, von mir aus den ganzen Tag und meinetwegen auch die Nacht, alles fein, aber stell dir vor, dich will auf einmal jeder Mensch am Kopf anfassen, da wirst du doch verrückt von diesem ganzen Kopfgetatsche.
Und was hast du gemacht, fragte Nada und guckte mich von der Seite an. Ich schaute auf den Melibokus.
Hast du’s gemacht? Nada kräuselte die Augenbrauen und legte den Kopf ein wenig schief. Hast du nicht, sagte sie. Oder?
Ich hab ihm gesagt: Tut mir leid, aber ich habe da einen ganz schlimmen unsichtbaren Ausschlag am Kopf, ich möchte sie auf keinen Fall anstecken. Ich mag Ihre weitere Sammlung nicht gefährden.
Da hat er seine flache Hand auf den Mund gelegt und große Augen bekommen, ist dann sofort aus dem Vierer raus auf den Gang und weg war er.
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freiTEXT | Carolina Reichl
Plus, Minus, Notizen
mit L. zusammenbleiben:
+ er liebt dich
+ du liebst ihn
+ du kannst mit ihm lachen, über alles und nichts
- ihr streitet zu viel
+ ihr streitet eigentlich nur, wenn ihr betrunken seid
- er trinkt zu oft und zu viel
+ er sagt, er will sich ändern
- er hat schon oft gesagt, er würde sich ändern
- deine freundinnen sagen, du verdienst was besseres
+ deine eltern mögen ihn
+ seine mama mag dich
+ seine freunde sagen, du tust ihm gut
+ ihr seid seit 6 jahren zusammen
+ er ist dein erster freund
- er ist dein erster freund
- du fragst dich manchmal, wie es wäre, mit jemand anderem zusammen zu sein
+ du kannst bei ihm sein, wie du bist
- er sagt, deine oberschenkel wären fester geworden
+ der sex
+ die neue wohnung
- seine eifersucht
+ er sagt, er will dich nicht verlieren
+ er sagt, er kann sich eine zukunft mir dir vorstellen
+ du bedeutest ihm viel, ohne dich fühlt er sich leer
- er hat dich bitch genannt
+ er ist kreativ
+ er ist ehrgeizig
+ du kannst ihn glücklich machen
- das glück ist nie von dauer
+ er sagt, du bist was besonderes
+ du weißt, es fällt ihm nicht leicht, sich zu öffnen, aber für dich versucht er’s trotzdem
+ so offen wie mit dir spricht er sonst mit niemandem über seine vergangenheit
- er ist unpünktlich
- er entschuldigt sich für seine unpünktlichkeit nicht
- wenn du weinst, wird er wütend
+ er schenkt dir blumen
+ er mag dieselben serien wie du
+ er kocht gerne
- du hasst es, wenn er in seiner nase bohrt und glaubt, du merkst es nicht
+ du magst, dass seine augen unterschiedlich sind, das eine grün, das andere blau
- er hat dich betrogen
- er hat es nicht zugegeben, als du ihn danach gefragt hast
+ es ist nur einmal passiert, sagt er, und er war betrunken
+ es tut ihm leid
+ er sagt, es war ein fehler
+ er sagt, dass es für alles eine lösung gibt
- was, wenn er wieder fremdgeht?
- was, wenn du ihm nicht verzeihen kannst?
+ du kannst mit ihm über alles reden
+ er hört dir zu, wenn dich was bedrückt
+ er vertraut dir
+ du bist die einzige, die weiß, dass er antidepressiva nimmt
+ er sagt, er kann sich nicht vorstellen, mir jemand anderem so glücklich zu sein
- du hast angst, dass es dir irgendwann zu viel wird
+ er gibt dir selbstbewusstsein
+ er sagt, du gibst seinem leben sinn
+ du kannst an dir arbeiten, wenn du genug an dir arbeitest, wird alles wieder gut
- du schreibst diese liste nicht zum ersten mal
+ er liebt dich
+ du liebst ihn
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freiTEXT | Jan David Zimmermann
Onkel Fritze
Schmerz ist das stärkste Mittel der Mnemotechnik. – nach F. Nietzsche
Haarmann hat sich aufgerichtet. Er hat sich aufgerichtet und hat die Teerbrocken ausgehustet, die jeden Morgen auszuhusten sind. Immer, ausnahmslos… ja, jeden verdammten Morgen das durch das Rauchen verursachte Aushusten von Teerbrocken. Zumindest fühlen sich diese klumpigen Rachenablagerungen so an wie Teer, dachte Haarmann nun in der Dämmerstimmung des Morgengrauens.
Er hat sich aufgerichtet, sein feister Körper hat sich in der Mitte also rechtwinkelig geknickt, wobei ihm die abgewetzte dünne Decke wie eine zweite Haut von der breiten Brust um den Bauch rutschte. Dann hat er die Beine ausgestreckt und die Arme ebenfalls. Warum macht man das?, hat sich Haarmann wohl gefragt, warum streckt man sich in der Früh? Versucht der Körper etwas loszuwerden, was in der Nacht in ihn fälschlicherweise hineinkam?, klang es in seinem Ohr. Haarmanns Lippen haben unter dem vom Polster der Nacht aus der Ordnung gebrachten englischen Schnurrbart kurz gezuckt. Er hat neben sich eine zweite, zerwühlte Decke gesehen, aber neben ihm lag niemand. Ihm war eigenartig zumute. Und nun war es ihm auch wie ein Déjà-vu, in der Früh so aufzuwachen und sich dies zu denken, die Lippen zucken zu spüren, die zerwühlte Decke zu sehen, und sich eigenartig zu fühlen, ein leichtes Grausen zu fühlen, das um ihn waberte. Er hat nun genauer in das Halbdunkel der Frühe geschaut, angestrengt hat er versucht, Neues zu entdecken, herauszufinden, warum ihn das leichte Grausen befiel. Da ist ihm plötzlich im Dämmerdunkel das konstante Sehfeld aufgerissen und ebenjene schwarzen kleinen Kristalle sind durch den Raum geschwebt, die entstehen, wenn man sich zu lange nach unten bückt und anschließend schnell wieder aufsteht. Warum zerbröselt mir die Sicht derart, wenn ich mich aber doch gar nicht nach unten bücke und dann schnell wieder aufstehe, sondern nach wie vor im Bett sitze?, hat Haarmann sich gefragt und ihm war noch seltsamer zumute als zuvor. Der entblößte schwammige Brustkorb ist nun auch zusätzlich von der kalten Luft angegriffen worden, die das undichte Fenster mit der dünnen Scheibe einströmen ließ. Einem innerlichen Frösteln folgte also, mehr oder weniger, aber eher mehr, ein äußeres Frösteln. Langsam beruhigte sich sein Sehfeld wieder etwas. Haarmann hat die Arme links und rechts neben sich in die quietschende und durchgelegene Matratze gestützt, hat einen dunklen Fleck in die Grobkörnigkeit seiner Decke geschaut, die noch um seine Füße geschlungen war. Dachte, er hat dort etwas gesehen, hat aber nicht gewusst, ob es nur das zu lange Starren auf einen Fleck war, das ihn dort, auf seiner Decke etwas vermuten ließ. Die Dämmerung des Morgens entstellt die Dinge, klang es in seinem Ohr. Haarmann hat genickt und die allgemeine Grobkörnigkeit der Dinge und Gegenstände bemerkt und sich nun wieder hinlegen wollen, hat sich die Hautlappen der glatzigen Decke geholt und seine Brust wieder bedeckt, den Kopf in die Kissen gesenkt. Auf den Plafond starrend war er nun aber wach und musste an Hildesheim denken, es strömte nun unaufhaltsam auf und in ihn ein; die Schwere der Dinge in der Nacht kann bisweilen von einer noch größeren Schwere der Dinge in der Früh abgelöst werden, klang es in seinem Ohr. Er musste nun an das Kranksein denken, er erinnerte sich an die Worte des Arztes und konnte sich an dessen von Schweißperlen umkränzten Mund erinnern, als dieser damals die Diagnose aussprach. Haarmann musste nun also das Wort Jugendirresein in sein Bewusstsein lassen, musste also am Ende sich in einem kranken Zustand und seine Krankheit und alles damit Zusammenhängende in sein momentanes Bewusstsein eindringen lassen, ohne Unterlass. Das Wort Jugendirresein penetrierte seine Gedanken und zerhackte die Wohlgeformtheit seiner Gedanken, zerrieb die Syntax seiner Gedanken, zerstob die Semantik seiner Gedanken, zersetzte die Logik seiner Gedanken. Ein Summen und Surren dieser losen, zerbrochenen, nunmehr wirren Gedanken. Nun hörte er in all diesem dröhnenden Gedanken-Strömen die Jungen sprechen, die Puppenjungs, wenn sie ihn zärtlich „Onkel Fritze“ nannten. Dieses „Onkel Fritze“, das sie von sich gaben, wenn sie sich um Haarmann geschlungen hatten, mit ihm so im Bett lagen, ihn dann küssten und so weiter. Dieses Bild stach nun in Haarmanns Kopf, flackerte auf.
Haarmann hat sich daher wieder vollkommen aufgerichtet, so als könnte er dadurch den Gedanken entkommen, so als gäbe es die Gedanken und Bilder nur in einer bestimmten Position. Haarmann hat sich also aufgerichtet, hat sich im schweißverwetzten Bett herumgedreht, sich mit erhöhtem Oberkörper die Decke noch fester um die Beine geschraubt, die zweite Decke lag nach wie vor zerwühlt neben ihm und er fragte sich nun endgültig, was es mit ihr auf sich hatte, wo er doch alleine war. Im langsam sich erhellenden Zimmer konnte er nun eigenartige Flecken auf dieser Decke erkennen. Er fasste einen Entschluss und begann, auf die zweite Betthälfte zu kriechen. Haarmann ist nun also im morgendlich erhellten Raum mit von seiner eigenen Decke umschlungenen Beinen zu der anderen Betthälfte gekrochen, ist an und über die zerwühlte zweite Decke gekrochen und hat schließlich beim Lüpfen der anderen Decke das Blut bemerkt, das sich in dieser Betthälfte befand und das Laken darunter getränkt hatte. Haarmann hat die Augen entsetzt aufgerissen und ist weiter bis zur Bettkante gekrochen.
Da hat er am Boden einen liegen sehen, hat gesehen wie die Morgensonne, nunmehr endgültig in das Zimmer eingedrungen, auf den Körper des toten Jungen fiel. Haarmann sah den nackten und schönen Körper des Puppenjungen, sah aber gleichzeitig dessen zerwühlte Kehle; zerwühlt wie Decken in der Früh.
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freiTEXT | Dana Schällert
Denk mal
Niemals hätte sie das gedacht.
Wo sie doch so gegensätzlich sind.
Gegensätzlicher kann man gar nicht sein, denkt sie. Denkt sie.
Sie denkt. Allein das ist bemerkenswert, denkt sie. Das muss ER gewesen sein. Denk mal, denkt sie.
Man kommt wohl nicht drumrum, wenn man sich in wen verliebt, der ein Denkmal ist. Sein Sein ist die Arbeit, denkt sie. Er arbeitet Tag und Nacht, denkt sie, während sie nichts tut. Rumsteht. Rumsteht und nichts tut, außer Kleider zu tragen. Mal dick und warm, mal luftig und kühl, gemustert oder uni, es bleibt Stoff, aus dem keine Träume sind.
Sie hat weder Augen noch Mund, ihr ganzer Körper verharrt im Status der Andeutung. Ihre Hand ist leicht erhoben und nicht voll gestreckt, eine Geste von Eleganz und Überdruss, sie hat sie nicht selbst geformt. Formwerk anderer ist ihre Haltung, ihr ganzer Leib, Kunststoff wie die Gewänder, ihre Kugelgelenke drehen sich um eine Welt, die eine Glasscheibe ist. Dahinter steht sie nämlich, in einem Zwischenraum. Hinter der schmalen Stellwand, die ihren Rücken umsäumt, liegt die kunstlichtbeschienene Verkaufsfläche, gefüllt von Aufreihungen kleidförmiger Identitätsvorschläge in den Farben der Saison, deren verkaufsträchtigstes Exemplar sie selbst als Botschafterin zu tragen auserkoren worden ist. Das ist ihr Platz. Hier. Vor unsichtbarem Hintergrund, hinter besagter Scheibe. SALE steht vor ihrer Stirn. Es könnte ihr Name sein.
Schaut ihn an. Augenlos, hirnlos, wortlos. Schaut ihn an und denkt auf einmal.
Denk mal, sagt etwas an ihm. Wie er abgehoben da oben steht auf dem Turm anderer Figuren mit der Kelle in der Hand. Sein Körper ist vom Schuften gebogen, auch steht er nicht aufrecht und stolz wie sie, die innen hohl ist, sondern schräg, als könnte ihn bereits ein leichter Wind hinfortreißen. Sein metallener Blick aber ist so fest und stark wie die Hände, die die Kelle umgreifen, wie die weit gespreizten Beine, die in den Boden gegossen scheinen, weil sie es sind. Seine Kleidung ist nicht aus Stoff, das ist in Bronze gegossener Marmor. Das ist ewig, das ist nicht Saison, das ist die stehengebliebene Zeit. Das ist Geschichte, genau wie seine unmoderne Kopfbedeckung, die was mit seiner Arbeit zu tun haben muss. Niemals wird ein Wind ihn hinfortwehen, denkt sie. Niemals. Das ist Geschichte. Was war, steht fest. Stünde ich dort, ach, aber ich bin ja hinter Glas, ich bin ja …
Sie weiß, er schwarz. Er weiß, sie nicht. Nichts weiß sie. Aber denk mal, sagt er wohl, denkt sie. Denk doch mal. Denk, was sein könnte. Du könntest sein. Ich könnte sein. Alles könnte anders sein. Wir könnten sein. Könnten abhauen, denk doch mal. Und sie starrt hinaus, Gedanken verloren, die sie gerade gewann und sehnt sich. Ich bin ja …, ich könnte ja … Denk mal, sie sehnt sich. Steht hinter dem Glas des internationalen Modekonzerns und sehnt sich. Nach mehr. Nach Wahrheit. Nach Körper und Schweiß und Sex und Luft. Nach Veränderung. Denkt, dass er längst müde sein muss. Von so viel Arbeit. So viel Geschichte, die in seinen Adern zur Ewigkeit gefror, dass sie kein Hirn mehr zum Denken bringt. Wie sie, so harrt er aus, vor Bewegung längst steif geworden, steif wie sie, denkt sie, die sie nie in Bewegung kam. Hart und starr, beide, da muss es was anderes geben, denkt sie. Es muss mehr geben.
Wie käme Regung in meine Beine?, denkt sie. So wie das Denken in mein Hirn kam? Aber wie war das? Wie war das nur? Und wie könnte …? Liebe, denkt sie, Hoffnung, vielleicht, Glaube, oder was in der Art. Denk mal, ich habe ein Herz, denkt sie. Erkennt es aufgeregt, auf einmal, spürt den Rhythmus der Popmusik im Store kräftig in sich verzweigenden Adern pulsieren. Starrt hoch zu ihm, fragt sich: Und du? Könntest du? Willst du? Heut ist Ausverkauf. Rufen wollt ich dich, denkt sie, aber hab keine Worte, denkt sie, tastet nach den stummen Lippen und erstarrt, als sie merkt, dass sie sich bewegt hat, als sie merkt, wie die Kugeln rotieren, wie der Boden rotiert. Und als die Glassplitter auf die Straße klirren, da dreht er plötzlich, erschrocken hat er sich, dreht da oben den Kopf, ein Riss durchzittert den Stein, die Kelle schöpft Mut im Fall. „Jetzt!“
Inspiriert von der Skulptur „Turm der Arbeit“ von Jürgen Weber in der Innenstadt von Salzgitter Lebenstedt (Deutschland). Diese visualisiert die Stadtgeschichte Salzgitters. An ihrer Spitze steht der „Probennehmer“, eine große männliche Figur mit einer Gießkelle in der Hand. Umsäumt wird das auf einem Platz stehende Monument von Geschäftshäusern, in denen vor allem internationale Modekonzerne residieren, deren Schaufenster sich zum Platz hin öffnen.
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freiTEXT | Stefan Volkmann
Verlorene Kokons
Mein Fenster ist offen, ich döse. An der Bushaltestelle stehen französische Mädchen, warten, sprechen und lachen. Ich erinnere mich an Karens und meinen Wochenendausflug nach Straßburg. Es war Herbst, auf den Brücken und Quais lagen Blätter. Wir gingen Hand in Hand, umarmten und küssten uns. Wenn ich jetzt daran denke, fühlt es sich an wie die Erinnerung eines Fremden oder als hätte es mir jemand in einer Kneipe erzählt. Ich saß auf dem Place Kléber auf einer Bank, zwei Teenagerinnen schauten auf ein Handy und lachten. Acht in schusssicheren Uniformen steckende Soldaten patrouillierten langsam – ihre Maschinengewehre schussbereit – an uns vorbei, spähten in alle Richtungen und suchten Terroristen. Eine aus einem Maschinengewehrlauf sich lösende Kugel hätte mich treffen sollen, mein Leben wäre in einem roten Faden auf den Boden geronnen und aus mir rausgetropft. Plätschern von Springbrunnen, der sonnige Himmel, Karen hätte mir ihre neuen Schuhe nicht zeigen können, sie wären für meine Beerdigung nicht geeignet gewesen, zu fröhlich, lebendig und silbern. Wir bummelten zum Hotel, duschten uns und schliefen miteinander, goldene oder rote Blätter wehten aus meinem Körper in ihren oder aus ihrem in meinen, wir häuteten uns, um einander näher zu sein, aber sie hatte schon was mit Sascha. Warum habe ich sie, oder wir uns, verloren? Weil ich nicht mal mich halten kann? Karen sieh, ein ängstlicher Kahn versinkt. Ich sinke, seit ich denken kann, mir meiner Umwelt bewusst bin, aber mache trotzdem weiter, als sänke ich nicht. Leben ist vom ersten Atemzug an ein Weitermachen, ein Kampf. Ich rutschte die Rutsche runter, kletterte ein sternförmiges Netz aus Tauen oder Seilen hoch und sprang in den Sand, aber verstauchte meinen Knöchel oder schürfte ein Knie auf. Jemand wird gebracht, ein anderer geholt, Kleinkindergesichter kommen und gehen, verziehen sich zu Grimassen, entspannen sich zu Gesichtern, verformen sich zu Fratzen, und so fort. Ich spielte mit Jungs und Mädchen, überall standen Frauen, mit oder ohne anderen Frauen, schoben Kinderwägen vor und zurück, hockten sich hin und beugten sich vor. Haare fielen über Dekolletés, ich scheiterte bei meinen Versuchen, ihre Blicke zu deuten. Blaue, grüne, braune und graue Augen wurden schwarz, sobald ich sie anschaute, rote oder rosa Lippen grau, schwarze Augen steinern. Ich stehe zwischen Statuen im Park, bin ein Mensch, ein Mann, ein Kind, aber will eine Statue sein, oder sitze als nackter König – Grünspan auf der Haut, in der Krone, am Geschlecht – im Kettenkarussell. Es dreht und dreht sich, aber ich komme nicht raus. Die Frauen vom Spielplatz werden älter, fegen Blätter zusammen und gehen nach Hause. Kompost wievieler Herbste fault in meinem Schoß? Ich sitze im Tretauto, rase die Kindergartenautobahn lang und will endlich raus, aber ein Schneepflug nach dem anderen rauscht an mir vorbei, Kabinenlichter blinken rechts und links, türmen Matschberge vor mir auf. Ich müsste einen Tunnel graben, um irgendwo hinzukommen, sehe fahles Licht oder Nebel, durch den oder in das orangene Schneepflüge rutschen. Sie schlittern wie in einer weißen Kugel durch mein Schütteln oder stecken fest. Blonde Haare wehen im Zwielicht, rote Fingernägel winken aus halb geöffneten Fenstern, gespreizte Strumpfhosenbeine dampfen unter Lenkrädern. Herzatemwolken tragen Sonnenbrillen. Ich trete und trete, aber komme nicht raus, als wäre ich festgewachsen. Alles wiederholt sich, die Welt läuft auf Schienen, Kinder hängen wie frisch gewaschene Wäsche an Leinen, zittern körper- und kopflos im Wind. Ich verlasse meine Wohnung, laufe durch den Gleisdreieckpark zur Agb¹ und sitze am Ufer. Pferdeschwänze joggender Frauen und Mädchen pendeln rhythmisch von links nach rechts oder von rechts nach links und messen meine Zeit. Frauen und Mädchen öffnen ihre Zöpfe, Haare fallen und strömen ins Gras, meine Zeit ist abgelaufen, nimm dein Rennrad, tritt in die Pedale, es fährt rückwärts, du weißt nicht wohin, siehst nicht, dass ein Lkw in dich rein fährt, bleib, wo du nicht mehr zuhause bist, auf der Straße liegen und stirb. Ich verheddere mich in den Haaren der Frauen und Mädchen, mit denen ich geschlafen, die ich geliebt habe, ihre Haare wachsen weiter um mich, aber die Frauen und Mädchen sind lange fort und mit anderen Männern und Jungs zusammen. Ich ersticke in Kokons, die niemanden wärmen, bin in meinen Nestern aus Haaren, die ich gebaut habe, auf dass die Liebe – oder Karen – zu mir zurückkehren, aber sie kehren nicht zurück, nie flügge geworden. Habe Milch gesabbert, Haare verklebt und stecke in meinen Nestern, die keine Kokons sind, fest, schaue wippenden Pferdeschwänzen, die meine Stunden zählen, hinterher, und will ein neues Nest, einen neuen Kokon, aber keine Frau, kein Mädchen schenkt mir mehr ihre Haare, alle joggen den Kanal lang oder fahren in Schneepflügen an mir vorbei und spucken auf den fetten Alten, der in seinem roten Tretauto sitzt, das vor einer grünen Ampel steht und nicht anspringt, runter, schlaf ein, träum süß, stirb lang.
¹ Amerika-Gedenkbibliothek in Berlin
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freiTEXT | Ann-Christin Kumm
Nachmittags/abends
– Ich habe auch Angst vor dem Dunkeln. Und vor kleinen Tieren.
– Mit vielen Beinen.
– Ja.
– Insekten und Spinnen.
– Genau…
– In der Zelle war eines, ein Käfer. Er ist über meine Haut gelaufen, wie eine Erinnerung, dass da noch Leben war.
– Das tut mir so leid.
– Ich möchte eigentlich kein Mitleid.
– Das muss schrecklich gewesen sein.
– Wir haben uns angefreundet.
– Oh.
– …
– Aber krass, dass man die Frage nach Angst sofort beantworten kann.
– Ja… Manchmal habe ich Angst vor meinen Träumen. So sehr, dass ich nicht schlafen will.
– Das kenne ich gut.
– In meinen Träumen muss ich immer wieder fliehen, muss aufspringen und aus dem Raum rennen, ich habe keine Zeit, etwas mitzunehmen, jemandem Bescheid zu sagen. Es sind immer dieselben Bilder.
– Bei mir auch. Also, andere natürlich. Aber immer wieder dieselben Bilder.
– Was für Bilder?
– Dass mich jemand umbringen will. Ich laufe und hinter mir das Brüllen und ich bin zu langsam, stolpere, renne weiter.
– Ist das eine Erinnerung? Ist es wahr?
– Es ist wahr. Also, ich habe das so erlebt, damals. Und es kommt wieder. In den Nächten kommt es wieder.
– Wenn man weiß, was Todesangst ist.
– Ja!
– Dabei habe ich sonst keine Angst vor dem Tod, im Gegenteil.
– Ich wollte immer leben.
– Immer?
– Immer.
– Hm.
– Ich habe mir immer gesagt: Irgendwann kommst du hier raus. Irgendwann bist du alt genug. Und dann kommst du raus.
– Und jetzt bist du hier.
– Ja.
– Du BIST rausgekommen.
– Ja… Und du auch.
– Ich auch.
– Nach diesen Träumen muss man immer sofort das Fenster öffnen.
– Kaffee machen.
– Sich an die Welt erinnern…
– Sich in die Welt zurückbringen.
– Ja! Es hilft auch, wenn ich nicht alleine bin. Wenn A. bei mir ist. Wenn ich aufwache, und da atmet jemand neben mir.
– Ah. Okay.
– Auch wenn ich nicht weiß, ob A. und ich wirklich zusammen sind.
– Was meinst du, wirklich zusammen?
– So, dass ich weiß, es bleibt so.
– Ich habe mich noch nie von jemandem angezogen gefühlt. Ich dachte erst, es wären Männer, aber das ist es nicht. Es interessiert mich einfach nicht. Sex, Romantik, das alles.
– Das ist doch voll in Ordnung.
– Für dich vielleicht. Aber die Leute stellen Fragen, dauernd.
– Das stimmt…
– Meine Eltern haben mir jeden Tag gesagt, wann ist es so weit. Wann willst du anfangen. Sollen wir dir eine aussuchen.
– Im Ernst?
– Glaubst du mir nicht?
– Ich glaube dir.
– Ich habe dann den Kontakt zu meiner Familie abgebrochen.
– Ah.
– Es ging nicht mehr. Sie sagten, sie würden in Schwierigkeiten kommen, wenn ich mich melde. Und ich wollte ihr Gelaber nicht hören.
– Und jetzt?
– Nichts. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist.
– Denkst du, sie sind tot?
– Manchmal. Manchmal finde ich das eine angenehme Vorstellung.
– Ich glaube, das verstehe ich. Ich wünschte, ich könnte einfach wegziehen, ganz weit weg. Und mich nie wieder melden.
– Allein? Oder würdest du A. mitnehmen?
– Ich weiß es nicht. Das klingt schrecklich…
– Ich wüsste auch nicht, wen ich mitnehmen, wem ich meine Nummer geben würde.
– Würdest du sie mir geben? Entschuldige.
– Schon okay. Eigentlich will ich gar nicht. Ich bin genug ausgewandert für ein ganzes Leben.
– Willst du hierbleiben? Also, ich meine. Für immer.
– Jedenfalls will ich gerade nicht woanders hin. Klar gibt es hier viele Probleme, aber die gibt es überall.
– Ja…
– …
– Ich schon. Ich will weg.
– Weit weg?
– Ja. Dahin, wo niemand mich kennt. Wirklich niemand.
– Ja.
– Vielleicht würde ich A. mitnehmen.
– Ja.
– Ich weiß nur nicht, wohin.
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freiTEXT | Julo Drescowitz
Das, was uns am Leben hält
Meine Freundin liegt regungslos im Bett, die schwarze Schlafmaske wie die Augen eines Insekts. Ich öffne die Box mit den Blutzuckermessstreifen. Die Sonne strahlt durchs Fenster. Glänzender Schweiß in meinen Handflächen, die Linien darin wie eine Maserung. Der Kühlschrank brummt. Draußen das Rauschen des Wassers. Ich steche den Stift in die Spitze meines Ringfingers. Blut quillt dunkel wie Kirschsaft heraus. Die Strömung. Geschwindigkeit und Kraft. Der Geruch von Algen klettert durchs Fenster. Auf der Digitalanzeige des Blutzuckermessgeräts: 58.
Du fährst mich nach Bad Mergentheim, in deinem alten Mitsubishi. Rostbraune Dellen im silbernen Blech, obwohl du Meisterin im Rückwärtseinparken bist. Es ist ein Krankenhaus nur für Diabetiker, das größte Deutschlands. Auf dem Parkplatz gehen wir zum Ticketautomat. Ein Vogel scheißt dir auf den Kopf. Ich versuche, mit dem Wasser aus meiner Flasche den Dreck aus deinen Haaren zu waschen.
„Es ist gleich elf.“
„Ja.“
Am Ticketautomaten verabschieden wir uns.
„Ich liebe dich.“
Wir küssen uns.
„Ich liebe dich auch.“
Du steckst dir die Haare hoch.
Ich gehe mit meinem großen Wanderrucksack auf dem Rücken zum Krankenhauseingang.
Die Schiebetüren öffnen sich.
Ich wache im Krankenhausbett auf.
Mir ist kotzübel.
Eine Infusion steckt in meiner Armbeuge.
„Blutzucker 38!“, sagt die Schwester. Epileptischer Anfall im Foyer. Zunge verschluckt.
„Wenn Ihnen das zuhause passiert, wachen Sie nicht mehr auf.“
„Ich weiß.“
Abends verlasse ich mein Krankenhauszimmer. Im Erdgeschoss ziehe ich mir aus dem Snackautomaten Kaffee schwarz. Zwei dünne Papierhenkel am Pappbecher. Ich drücke sie zusammen. Ein Mädchen sitzt im Rollstuhl und weint. Es ist schwer einzuschätzen, wie alt sie ist. Sechzehn. Zwanzig. Sie trägt bunte Leggins und Birkenstock. Sie ist äußerst dünn. Blonde, kurze Haare. Ich sehe das Kindliche an ihrem Gesicht; an ihrem Blick. An ihrem Weinen. Es ist ein stilles, erschöpftes Weinen. Die Hand hält sie abschirmend vor die Augen. Ihr nackter Fuß ist blau und geschwollen. „Es tut so weh“, sagt sie zur Frau hinter der Rezeption.
Später erfahre ich durch Zufall, dass ihr Fuß amputiert werden wird.
In einem Kurs über Ernährung sehe ich sie wieder. Wir sitzen alle auf Klappstühlen. Der Ernährungsberater steht vorne an einem Pult. Er erklärt, wie man mit einem Löffel die Kohlenhydrate von Reis schätzen kann. Das Mädchen sitzt außen in ihrem Rollstuhl und weint noch bitterlicher als am Vorabend. Wieder die Hand vor den Augen. Das Sterben ist bereits in sie eingezogen. Sie sitzt so eingesunken im Rollstuhl, dass ich einen Moment Sorge habe, sie falle heraus. Katzenbuckel. Diese Art des Weinens; sie wirkt so verloren wie ein Kind, aber gleichzeitig ist da etwas sehr Altes, Reifes.
Der Kaffee tröpfelt in die Glaskanne. Gegenüber Fachwerkfassaden mit weißem Stuck, angestrahlt von gleißendem Sonnenlicht. Daneben dreckig und beige das Studentenwohnheim. Zwei Dutzend Leute in Sakkos und Hemden. Abendkleider. Amerikanischer Sprech. Ein Sektkorken knallt. Lachen und Klatschen. Auf unserer Seite des Flusses sitzt auf dem Steg unser Nachbar in Badehose. Sonnenbrille. Kastanienbraune Haare stehen ihm vom Kopf ab. In der Hand hält er eine Tasse, zwischen den Fingern eine Selbstgedrehte. Die Beine überschlagen.
Er sieht mich an. „Amis!“
Er nickt über den Fluss und grinst.
Ich kneife das Bauchfett zusammen und drücke die Nadel in die Haut. Das Rauschen des Flusses. Fünfzig Meter weiter mündet er in eine Wasserkraftanlage. ACHTUNG! LEBENSGEFAHR! Meine Freundin liegt im Wohnzimmer und liest einen Roman von Jospeh Roth. Ich schiebe mir Dextro-Energy-Tafeln in den Mund.
Im Treppenhaus liegt der Nachbar.
Auf dem Boden.
Schaut aufs Handy.
Hinter den Fahrrädern.
Er spuckt.
„Alles jut?“, frage ich.
Er winkt ab und grinst.
An seiner Wange ist eine Schürfwunde.
Seine Jeans sind dreckig am Knie.
Er stützt sich an der Wand ab und kommt auf die Beine.
„Ganz schön getankt, was?“
Er schließt die Augen, streift sich über das Gesicht.
Seine Hände sind tätowiert.
„Was muss, das muss.“
Da ist etwas von Schalk in seinen Augen.
„Was muss, das muss“, sagt er noch einmal.
Er humpelt zur Wohnungstür. Der Schlüssel fällt auf den Boden.
Er blickt mich an und lacht.
Frech wie ein Junge, der einen Streich spielt.
Er hebt den Schlüssel auf.
Im Flur ein Mountainbike mit fluoreszierendem Rahmen. Holzdielen.
Er humpelt ins Bad.
Der Vermieter hat die gleiche Küchenzeile verbaut wie bei uns.
Ich öffne erst die Oberschränke, dann die Unterschränke.
Kaffee von Dallmayr.
Ich setze den Filter ein. Die Klospülung geht.
Er streckt sich die Arme über dem Kopf. Sein Blick wandert von meinem linken ins rechte Auge. Dann legt er seine Hände auf meine Wangen. Sie sind weich wie Frauenhände.
Er küsst mich auf den Mund. Auch seine Lippen sind weich.
Er nimmt seine Hände von meinen Wangen. Streicht sich durchs Haar. All das Wasser, das zur Schleuse strömt. Es war vor uns auf Erden. Und wird hier sein am Ende aller Tage. Die Kaffeemaschine gurgelt. Er legt den Kopf in den Nacken. Schließt die Augen.
Ein spitzbübisches Grinsen.
„Manchmal muss ich wissen, dass die ganze Welt brennen könnte“, sagt er.
Er öffnet die Augen, blickt mich an und grinst. „Verstehst du das?“
Es ist die Regnitz, die vor unserem Haus fließt.
Blut in meinen Venen.
Der Zucker darin.
Das künstliche Insulin.
Regungslos liegt meine Freundin im Bett, auf ihrem Nachttisch eine Packung Quetiapin.
Ich gehe in die Knie.
Das Rauschen des Flusses.
All das Wasser fließt ins Meer.
Und nichts davon geht verloren.
Strecke Arme und Beine von mir.
Schließe die Augen.
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freiTEXT | Florian Mittl
Babyblues
Überglücklich war deine Mutter, als sie mir erzählt hat, dass sie schwanger ist. Am Balkon sind wir gesessen, im Herbst, schön war es draußen. Deine Mutter war auch schön, und ich habe sie in den Arm genommen und geküsst und habe ihr zärtlich über den Bauch gestreichelt. Und ich habe überspielt, dass sich mein Bauch zusammengezogen hat. Nichts gegen dich, aber Vatersein war nie ein großer Wunsch von mir. Und wir haben ja nie wirklich gesprochen über das Kinderkriegen. Und dann ist es eben passiert.
Komisch, dass sich das dann so extrem verändert hat. Nämlich bei deiner Mutter. Die Schwangerschaft war okay, keine große Übelkeit, keine Komplikationen. Und da der Bauch im Winter gewachsen ist, war es auch von den Temperaturen her angenehm. Der Geburtsvorbereitungskurs war auch gut. Sogar lustig. Und es hat uns gefreut, dass wir dort Hans und Petra kennengelernt haben.
Dann bist du auf die Welt gekommen, fast zehn Wochen zu früh. Nicht einmal halten konnte ich dich am Anfang. In voller Schutzmontur bin ich neben dir gestanden und habe dich angeschaut, wie du in diesem Glaskasten lagst. Inkubator heißt das Ding. Kommt vom Lateinischen incubare, und das heißt brüten. Auch nicht der beste Name. Da bin ich also gestanden und habe dir beim Brüten zugeschaut.
Währenddessen war deine Mutter mit sich selbst beschäftigt. Postpartale Depression. Auch bekannt als Wochenbettdepression oder Babyblues. Fünfzehn Prozent der Mütter sind davon betroffen. Da rinnen Tränen, Muttermilch und Wochenfluss. Und zwar ständig. „Hat mit der Hormonumstellung zu tun“, haben sie uns gesagt. Und rundherum gratulieren dir alle. Haben ja keine Ahnung. Auch Hans und Petra nicht. Zu denen war ich dann einmal ziemlich ungehalten. Seither Funkstille.
Nach zwei Wochen Sonderurlaub bin ich heute zum ersten Mal wieder im Heim gewesen. Noch müder als sonst, noch desillusionierter. Meine Kollegen haben mir auf die Schulter geklopft, dann haben wir das Wesentliche der Dienstübergabe besprochen.
Danach habe ich meine Runde gemacht, das übliche Warm-Satt-Sauber. Den Herrn Schober habe ich geduscht, der hat sich gefreut. Genüsslich gebrummt hat er, als ich ihn abgetrocknet habe. Aber dann ist schon Katharina hereingestürmt und hat mich aufgefordert, mich zu beeilen. Die Essensausgabe stehe an. Nach dem Essen die Leute zurück in die Zimmer bringen, danach ein bisschen Papierkram. Dann hat Katharina gesagt, dass ich Frau Koracek reinigen soll. Komplett voll war die, von oben bis unten. Durchfall der allerersten Sahne, genau während dem Wechsel der Windel. Als ob ihr Darm genau diesen Moment abgepasst hätte. Eh klar, dass die Oberschwester da mich ruft. Immerhin hat sie mir assistiert und dabei geholfen, Frau Koracek in die Dusche zu bringen. Was für eine Sauerei. Die Laken habe ich volley weggeschmissen.
Frau Koracek ist in einem ähnlichen Zustand wie du, habe ich mir gedacht, als ich sie nach dem Duschen frisch gewickelt habe. Im Alter wird man eben wieder jung. Nur, dass dein Stuhl besser riecht. Also noch nach gar nichts. Katharina hat inzwischen das Bett neu überzogen und gemeinsam haben wir sie hingelegt. Frau Koracek hat immer wieder etwas Unverständliches gemurmelt und mich dabei direkt angeschaut. Ich habe sie ignoriert, aber Katharina hat gemeint, dass sie „Foto“ sagt. Ich dachte zuerst, dass sie ein Foto von ihrer Familie sucht, aber die standen alle gerahmt am Nachtkastl oder lachten von den Wänden. Dann ist mir gekommen, dass sie vielleicht ein Foto von dir sehen wollte. Frau Koracek habe ich in den letzten Wochen alles erzählt, jeden Tag ein bisschen. Von dir, deiner Mutter, dem Krankenhaus, dem Brüten, Hans und Petra, alles. Irgendwem musste ich es erzählen und bei Frau Koracek weiß man, dass das Gesagte unter uns bleibt.
Ich habe also auf meinem Handy geschaut und gesehen, dass ich nur zwei Fotos von dir habe. Eines ist unscharf. Das zweite zeigt mich mehr als dich. Ich stehe neben dem Inkubator und strecke beide Hände durch die Öffnungen zu dir. In voller Schutzmontur, weil du so empfindlich warst. Von dir sieht man nur einen undefinierten rosa Fleck, einen Teil deines Gesichts zwischen Decke und Kopfpolster. Mich sieht man aufgrund der Atemmaske auch nur zum Teil, aber der gequälte und hilflose Blick fällt trotzdem auf. Ich habe das Foto zuerst Katharina gezeigt, die ratlos die Schultern gehoben hat, dann Frau Koracek. Die hat die Zunge rausgestreckt und schnell hin- und herbewegt. Ganz aufgeregt war sie, als sie dich gesehen hat.
***
Nach drei Tagen durchgehend Dienst heute wieder bei dir im Krankenhaus. Deine Mutter lässt dich grüßen, sie schafft es heute nicht.
Ich darf noch nicht rein zu dir und im Wartebereich läuft ein Fernseher. Fußball. Stimmt, Sturm Graz spielt heute um den Titel. Na dann. 0:0 steht es, in der 66. Minute. Und anscheinend gewinnt Salzburg gerade haushoch im Parallelspiel. Also eher nix mit Titel. Nicht, dass mich das sonderlich interessieren würde.
Und dann passiert es doch: 69. Minute, 1:0 Sturm. Alle freuen sich. Toben. Die Fahnen schwingen. Unerwarteterweise freue ich mich auch. Und fühle mich als Teil von etwas Größerem. Kitschig, oder?
Aber der Kitsch gehört auch dazu, denke ich mir, nehme mein Handy heraus und gehe auf die Webseite des Fanshops von Sturm Graz. Schnell finde ich die Babysachen und bestelle einen Body in Schwarz-Weiß. Süß sieht der aus. In ein paar Wochen wirst du hineingewachsen sein. Willkommen im Leben.
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