freiTEXT | Lilith Tiefenbacher

Bahnhöfe

Bahnhöfe, sagt man, seien Sackgassen, die so tun, als seien sie Plattformen. Am Bahnhof von Utrecht ziehe ich eine Nummer, im Schatten eines schrill leuchtenden Automaten, der beziehungslos meine Zukunft ausspuckt. Kann mich leider kaum dazu bewegen, den Zettel zu lesen. Also klaube ich Münzen aus einer Tasche, klaue den erstbesten Strauß im Geschäft nebenan, durch die Blume sprechen, sagt man. Ich persönlich mache alles Mögliche durch die Blume. Rauchen über den Dornen der Strauchrose, schlummern im Bett der Hortensie, grübeln in der Einöde der Orchidee, exzessiv, destruktiv, warum fällt über Anthurien nie ein Schnee, mein Kopf wird heiß, ich verstehe. Aber ich spreche nicht.

Vor einem Kiosk öffne ich eine Banane. Rechts und links von historischen Rissen suche ich heimlich klein wenig Gegenwart, folge den Abdrücken andrer Passanten, zerzauste, übriggebliebene, mit dem falschen Namen getaufte, die warten. Vor dem Abschied eine Erinnerung tanken, oder so ähnlich. Ich zerreise Brot. Trage es über der Schulter in Tüten, achso, ich bin übrigens wütend, allein zwischen Typen, zweifellos Tiere aller Art.

Meine Zeitgenossen konkurrieren mit Modernisten, Faschisten, Tauben, das auch. Der Zoo ist eine uralte Futurologie. Ob morgen Trost, ob Lüge trügt? Mangels freundlicher Alternativen vertraust du der Landschaft in meinem Kopf heut noch dein Knopfloch an. Vertieft in einen Haufen Schwere-Schein-Papier verträgt der Passagier fast jede Last, verspürt kein Spüren. Aber das Blicke-Versenken kannst du dir schenken, unter den Rädern trennt sich eins vom anderen von allein, wishing you a journey. Ich hasse Hast, halte sie fest an ihrer Tasche, taste, taste. Eine Stimme im Lautsprecher verklärt die verschiedenen Klassen, sind Sie noch etikettiert oder schon aussortiert? Ich bin auf der Suche.

Doch vor meinem Fenster finde ich nur einen Stein, Punkt, Punkt, Komma, Strich, misstrauen Sie dem Gesicht! Das schwebt und fällt da wie ein sinkendes Schiff, mittellos im Hafen. In meiner Hand verrutscht ein Stück Papier, die Zukunft, lese ich, hat einen urigen Hunger. Ich zieh die Gardinen vor. Doch als es losgeht, stopf ich ihr Maul nolens volens mit Fragen, fürchte, in der erstbesten Kurve habe ich den Salat. Und während Planeten, Raketen, Sonne und Regen vorüberziehen, kletterst du rückwärts durchs Loch, ohne den Kopf einzuziehen. Die Hand ausgestreckt, zwinkernd. Dieses Land, faucht durch das Brüllen der Lokomotiven die Blume in deiner linken, ist zu verlassen, goodbye, saw you soon, oder so ähnlich.

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Lilith Tiefenbacher

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freiTEXT | Anna-Pia Jordan-Bertinelli

Ganz Normal

Ich habe eine Kugel im Kopf. Wie genau sie dorthin gekommen ist, weiß ich nicht mehr, es war diese komische Zeit, in der Kinder auf offener Straße erstochen wurden und auch Schießereien keine Seltenheit waren.

Was ich noch weiß ist, dass ich spazieren gegangen bin und mich plötzlich etwas am Hinterkopf getroffen hat. Ich dachte noch, wer bewirft mich hier mit einem Schuh?! Dann lag ich plötzlich auf dem Boden und jemand meinte: „Sie bluten da aber ganz schön”. Ich muss ohnmächtig geworden sein und jemand muss den Krankenwagen gerufen haben. Als ich wieder aufwachte, beugte sich ein Arzt über mich und meinte „Herr M., schön, dass Sie wieder bei uns sind. Sie haben eine Kugel im Kopf, aber das ist kein Grund zur Panik. Zumindest nicht in Ihrem Fall. Keine Sorge, Sie sind nicht im Himmel, ich bin nicht Gott und auch keine Jungfrau oder so.”

Er zwinkerte. Ich glotzte.

„Jedenfalls, Spaß beiseite”, fuhr er fort, „die Kugel steckt genau zwischen ihren beiden Hirnhälften fest. Wir werden sie vorerst nicht entfernen können, das ist zu gefährlich und könnte Sie unter Umständen wirklich zu Gemüse machen. In ein paar Jahrzehnten ist die Laserchirurgie sicherlich soweit. Aber bis dahin sind Sie nicht der erste und auch nicht der Letzte, der mit einer Kugel im Hirn rumläuft, also Kopf hoch! Können Sie sprechen?” Ich nickte, der Arzt lachte. „Sehr gut, dann schaue ich später noch einmal nach Ihnen.”

Natürlich wurde über den Vorfall berichtet. Ich selbst bekam nicht so viel davon mit, aber meine Nichten und Neffen zeigten mir, was im Internet über die ganze Sache geschrieben wurde und meinten „Onkel, jetzt bist du voll berühmt.” Es gab einen längeren Bericht auf der Titelseite der Lokalzeitung, den meine Frau in eine Klarsichthülle steckte. Dann kam der nächste Vorfall und zack gab es neue Schlagzeilen.

Vor der Entlassung hatte ich ein Gespräch mit der Krankenhauspsychologin. Sie fragte mich, ob ich wütend oder traurig sei, ob ich das Bedürfnis hätte, mir oder anderen wehzutun, oder ob ich mich emotional irgendwie taub fühlen würde. Ich sagte zu allem Nein. Es ging mir eigentlich ganz gut, ich freute mich auf zu Hause, auf meine Frau und meinen Kiosk.

Die Psychologin war noch recht jung. „In Ordnung, Herr M.”, sagte sie, „schön, dass es Ihnen soweit gut geht. Meistens dauert es Monate und manchmal sogar Jahrzehnte, bis man eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt. Falls Sie eine solche Störung entwickeln sollten, merken Sie das zum Beispiel daran, dass Sie schlecht schlafen, Flashbacks haben, also plötzliche Erinnerungen an die traumatische Situation, und insgesamt sehr erschöpft sind. Sollten diese oder andere Symptome bei Ihnen auftreten, melden Sie sich bei uns.“

Der Kiosk lief zunächst ganz gut. Meine Stammkunden schmissen eine Willkommen-zurück-Party, bei der ich ein bisschen Pipi in den Augen hatte. Alle wollten Fotos von der Schusswunde machen. Auch die Lokalpresse kam vorbei. Natürlich wollten sie wissen, wie es war, angeschossen zu werden, und ob ich eine Idee hatte, wer die Täter gewesen sein könnten. Die Ermittlungen der Polizei waren erfolglos geblieben. Eigentlich hätte ich sie am liebsten rausgeschmissen, aber ich wusste, dass ich durch die Berichterstattung ein paar Kunden mehr bekommen würde. Ich sagte also: „Ich habe keine Ahnung, wer die Täter sind, aber ich würde es ganz gerne wissen. Nicht um mich zu rächen. Aber um mir den ganzen Papierkram zu sparen, den ich jetzt wegen dem Schmerzensgeld am Hals habe. Ist ganz schön Kacke, wenn einem durch sowas der Umsatz von mehreren Monaten flöten geht.”

Ich wusste es tatsächlich nicht. Mein Kiosk lag in der Feiermeile. Im Laufe der Zeit hatten nach und nach alle Mafias, Banden, Clans und Sekten angeklopft und mir Waffen, Drogen, Kinderpornos und natürlich ‚Schutz‘ angeboten. Ich habe jedes Mal dankend abgelehnt, wie es mir ein befreundeter Tätowierer geraten hatte: Sei freundlich, halt dich raus, verkaufe nichts unter der Theke und sie lassen dich in Ruhe. Hatte bisher erstaunlich gut funktioniert. Aber vielleicht war ich aus Versehen jemandem auf den Schlips getreten, oder sie wollten meinen Laden haben und hatten keine Lust, ihn zu kaufen. Vielleicht war es auch ein reiner Zufall gewesen, irgendein Psychopath, der einfach Lust hatte, ein bisschen durch die Gegend zu ballern.

Meine Frau ist die ersten Monate, in denen ich wieder arbeiten gegangen bin, vor Sorge fast durchgedreht. Deshalb habe ich mir einen Dobermann besorgt. Ansonsten ist nicht viel passiert. Die Nachkontrollen im Krankenhaus sind abgeschlossen, die Ärzte haben mir alles Gute gewünscht, und „melden Sie sich, wenn etwas ist.”

Es ist nur eine Sache: Ich habe schon den Eindruck, dass die Menschen weniger rausgehen oder zumindest seltener in meinen Kiosk kommen. Manchmal unterhalte ich mich mit dem Besitzer der Kneipe von gegenüber. Er meint, ihm sei nichts aufgefallen, aber vielleicht müsse ich mal was tun, neues Sortiment oder einfach mal den Laden umräumen, neuen Schwung reinbringen, ich wisse schon. Ich nicke und weiß, dass er einer von denen ist, die ihren Laden eh nur für Geldwäsche nutzen. Von daher kann es ihm egal sein, wie viel Kundschaft kommt. Trotzdem habe ich versucht, mein Schaufenster umzudekorieren. Das heißt, ich habe darüber nachgedacht, aber wirklich weit bin ich nicht gekommen. Ich konnte mich einfach nicht dazu aufraffen, auch nur eine der Bierkisten, die seit Ewigkeiten dort stehen, wegzuräumen. Schließlich habe ich meine Frau um Hilfe gebeten. Sie hat die Kästen aus dem Schaufenster geräumt und sie dann mitten im Laden stehengelassen, weil sie ihr zu schwer waren. Jetzt stehen sie jedem im Weg, der in den Kiosk will. Trotzdem schaffe ich es nicht, sie wegzuräumen. Es macht eigentlich auch nichts, es kommt eh kaum noch jemand in den Laden, und wenn, dann sind es Obdachlose, die ich sofort wieder rausschmeiße.

Vielleicht ist das jetzt die posttraumatische Belastungsstörung? Der Vorfall ist immerhin schon ein paar Monate her. Ich kontaktiere das Krankenhaus. Die alte Psychologin arbeitet nicht mehr dort, die Neue ist nochmal ein ganzes Stück jünger. Ich erzähle ihr von allem und von der Sache mit den Kisten. Sie arbeitet mit mir eine Checkliste ab.

„Haben Sie Schlafstörungen?” Nein.

„Sind Sie in letzter Zeit besonders schreckhaft?” Nein.

„Haben Sie neuerdings Wutanfälle, die Sie früher nicht hatten?” Nein. „Konzentrationsschwierigkeiten?” Nein. Ich verbringe mittlerweile Stunden damit, Kreuzworträtsel und Sudoku zu lösen, während ich auf Kundschaft warte.

„Haben Sie manchmal Erinnerungen an den Vorfall, die Ihnen ganz plötzlich in den Kopf kommen?” Nein. Ich kann mich mittlerweile kaum noch daran erinnern.

„Und sonst ist auch nichts Auffälliges passiert?”  Nein. Nur eben das mit den Kisten. Und dass die Kundschaft ausbleibt und ich das Gefühl habe, kaum mehr Menschen auf der Straße zu sehen, wenn ich mit dem Hund Gassi gehe.

„Wann gehen Sie denn mit Ihrem Hund spazieren?” Meistens morgens früh und abends spät, wenn ich den Kiosk zumache. Selbst am Wochenende ist da nicht mehr viel los. Das war früher ganz anders.

„Vielleicht müssen Sie einfach mal mittags rausgehen, da sind bestimmt mehr Leute auf den Straßen. Oder gehen Sie in ein anderes Viertel, ein bisschen weg aus der Innenstadt. Das tut bestimmt gut, eine neue Perspektive. Vielleicht können Sie ja am Wochenende auch mal wegfahren, mit Ihrer Frau – wie ist eigentlich die Beziehung zu Ihrer Frau? Was sagt die zu den Kisten?” Dass sie ihr zu schwer sind und ich sie selber wegräumen soll.

„Nein, das meine ich nicht. Was sagt sie zu ihrer gesamten Situation im Moment, dass Sie die Kisten nicht wegräumen können, und dass die Kundschaft ausbleibt?”

Nicht so viel. Wir reden nicht so viel.

„War das schon immer so oder reden Sie erst seit Neustem nicht mehr so viel miteinander?”

Das war schon immer so.

Die Psychologin legt die Blätter beiseite und sieht mich an: „Also, Herr M., so wie ich das sehe, haben Sie eine leichte oder vielleicht auch mittelgradige depressive Episode. Keine posttraumatische Belastungsstörung, dafür erfüllen Sie nicht die zutreffenden Kriterien. Ich empfehle Ihnen erstmal, mehr rauszugehen, vielleicht wirklich mal übers Wochenende wegzufahren. Und reden Sie mit ihrer Frau. Darüber, wie es Ihnen geht. Dass Sie es vermissen, unter Menschen zu sein. Und vielleicht können Sie die Kisten ja einfach zu zweit wegräumen. Dann sind sie auch nicht so schwer.”

Ich sage Okay und wir vereinbaren den nächsten Termin.

Als ich das nächste Mal ins Krankenhaus komme, ist kaum jemand auf den Gängen unterwegs. Ich setze mich vor die Tür der Psychologin und warte. Als sie mich eine Viertelstunde nach der vereinbarten Zeit immer noch nicht hereingebeten hat, klopfe ich an. Es kommt keine Antwort, ich drücke vorsichtig die Klinke herunter. Der Raum ist abgeschlossen. Ich gehe zur Information und frage die Schwester dort, was hier eigentlich los ist, wo die ganzen Leute sind und warum meine Psychologin nicht da ist. „Wir haben den Betrieb auf dieser Station zurzeit etwas runtergefahren“, sagt sie. „Ist doch auch mal ganz angenehm, finden Sie nicht? Wie heißt denn ihre Therapeutin? Sind Sie sicher, dass der Termin heute war?“.

Ich sage Ja und gebe ihr den Namen der Psychologin. Sie runzelt die Stirn. „Komisch, also, den Namen habe ich noch nie gehört. Sind Sie sicher, dass Sie auf der richtigen Station sind?“ Ja. Sie tippt in ihrem Computer herum, schaut mich dann an. „Also, leider kann ich Ihre Therapeutin hier nicht finden. Kann sein, dass sie kurzfristig gekündigt hat, das kriegt man hier manchmal gar nicht mit. Am besten melden Sie sich mal unter dieser Nummer bei unserer zentralen Terminvergabestelle, da müssten Sie dann eine neue Therapeutin zugeteilt bekommen.“ Sie schiebt mir ein Kärtchen hin, die Nummer ist mit Kuli umkringelt.

Die Bahn ist menschenleer, obwohl es gerade erst vier Uhr nachmittags ist, also eigentlich Feierabendverkehr. Auf den Straßen sind kaum Autos zu sehen. Eigentlich will ich zurück in den Kiosk, aber dann fahre ich doch nachhause. Vielleicht sollte ich wirklich mal mit meiner Frau reden, denke ich, ob sie in letzter Zeit auch so wenige Menschen sieht wie ich.

Die Wohnung ist leer. Ich rufe meine Frau an und sehe sofort, dass sie ihr Handy auf dem Küchentisch liegengelassen hat. Ich warte zwei Stunden, mache Kreuzworträtsel. Dann rufe ich ihre Freundinnen, ihre Schwestern, ihre Cousinen, am Ende sogar ihre Eltern an. Niemand geht dran. Ich hole den Hund aus dem Kiosk und laufe eine Runde um den Block. Ich probiere es noch einmal bei allen Verwandten, keiner nimmt ab. Irgendwann nach Mitternacht rufe ich bei der Polizei an. Die Leitung ist tot. Genauso bei Feuerwehr und Krankenwagen. Ich gehe zum Fenster. Als ich hinausschaue, sehe ich, dass der Häuserblock gegenüber nicht mehr da ist.

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Anna Pia Jordan-Bertinelli

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freiTEXT | Martin Peichl

Gespenster zählen

(erste Postkarte)

Das Unheimliche ist die Wiederkehr des Vertrauten in einer neuen Verkleidung. Jedes Laken verwandelt sich, wenn lange genug nicht gewaschen, in ein Gespenst.

Das Erste, wonach meine Augen beim Einchecken ins Hotel suchen, sind die Notausgänge. Mich fasziniert, mit wie viel Optimismus die Fluchtwege beschrieben sind. Mit wie wenigen Adjektiven die Anweisungen auskommen.

Vielleicht gehörst auch du zu den Menschen, die davon träumen, in einem Hotelzimmer zu sterben, beleuchtet vom kühlen Licht der Minibar, bis dich jemand vom Zimmerservice findet. Das weiß überzogene Bett eine Einladung, eine Bühne für noch nicht erfundene Opferrituale.

Ich ziehe den Vorhang zur Seite, kippe das Fenster. Gespenster radieren an der Gegenwart, machen das Papier, aus dem sie gemacht ist, ganz dünn, indem sie Vergangenes wiederholen. Das nennt man Spuken. Ob die Menschen, die nach mir dieses Zimmer belegen, wissen, dass es sich um einen Tatort handelt?

Direkt unter dem Fenster flackert eine Straßenlaterne, Morsezeichen vielleicht. Welcher Code, wie viele Fingerabdrücke entsperren mittlerweile dein Handy, will ich wissen, und bin mir sicher, dass du nicht rangehen wirst, wenn ich deine Nummer wähle. Mein Name auf deinem Display – das Letzte, mit dem du gerechnet hast, heute Nacht.

Also gehe ich duschen, trage Parfum auf, steige in den Lift, verwandle mich in leichte Beute.

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Martin Peichl

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freiTEXT | Ferenc Liebig

abc

am morgen empfängt sie patient a, einen depressiven schriftsteller, der durch eine recherche über viren auf öffentlichen raststätten zum hypochonder geworden ist und nun von angstzuständen geplagt, kaum noch zeit zum arbeiten findet. dabei muss, will er, den großen roman schreiben, eine familie, mehrere generationen, scheitern, krisen, seitensprünge, ein apfelbaum im garten, leichen im keller, er sitzt ihr im sessel gegenüber, schwitzt, schnieft, sucht spucke in seinem trockenen mund, lehnt aber das wasser ab, in dem eine zitronenscheibe schwimmt, blinzelt, kratzt, reibt oberschenkel, blickt unruhig zwischen zimmerpflanze und bild, ein weg zwischen birken, der in einen wald führt, gemalt von einem, der nie in russland war, aber immer nach russland wollte, und sagt, „die medikamente sind wie bukowski nach einer versoffenen nacht auf dem klo, ich brauche andere oder mehr oder beides“, ob sie nicht welche in blau hätte, blau war mal seine lieblingsfarbe, aber dann las er richard ford, seitdem nicht mehr blau, sein blick wandert zur uhr, wieder zu ihr, rutscht ab, er mag ihre rundungen, sie knöpft ihre strickjacke zu, er versteht, das er entlarvt wurde, er spricht von durchfall, von parasiten, er kombiniert seine textfragmente, bis er überzeugt vom parasitärem durchfall ist, da war ein hund, „sie wissen schon, im park, sie notiert, hund im park, was war mit dem hund, na der hund war da, wo, im park“, „und“, „ich war auch im park“, „haben sie sich berührt“, „nein“, der schriftsteller zuckt zusammen, in seinem letzten buch ging es um eine frau, die sich in einen mann verliebt hatte, der dann an krebs gestorben ist, „das muss man sich mal vorstellen“, sagt er, gereizt, „da fängt man an und schon hört es wieder auf, wie soll mal da erst anfangen, wenn man schon weiß, dass es enden wird, ja, enden muss“, sie blickt auf ihr heft, hund im park, mehr steht da nicht, sie könnte aufschreiben, dass er angst vor bindungen hat, aber hat er wirklich angst vor bindungen, „ich bin eher wie arno geiger“, sagt er und sagt, „er wäre momentan lieber nicolas mathieu, aber generell sieht er sich als arno geiger“, er hätte gestern ein ziehen in der brust gespürt, in herznähe, danach ein stechen unter dem bauchnabel, „da sind doch nur därme, oder“, sie hebt die schultern, um sie fallen zu lassen, „und heute morgen, da ist etwas ganz besonderes passiert, eine taube saß auf meinem fensterbrett und ich dachte, das ist ein guter einstieg, jemand wacht auf, sieht eine taube, taube fliegt weg und er beginnt von seinem vater zu erzählen, väter sind wie tauben, mütter wie möwen, und dann ist die taube wirklich weggeflogen und ich fand die idee bescheuert, als hätte die idee nicht einmal vorher gut sein können und auf einmal, herzrasen, atemnot, schwitzige hände, magengrummeln, taube füße, kopfschmerzen, ohrenglühen, durst, blähungen, juckende augen, gliederschmerzen, gedanken an raymond carver, knochen, kot, der körper als verdauungsapparatur, sie wissen schon“, man nickt sich nun zu, der schriftsteller, weil er glaubt, die richtigen worte gefunden zu haben, sie, weil sie glaubt, er bräuchte diese zuversicht.

patient b kommt eine viertelstunde, nachdem patient a den raum verlassen hat, sie lüftet und schaut aus dem fenster, unten steht ein umzugswagen, man räumt aus, kartons, ein halbes sofa, das in luftpolsterfolie verpackt auf eine sackkarre gehievt wird, patient b trägt einen alten pullover und abgenutzte hosen, er sieht wie ein student aus, ist aber kein student mehr, er ist wie ein text von patient a, eine dieser schwurbligen zeilen, ihr fällt sogar eine ein, das dach da drüben ist nass, obwohl die sonne scheint, patient b sagt, er hätte was mit einer frau, die verheiratet ist, und der mann der verheirateten frau hat auch etwas mit einer frau, die nicht seine frau ist und das problem ist, das alle irgendwie parallel mit jemanden zusammen sind, der die frau eines anderen ist oder halt der mann einer anderen, „verstehen sie“, „natürlich“, „und wie soll ich da, das macht doch gar keinen sinn, wenn man am ende“, „was sind sie am ende“, „na“, „was na“, „ich weiß nicht, dann bin ich nur jemand, der eine frau hat, die mit einem anderen schläft und ich selbst schlafe mit einer frau, die auch noch mit einem anderen mann schläft und irgendwie will ich nicht, das alle durcheinander schlafen, ich will“, „was wollen sie“, sie schaut vom block aus, sein ständiges zögern in den sätzen nervt sie, seine schultern hängen, die haut glänzt, er erinnert sie an den sohn einer nachbarin, söhne von nachbarinnen können schrecklich verliebt sein, denkt sie und stellt sich den sohn, wie er bei ihr ein paket abholt und sie nur im bademantel, was für ein klischee, sie muss schmunzeln, patient b missfällt das, „warum grinsen sie“, „ach nichts“, „wie nichts, man ist doch immer“, „was“, „na nur einer von vielen“, „vielleicht muss man einer von vielen sein“, daran hätte er auch schon gedacht und ob er sich einen neuen fernseher holen soll, weil sein alter so eine schlechte auflösung hat, ob sie das nachvollziehen kann, wie man austauscht, wenn es nicht mehr reicht, vielleicht müsste der sohn etwas reparieren, die glühbirne ist kaputt, der wasserhahn tropft, eine schraube sitzt locker, und dann zieht er sein t-shirt aus, sie hofft, dass er sich die achseln rasiert, männer sollten sich die achseln rasieren, und ihre eier auch, eier, was für ein komisches wort, hoden ist aber auch nicht besser, sie schreibt in ihr heft, hoden vs. eier, patient b ist noch immer bei den fernsehern, „da ist etwas besser, ja, größer, neues format, 3-d, was weiß ich, interne festplatte, internet, und dann wird der alte einfach entsorgt“, er will nicht der fernseher sein, „kennen sie ferenc liebig“, „nie gehört, was ist mit dem“, „der hat ein buch geschrieben, über eine frau, die krebs bekommt, ach falsch, die sich verliebt, der mann kriegt krebs, irgendwie so, was ist wenn das bild ausfällt, die lautsprecher nicht mehr funktionieren, was machen sie dann, sie sollten vielleicht mal das buch lesen, es gibt schlimmeres, als ein fernseher zu sein und letztendlich, wer sagt eigentlich, ob das gut ist, wenn wir nur mit einem zusammen sind, der uns möglichweise gar nicht ausfüllt“.

sie legt das heft beiseite, in ihrer pause müsste sie protokollieren, zusammenfassen, bezüge herstellen, hund im park, hoden vs. eier, sie starrt auf den bildschirm, schreibt etwas, löscht es wieder, der nächste patient klingelt, sie öffnet die tür, eine distanzierte begrüßung, schon steht sie im flur, hantiert an ihren verknoteten schnürsenkeln herum, „sie können schon platznehmen“, sagt sie und starrt wieder auf den bildschirm, der nachbarsjunge, drahtig, dunkelhaarig, sie hat ihn noch nie mit einem mädchen gesehen, nur mit seinen halbstarken kumpels und motorrollern, rauchend, in jogginghosen, weiten shirts, basecaps richtend, „ich komme dann gleich nach“, patient c ist schon im zimmer, sie schaut zu den schuhen, der knoten ist noch drin, na komm, sagt sie zu sich, steht auf, läuft über den weichen teppich, ihre füße versinken leicht, sie greift nach dem block und setzt sich, im gegensatz zu patient c blickt sie auf einen sonnenuntergang, die farben verteilen sich auf dem wasser, schimmern, rot, gelb, lila, orange, gold, ein gräuliches blau, zehn, höchstens fünfzehn minuten und die sonne wäre verschwunden, sie mag dieses bild, die grobe struktur, die kräftigen farben, die melancholie, die vielleicht nur sie wahrnimmt, „wie war ihr tag bisher“, fragt sie, „wie die anderen tagen, wie alle tage seit dem tod“, patient c klemmt die nase zwischen daumen und zeigefinger, schnieft, wackelt mit dem handrücken am linken nasenloch und schlägt dann die beine übereinander, viel bewegung in diesem kantigen körper, „ich wünschte einfach, er wäre da, aber er ist nicht da, ich kann nichts mit ihm teilen, das ist frustierend, wenn die einsamkeit sich so äußert, dass man wütend wird“, und in dieser hilflosigkeit wird man zu einem haus ohne dach und die ganze zeit regnet es hinein und die feuchtigkeit frisst sich in die wände, mit einem kopfschütteln sagt sie, sie würde jetzt mit einem mann schlafen, der picasso für ein restaurant hält, „nicht wirklich, oder“, „doch, ich sagte, lass uns doch zu picasso gehen und er fragte, ob das der neue italiener ist und ich antwortete, nein, wenn dann schon spanier und er meinte, das ist doch kein spanier, er habe pizza auf der karte gesehen und dann sagte ich ihm, nicht mi casa, picasso und er sagte, er würde nicht verstehen und ich habe trotzdem oder vielleicht deswegen“, an dieser stelle unterbricht sie, verlangt ein taschentuch und reibt an den nasenlöchern wie vorher mit dem handrücken, sie wisse nicht, wohin das führt, diese selbstaufgabe, aber sie könne sich nicht wehren, immer wieder fragt sie, wieso das ihnen passieren musste, andere dürfen doch auch glücklich alt werden, mehr wollte sie nicht, nur glücklich alt werden, und nun bliebe ihr das verwehrt, wie so vieles andere auch, sie notiert, manches kann man nicht überwinden, selbst dann nicht, wenn man die möglichkeiten dazu hat, sie ist der letzte patient für heute, noch zwanzig minuten, wer weiß, irgendwann betrachtet sie vielleicht die birken.

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Ferenc Liebig

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freiTEXT | Daniel Vitecek

Polemiken gegen Tiere

Vorrede

Was wir den Tieren vorwerfen ist, dass sie uns gegenüber, ihre Eigenständigkeit nicht bewahrt haben. Wir betrachten sie und sie verwandeln sich in uns. Oder wir betrachten sie, bis wir sie essen.

1. Der Dachs

Der Dachs hat keine einzige liebenswerte Angewohnheit. Zu Mitternacht watschelt er im Mondlicht auf Friedhöfen herum und buddelt Dinge aus. Er wühlt sich Gänge in die Gräber und haust unter den Toten. Wo immer der Dachs auftaucht, entstehen Geschichten über Wiedergänger und Gespenster.

2. Die Hirschkäfer

Hirschkäfer sind Verdreher und Täuscher. Am ärgsten ist ihr Missbrauch der menschlichen Götterlehre. Im Fluge bilden sie absichtlich die Gestalt einer Fee oder gar die des Gottessohnes am Kreuz nach. Wir wissen von eifernden Christen und hoffnungsvollen Esoterikern die vom eigenen Erkennenwollen geblendet, den fliegenden Kruzifixen tief in den Wald hinein folgten. Als sie wiederkamen, verließen sie ihre Gemeinden und Kirchen und sprachen in fremden Zungen. Niemand weiß, zu welchen seltsamen Kulten die Hirschkäfer sie verführten.

3. Das Schwein

Es gibt Menschen, die halten Schweine für sehr gescheit. So mancher Landwirt und so manche Tierrechtlerin haben schon zu tief in die wässrigen Augen eines Schweines geblickt und sich darin selbst erkannt. Manch einer fiel danach einer überbrünstigen Auffassung von geteilter Schicksalsgemeinschaft zum Opfer und weigerte sich, den Schlachthof wieder zu verlassen. Der Nährwert, den die Menschheit dadurch gewinnt, gilt allgemein als größer, als der Schaden, den sie dabei  erleidet.

4. Der Wolf

Der Wolf ist nichts weiter als ein Hund, der zu blöd war, sich uns anzuschließen.
Jetzt wird er ausgerottet. Das hat er nun davon.

5. Der Hund

Das erbärmliche Dasein der Hunde beweist, dass der Mensch die Natur nicht liebt.
Er liebt nur die selbstgeschaffenen Unwesen. Und die Hervorbringungen des menschlichen Geistes sind abartiger, als es die der Welt jemals sein könnten. Durch ihre Vielgestaltigkeit ähneln die Hunde heute eher bösen Träumen als Tieren.

6. Der Elefant

Aus dem östlichen Tansania wird seit Langem berichtet, dass sich Elefantenbullen als Menschen verkleiden, in die Dörfer gehen und dort für ihre eigenen Stoßzähne Gewehre kaufen, um andere Elefantenbullen totzuschießen. Jetzt zeigen DNS-Untersuchungen bei drei kürzlich verhafteten Wilderern, dass diese unzweifelhaft der Art Loxodonta angehören. Da über Rückverwandlungen bei Elefanten noch wenig bekannt ist, werden die drei  Elfenbeinschmuggler ihre mehrjährigen Haftstrafen vorsichtshalber im Elefantengehege des Zoos von Daressalam verbüßen.

7. Der Neandertaler

Ja, ich weiß, kein Tier direkt, sondern ein Vertreter der Gruppe Mensch. Als ob da jemals ein Unterschied gewesen wäre! Nach einer völlig missglückten Anpassung an ein wandelndes Klima schloss der letzte Neandertaler völlig verdient vor 40.000 Jahren einsam und schwermütig seine blitzblauen Augen in irgendeiner europäischen Höhle.
Leider kam es vor seinem Verschwinden immer wieder zu gemeinsamen Höhepunkten zwischen Neandertaler*Innen und Vertreter*Innen der afrikanischen Gruppe Sapiens. Weil wir die Menschen gut kennen, nehmen wir jeweils einen völlig einvernehmlichen Beischlaf mit anschließender gemeinsamer Kinderbetreuung an. Und da wir immer für die Freiheit der Liebe eintreten, können wir den beteiligten Parteien auch keinerlei persönliche Vorwürfe machen! Das Erbe dieser verderblichen Seitensprünge legt sich nun aber wie ein Leichentuch über Europa, trägt doch jeder Europäer vier Prozent Neandertalererbgut in sich. Diese vier Prozent geben die Würze, die unsere Zivilisation seit tausenden von Jahren so außergewöhnlich schmackhaft macht: die Neigung zum lähmenden Trübsinn und zur vorschnellen Selbstaufgabe. [1]

8. Der Esel

Dem Esel gilt unser Mitgefühl. Früher ein wichtiges Mitglied jedes Haushalts, wurde er durch die Automatisierung an den Rand gedrängt. Als marginalisierte Gruppe spukt er heute durch Kinderbücher und lustige Weihnachtsgeschichten und gibt dort, neben Türken, Afrikanern und Frauen, eine traurige Figur ab. Es sind diese Narrative, die Vorurteile gegen den Esel festschreiben und seine soziale Außenseiterrolle perpetuieren. Aber wer, so frage ich euch glühende Gender- und Klima- und Klassenkämpfer*Innen, wer von euch kümmert sich um das Rewriting der unzähligen Dummen-Esel-Geschichten? Verbietet Shrek! Oder setzt wenigstens eine verdammte
Triggerwarnung davor. Ihr unsensiblen Esel!

9. Das Pferd

Kein Tier hat sein Schicksal so sehr verdient wie das Pferd. Über Jahrhunderte williger Vollstrecker bei Krieg, Kolonisation und Völkermord, wurde es von einer höheren Gerechtigkeit in jene Hölle verbannt, die wir Reitklub nennen. Dort werden die Pferde heute von Teufeln in Gestalt von pubertierenden Mädchen mit emotional-instabilen Persönlichkeitsstörungen zu Tode gestriegelt und geritten. Als gnädigere Strafe gilt ihre Umwandlung zu Leberkäse. Trotzdem ist der Gerechtigkeit damit noch lange nicht genüge getan und ich fordere hiermit: Wenn der Türkenschlächter Prinz Eugen endlich von seinem Sockel am Heldenplatz fällt, dann muss auch sein Pferd fallen!

10. Die Ameisen

Ameisen gelten als arbeitssame Kapitalistenschweine. Geht man durch einen Wald, stolpert man allenthalben über ihre Unternehmungen, die rücksichtslos Raubbau an der Umwelt treiben. Allgemein werden sie deshalb auch abgelehnt. Jetzt erfahre ich von Elias Canetti, dass die meisten Ameisen, die meiste Zeit über in ihren Nestern ruhen.
Das öffnet die Tür meines Herzens wieder ein spaltbreit für diese missverstandenen Wesen. Doch dann denke ich: Ist das nicht kennzeichnend für Kapitalistenschweine? In der Öffentlichkeit Geschäftigkeit vortäuschen und dann im eigenen Büro auf der faulen Haut liegen? Hauptsache, das Image stimmt!

[1] Simonti, Corinne N. and Vernot et.al.: The phenotypic legacy of admixture between modern humans and Neandertals, in: Science 351 (2016), 737--741

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Daniel Vitecek

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freiTEXT | Carolina Reichl

Herr Pechmann

Ich beginne und beende meine Stunden auf die Minute genau. Nur mit Herrn Pechmann überziehe ich immer. Er hat einen schönen Mund und eine angenehme, tiefe Stimme, der man gerne zuhört.

„Ich glaube, ich bringe Unglück“, sagt er. „Wenn ich jemanden mag, dann wird die Person schwer krank oder hat einen Unfall und stirbt. Das war bei meinen Eltern so, bei meiner letzten Freundin und bei drei Arbeitskollegen, mit denen ich mich gut verstanden habe. Ich will nicht, dass das wieder passiert. Darum habe ich mich von allen abgekapselt. Manchmal vergehen Monate, ohne dass ich mit jemandem spreche.“ Herr Pechmann beginnt zu weinen. Er ist ungefähr in meinem Alter und ein wenig abgemagert, wodurch seine markanten Wangenknochen schön zur Geltung kommen.

„Ich hätte gerne Freunde. Zumindest einen – aber was, wenn dann wieder etwas Schlimmes passiert?“

Frau Hammer ist meine nächste Patientin. Sie ist Anfang zwanzig und geht in Wahrheit nur in Therapie, weil das gerade alle ihre Freundinnen machen. Sie hat eine nazistische Persönlichkeit, aber keine richtigen Probleme. Sie erzählt mir von Männern, die sie wollen, aber die sie nicht will. Dass sie Wirtschaft nur studiert, weil ihre Eltern das wollen. Dass sie am liebsten nach Bali auswandern und Yogalehrerin werden würde.

Ich lasse sie reden. In Gedanken bin ich bei Herrn Pechmann. Er ist seit sechs Wochen mein Patient. Schritt für Schritt zeigt er mir mehr von seinen Narben und was sich darunter verbirgt.

Würde ich daran glauben, dass es Seelenverwandte gibt, dann wäre Herr Pechmann meiner. Ich verstehe ihn. Auch ich lasse seit Jahren niemanden an mich heran, um nicht enttäuscht zu werden.

„Er macht die Tür nicht zu, wenn er aufs Klo geht. Ich glaube, ich werde mich nicht mehr bei ihm melden“, sagt Frau Hammer. Ich nicke.

Herr Pechmann sagte vorhin, dass Mittwoch der schönste Tag der Woche für ihn ist, weil er da zu mir kommen kann. Er spürt die besondere Verbindung, die zwischen uns ist.

„Es gibt da eine Frau, mit der ich gerne ausgehen würde“, sagt er bei der nächsten Sitzung. „Aber ich trau mich nicht, sie zu fragen.“

Mir wird heiß, ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen.

„Warum nicht?“

„Vielleicht sagt sie nein.“

„Vielleicht sagt sie auch ja.“

„Ich will nicht zurückgewiesen werden.“

„Ich glaube nicht, dass sie das tun würde.“

„Dann ist es offensichtlich, wen ich meine?“

Ich nicke.

„Und Sie glauben, dass ich bei Mia eine Chance habe?“

Ich sehe ihn irritiert an.

„Ich meine die Patientin nach mir.“

„Frau Hammer?“, frage ich und erschrecke mich selbst über meine schrille Stimme. Er nickt.

„Wir unterhalten uns hin und wieder im Wartezimmer.“

Ich kenne Frau Hammer gut genug, um zu wissen, dass sie sich nicht für ihn interessieren wird. Sie ist viel zu wählerisch.

„Versuchen Sie’s doch einfach.“ Ein gebrochenes Herz ist immer ein guter Gesprächsstoff.

Wir sprechen alles im Detail durch. Zwischen uns gibt es keinen Filter, durch den seine Worte gezogen werden. Er sagt mir gerade aus dem Bauch heraus, was er denkt. Ich bin die Einzige, mit der er so spricht, die Einzige, die sehen kann, wie kaputt er wirklich ist. Mia weiß nichts von seiner Einsamkeit und seinen Verlustängsten. Wüsste sie davon, hätte sie sich nicht mit ihm getroffen.

„Zum Schluss hab ich sie geküsst“, sagt er und blickt daraufhin zu Boden. „Zu mehr war ich nicht bereit.“

Ich atme erleichtert auf, sage, er soll sich nicht unter Druck setzen.

Ich bin mir sicher, dass sie bald das Interesse verlieren wird, so wie sonst auch. Dennoch gebe ich ihm eine Reihe von schlechten Ratschlägen.

„Ich glaube, ich mag ihn“, sagt Mia zwei Wochen später.

„Und es gibt nichts, was Sie an ihm stört?“, frage ich.

Sie schüttelt den Kopf.

„Auch nicht der Altersunterschied?“

„Nein.“

„Und seine introvertierte Art?“

„Nein.“

„Gut“, sage ich. Dann frage ich, wie es auf der Uni läuft. Geht so, sagt sie. Sie hat Stress, weil sie eine wichtige Prüfung nicht bestanden hat.

Ich verschreibe ihr Medikamente mit starken Nebenwirkungen. Dazu gehören Gewichtszunahme und Depression. Niemand mag jemanden, der dick und schlecht gelaunt ist.

Herr Pechmann sagt mir, wie toll ich bin. Ohne mich hätte er sich nie mit Mia getroffen.

Er sagt: „Ich war schon lange nicht mehr so glücklich.“

Und dann: „Ich möchte die Therapie beenden.“

Ich denke: Jetzt dreht er durch.

Ich schnappe nach Luft, strenge mich an, die Fassung zu bewahren. Er ist krank, er weiß nicht, was er sagt.

„Ich kann die Therapie doch beenden, oder?“

Ich merke, wie ich schneller atme. Das ist die Panik, die in mir hochkriecht. Ich blinzle, hoffe, dass er die Tränen in meinen Augen nicht bemerkt.

„Selbstverständlich, Sie sind freiwillig hier.“

Unfassbar, wie schnell man den Verstand verliert, wenn es einem gut geht.

Frau Hammer hat ein wenig zugenommen. Trotzdem ist sie eine junge, hübsche Frau. Sie begreift gar nicht, wie gut es ihr geht. Denn obwohl sie jetzt einfach mit Herrn Pechmann glücklich sein könnte, sagt sie: „Ich fühle mich in letzter Zeit nicht gut.“

Da sage ich: „Ich kann Ihnen nicht mehr helfen. Sie sind seit drei Jahren bei mir und wir machen keine Fortschritte. Es ist besser, Sie suchen sich eine neue Therapeutin.“

Damit hat sie nicht gerechnet.

„Vielleicht brauche ich mehr Medikamente?“

Ich sage, ihre Medikamente wären schon stark genug.

Sie will fragt, was sie hat, Depression, Borderline oder vielleicht noch etwas Schlimmeres.

„Ich weiß es nicht“, sage ich und schicke sie vor die Tür.

Ich wollte nicht, dass es soweit kommt. Aber ganz unfroh bin ich nicht.

Herr Pechmann schluchzt. Ich verstehe nicht alles, was er sagt. Ich höre nur Krankenhaus und zu viele Tabletten. Sie ist nicht gestorben, aber fast.

Ich setze mich neben ihn und lege meine Hand auf seine.

„Haben Sie Mia schon besucht?“

Er schüttelt den Kopf.

„Das ist meine Schuld. Ich halte mich lieber von ihr fern, damit ihr nicht noch was passiert.“

Ich stimme ihm zu. Dann vereinbaren wir die nächste Sitzung.

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Carolina Reichl

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freiTEXT | Simon Loidl

Es war nichts

Wir saßen in Blickweite der Bar und warteten auf unser Essen. Wir sprachen kaum, denn wir hatten uns schon den ganzen Tag über unterhalten. Ich beobachtete die anderen Personen in dem Lokal, doch da gab es nicht viel zu sehen. Ein Mann ging an uns vorbei in Richtung des vorderen Teils, wo sich die Bar befand. Er blickte sich um, als wäre er ebenfalls zum ersten Mal hier. Weder vor noch hinter der Bar war jemand zu sehen. Plötzlich blieb der Mann stehen. Er schien etwas auf dem Boden zu betrachten, aber ich konnte nicht sehen, was. Nach ein paar Sekunden bückte er sich und hob etwas auf, das er in die Höhe hielt: eine oder zwei Spaghettinudeln, die offenbar beim Abräumen eines Tellers hier gelandet waren. Ich verstand nicht, weshalb der Mann die Nudeln aufgehoben hatte. Während er seine Hand, in der er immer noch die Speisereste hielt, wieder senkte, näherte sich in seinem Rücken, vom Eingang des Lokals her, eine Frau. Sie ging direkt auf ihn zu. Sie sprach ihn an. Ich hielt den Atem an, gespannt, wie sich der Mann aus der Situation herausmanövrieren würde, mit vom Boden aufgehobenen Nudeln ertappt zu werden. Ich weiß nicht, warum, aber ich war mir sicher, dass er die Nudeln in die Hosentasche stecken würde. Eine andere Möglichkeit sah ich nicht, wenn er nicht erklären wollte, weshalb er mitten in einem Lokal stand und Nudeln in der Hand hatte, die offensichtlich nicht seine waren. Doch der Mann machte weder das eine noch das andere. Er drehte sich um und grüßte die Frau. Dann wandte er sich zur Bar, legte die Nudeln in einen Aschenbecher, nahm diesen und trug ihn durch eine Tür, die hinter der Bar in eine Küche oder einen Abstellraum führte. Mir wurde klar, dass der Mann hier arbeitete. Ich begann wieder normal zu atmen, wandte meinen Blick von der zu Ende gegangenen Szene ab, blickte mein Gegenüber an und hob die Schultern.

„Was ist?“, fragte sie mich.

Ich schüttelte den Kopf.

Es war nichts.

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Simon Loidl

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freiTEXT | Tara Meister

Das Freie

Wir lernen uns kennen an einem Abend, in einer Gasse. Sie steht zwischen zwei Mülltonnen und ich stelle mich dazu, es ist die Rückseite eines kleinen Bio-Ladens mit Café, es hat längst zu, wir sind hier, um Abgelaufenes abzuholen, uns verbindet die dafür entworfene App. Weil ich so etwas noch nie gemacht habe, weil Leute vorbeigehen und uns mustern, schwitzen meine Hände. Ich mustere Marlene, deren Blick in die Ferne gerichtet ist, war der Name tatsächlich Marlene? Sie trägt einen bunten, samtigen Body mit wilden Pflanzen darauf, er ist tief ausgeschnitten, zwischen ihren Brüsten ist der Kopf eines Schlangentattoos zu sehen. Um ihren Hals eine Kette, deren Anhänger in ihrem Ausschnitt verschwindet, als hätte die Schlange ihn gefressen. Marlene ist groß gewachsen, kurvig und war bestimmt schon einmal hier. Alles oder etwas an ihr zieht mich magisch an. Es kommen noch zwei andere und Stefan- der damals mein Freund war- der gar keine Lust darauf hat, das sieht man ihm an. Ich habe es vorgeschlagen, er sagt dann nicht ja und nicht nein, er kommt vorwurfsvoll mit. Während der Ladenbesitzer kommt, während er ein paar Sätze mit uns wechselt, uns mit ins Lager nimmt und dort Papiertüten mit Essen verteilt, sehe ich Stefan an und merke, dass er Marlene, nicht ansieht. Es ärgert mich, ich wünsche mir, dass sie seinen Blick anzieht wie meinen, dass er sieht, was schön ist. Wütend drücke ich ihm weiche braune Bananen in die Hand. Ich bemerke Schweißflecken auf seinem blauen Hemd, das auf einer Seite aus seiner Hose gerutscht ist. In diesem Moment finde ich ihn erbärmlich, ich starre auf Marlenes Haar auf dem Weg nach draußen. Die Tür schließt sich, wir gehen ein paar Schritte weiter zu einer Grünfläche und beginnen dort das Essen zu verteilen. Stefan sieht mit etwas Abstand zu, ich bin innerlich seltsam erschüttert von diesem Abend, Marlene wühlt in den Papiersäcken. Sie wühlt und wühlt als würde sie nach einem Schatz graben. Wie eine Piratin, denke ich, und dass ich gerne wenigstens Steuermann wäre und ich sage Stefan, dass er doch mit dem Moped schon vorausfahren soll, ich würde nachkommen, ich habe keine Lust mehr nachzukommen. Mit vollem Rucksack, einer Flasche Wein in der einen und einer goldenen Dose Sardinen in der anderen Hand geht Marlene los, ich frage in welche Richtung sie muss, ich sage, ich auch, sie wirkt nicht begeistert. Gemeinsam gehen wir ein paar Straßen weiter und dann den Kanal entlang und ich weiß nicht mehr, was ich mir erhofft habe. Marlene bleibt für einen Moment stehen, um die Dose zu öffnen und das Öl abzugießen, dann essen wir im Gehen die Sardinen und spucken die abgebissenen Köpfe in den Fluss, der sie vielleicht raus aus der Stadt trägt. Während wir ein bisschen reden, merke ich schließlich, dass da etwas Dunkles, Unerfülltes ist. Ob mich das angezogen hat, frage ich mich.

„Wie heißt du nochmal?“, frage ich sie.

„Marlene.“

Es ist ein weiter Weg in Marlenes Leben.

Ich war keine Ausnahme, wie alle anderen auch habe ich sie im Laufe der Zeit immer wieder verloren.

Vor drei Jahren, erfahre ich irgendwann, ist sie in Wien angekommen, hat begonnen Psychologie zu studieren, nach einem Semester gemerkt, dass es nicht das Richtige war und einfach weiter gemacht. Immer noch ist das Studium unsichtbar, die Bücher in ihrem Regal sind allesamt Thriller, die Prüfungen schreibt sie von anderen unbemerkt.

Auf allen Fotos und jetzt gerade lacht sie, hält sie mich mit den Augen fest. Sie hat die lauteste Stimme in der WG, aber sie schweigt viel. Ich schlafe mit ihrem Mitbewohner und höre sie spät nachts zur Toilette schlurfen.

Manchmal sehe ich sie tagelang nicht und wenn dann die Türe aufgeht, sind ihre Schritte langsam. Über den Winter ist sie schwerer geworden.

„Wir wollten doch segeln gehen.“

„Heute nicht. Vielleicht morgen, wenn der Wind geht.“

Oft steht sie unruhig im Raum. Wolken, die sie nervös machen, fettige Pfannen wütend, aber kein Schwamm und keine Kerze machen die Wohnung zu einem Ort, an dem sie sein möchte. Wochenlang ist sie hungrig und still.

Aber jetzt ist Frühling und morgen, wenn der Wind geht, nimmt sie mich mit an die Donau, auf das Segelboot.

Ich gehe schlafen, sie sitzt noch länger dort am Tisch. Morgen, denke ich und in meinen Ohren rauscht es.

Am nächsten Tag erzählt sie, dass sie spät nachts ein Geräusch gehört hat, zwischen zwei und drei Uhr, sie war lang wach und ist spät aufgestanden. Es hätte jemand etwas Großes aus dem Fenster geworfen. Und dass sie sich heute doch nicht nach Segeln fühlt.

Mit einer Einkaufstasche verlasse ich das Haus, da liegt vor mir auf dem Gehsteig in einer glitzernden Lache ein toter Fisch.

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Tara Meister

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freiTEXT | Jasmina Cavkunovic

orpheus

Unter lauten Regentropfen hatte ich geschworen, dich zu vergessen – der Fairness halber, wie man sagt. Doch auf dem Weg zum Kino sah ich deine Straße wie ein flüchtiges Panorama aus dem U-Bahn-Fenster, und vergaß, was ich vergessen sollte.

Ich denke zurück an kalte Jännertage, wo ich mein Handy nach der Arbeit an mein Herz hielt, als ich deine Nachricht auf dem Bildschirm sah. Auf dem Weg zur Straßenbahn fühlte ich mich wie ein kleines Kind an seinem ersten Schultag – aufgeregt, das Gerät wie eine Schultüte fest umklammernd, als liefe es davon, wenn ich es nicht täte. Erbittert waren noch Monate später die Kämpfe mit der Schwerkraft, wenn ich meinen Daumen über dem Anrufsymbol neben deinem Namen schweben ließ, und obgleich ich sämtliche Schlachten gewann, glänzte ich auf einer jeden Siegesfeier durch Abwesenheit. Heute spüre ich die rechteckige Form meines Handys durch die Manteltasche an meinem Oberschenkel, während meine rechte Hand die linke hält. Die Beschriftung des Massagestudios in deiner Straße verläuft sich unterdessen in der wachsenden Distanz.

Weichgezeichnet waren wir, und weichgezeichnet haben wir die Linien, die unseren Zufluchtsort markierten. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es unseren Ort noch gibt, doch manchmal stolpere ich heute noch über Drahtseile, die ebendort am Boden liegen, wo du mich zum letzten Mal gehalten hast. Und du, versuchst du je das Gefühl von meiner Hand in deiner zu übertünchen, als wäre es Parfüm auf verschwitzter Haut? Sitzt du je auf deinem Dach und denkst über den Anfang unseres neu begonnenen Endes nach? Ist der Himmel je wieder so rosarot gewesen wie an jenem Montagabend im September? Langsam kehrt der Winter ein, es ist vermutlich besser so.

Schändlich mein Gedanke, unsere Karte sei interessanter gewesen als unser Gebiet. Absurd die Idee, unter der babyblauen Decke, die du mochtest, unser Wunderland nachzubilden, mit Serotonin-Modellen aus Kunststoff. Wenn ich in Träumen nach dir greife, bleibt mir nichts als Ruß auf meinen Händen; und wenn ich wach bin, spüre ich deinen Schatten an meinen Füßen – du hast ihn drangenäht, ehe du verschwandest. Ein bisschen Dunkelheit habe ich aus dem Hades mitgenommen, sie ist mein heiligster Besitz, habe ich festgestellt, und zugleich meine größte Last.

Du bist ein Blutfleck, eine Zäsur in meiner Geschichte. Deine Straße ruft noch immer meinen Namen, hörst du’s auch? Ich habe mich umgedreht, ich hab’ mich umdrehen müssen, einmal mehr. Ich werfe meine hundert Ehrenworte über Bord, unfähig zu vernehmen, wohin sie treiben.

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Jasmina Cavkunovic

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freiTEXT | Norbert Schäfer

Siebrecht

Gemessenen Schrittes begab er sich zum Komposthaufen und ließ einen Armvoll Efeuzweige und Blätter fallen, die sich gleichmäßig über die Schichten von feuchten Gras- und Moosresten, trockenen Blütenblättern und Zweigen verteilten. Das meiste blieb oben liegen, nur wenige Zweige rutschten seitlich hinab. Die Blütenstände waren ausgebildet, aber über die Beeren hatten sich schon die Drosseln und Amseln hergemacht. Efeu war so eine vitale Pflanze! Man kam mit dem Nachschneiden kaum hinterher. Und giftig obendrein. Nie bearbeitete er die Efeuhecke ohne seinen Mundschutz. Margarete kannte sich gut in diesen Dingen aus und hatte ihn von Anfang an auf die gesundheitlichen Gefahren hingewiesen.

Die Sonne meinte es gut heute – sie wärmte ungewöhnlich stark für einen April-Nachmittag. Siebrecht schwitzte ein wenig in seiner Gartenkluft. An seinem linken Hosenbein der kastanienbraunen Cordhose waren Spuren von Gartenerde zu erkennen. Er durfte nicht vergessen, sie abzubürsten, bevor er das Haus betrat. In dem kleinen Garten des Endreihenhauses in Köln-Müngersdorf fühlte er sich wohl. Und geschützt. Er trug derbe Arbeitshandschuhe über den langen Ärmeln seines schon ausgeblichenen karierten Holzfällerhemds. Die Stoffkappe mit dem Aufdruck des Blumenladens „FloraFit“ schützte seine Augen vor der Sonne. Nun, zumindest die Schutzmaske würde er jetzt ablegen können. Ruhig streifte er die Handschuhe ab, bevor er die Haltebänder der Maske hinter den Ohren löste. Er faltete den Stoff sauber und legte ihn auf die Bank.

Er vermisste sie.

Gegen die Sonne blinzelnd richtete Siebrecht einen letzten, kritischen Blick auf die Hecke. Einen etwa eine Handbreit heraus ragenden Zweig hatte er übersehen. Das hätte Margarete sicher nicht gefallen. Nein, das konnte er so nicht lassen. Bedächtig legte er den Mundschutz an, zog die Handschuhe über und machte dem widerspenstigen Spross den Garaus.

Unter dem Rhododendron hatte sich verrottendes Laub angesammelt. Den würde er nachher entfernen. Natürlich könnte er es auch sofort angehen. Das wäre kein Problem. Aber seine innere Uhr war im Laufe der Jahrzehnte präzise geworden. Er hatte ein untrügliches Gespür dafür, dass es Kaffeezeit war. Jetzt sollte der Duft von frischem Kaffee aus der offenen Terrassentür strömen. Wie freute er sich dann immer auf den Kuchen. Natürlich behielt er die liebgewordenen Rituale bei. Den Bienenstich hatte er schon am Vormittag beim Bäcker gekauft, und den Kaffee würde er jetzt selbst aufsetzen. Eine komplette Kanne – Siebrecht brachte es nicht übers Herz, nur eine halbe zu kochen. Lieber schüttete er den Rest weg. Er schlüpfte in die grauen Filzpantoffeln. Sie waren ein Geburtstagsgeschenk von Margarete und schonten den Fußboden. Sie war so praktisch veranlagt.

Langsam an einem Stück Bienenstich kauend dachte er über das kommende Osterwochenende nach. Die sonntägliche Ostermesse im Kölner Dom war für Margarete immer das Erlebnis des Jahres gewesen. Das prachtvolle Bauwerk, die vielen Menschen, die klare und schon wärmende Frühlingsluft und vor allem die andächtige, festliche Stimmung...

Siebrecht hatte sich dazu immer in seinen besten Anzug geworfen. Er machte sich eigentlich nicht sehr viel aus Religion, aber Margarete hatte ihm stets verdeutlicht, wie wichtig christliche Traditionen waren.

Ein junges Paar blickte ihn von dem Hochzeitsfoto auf dem Sekretär an. Wie weich Margaretes Züge darauf noch waren. Der Silberrahmen wies im Licht der durch die Terrassentür fallenden Sonnenstrahlen einen leichten Staubbelag auf. Staubwischen war immer seine Domäne gewesen – er würde sich heute Abend darum kümmern. Jetzt war erst einmal der Rhododendron dran. Siebrecht erhob sich ächzend und zog sich die Handschuhe über.

Der Boden unter dem Rhododendron war wieder schier. Mit beiden Armen griff Siebrecht sich einen Stoß Laub, den er auf dem Rasen zusammengeharkt hatte. Er mochte das Rascheln, wenn sich die trockenen Blätter über den Komposthaufen verteilten. Die Asseln und kleinen Spinnen, die hektisch das Weite suchten, störten ihn nicht. Er hatte ein Herz für Tiere, wenngleich sie sich aufgrund Margaretes Katzenhaarallergie nie eins angeschafft hatten. Hunde – tollpatschige, schmutzige Biester! – kamen für sie ohnehin nicht in Frage.

Mit dem rotkarierten Stoff-Taschentuch  wischte er sich den brennenden Schweiß aus den Augen. Sein Blick fiel auf die Lücke zwischen dem Rhododendron und dem Flieder. Über den Zaun konnte er am Nachbarhaus vorbei einen Zipfel des Müngersdorfer Stadions erhaschen. Oder es mochte mittlerweile auch einen anderen Namen tragen. So ganz verstanden hatte er den Grund für diese Namensänderungen nie. Musste wohl Geld im Spiel sein.

Dort spielte am Wochenende häufig der EffZeh. Erste oder zweite Bundesliga – so genau wusste Siebrecht das nicht mehr. Die stiegen dauernd auf und ab. Früher, als Kind, hatte er oft und gerne gekickt. Er war nicht der schnellste, aber ein ganz passabler Verteidiger, wie er fand. Und Spaß hatte es gemacht, wenn ihn die anderen mitspielen ließen, was manchmal vorkam. Insbesondere wenn sie nur wenige waren.

Hin und wieder hatte er mit der Idee geliebäugelt, sich ein Spiel des Clubs im Stadion anzuschauen. Aber Margarete hatte ihn glücklicherweise rechtzeitig davon abgehalten. Letztlich wäre es eine reine Geldverschwendung gewesen. Solche Veranstaltungen waren laut, kulturlos und es wurde viel getrunken und gegrölt. Und es gab Prügeleien. So ein Stadionbesuch hätte letztendlich nur Scherereien gebracht – da hatte sie völlig Recht.

»Tag, Häär Siebräächt. Schön Wedder hugg.«

Zwischen dem Goldregen und dem Hibiskus zeigte sich die Gestalt der Nachbarin. Gisela Niewöhr – eine verwitwete Mittfünfzigerin. Mit gesenktem Blick inspizierte Siebrecht seine Fußspitzen. »Tag.«

»Wie gonn et Ehr Frau? Isse verreist?«

Er hob ein wenig die Lider und blickte verstohlen zu ihr herüber. Ihr Lächeln – ein wenig künstlich, wie er fand – wurde umrahmt von einem goldblonden, halblangen Pagenschnitt.

Die Haare waren natürlich gefärbt. Darauf hatte ihn Margarete schon vor Jahren hingewiesen. Nur Flittchen würden ihre Haare färben. Und dann auch noch als Witwe. Mit derlei Volk sollten und wollten sie keinerlei Umgang pflegen.

»Is auf Kur.« Eigentlich sah sie ja ganz freundlich aus, stellte er nach einem weiteren, vorsichtigen Blick fest. Aber das traf vermutlich für einige Frauen ihres Schlages zu.

»Ach, Se ärme Höösch. Da sin Se jaanz allein! Kann ich Ehr e bessche zor Hand gonn beim Huushald? Maache ich gään.«

Sie trug weder eine Arbeitskleidung noch eine Schürze, stattdessen ein gepunktetes blaues Kleid. Er fand, es stand ihr gut.

»Ich kütt zooräch.«

Margarete hatte ihr Haar nie gefärbt. Früher schimmerte es in seidigem Brünett. Später wurde es von ersten grauen Strähnen durchzogen, die dann langsam die Oberhand gewannen. In den letzten Jahren krönte ein akribisch gepflegter Dutt die mittlerweile grau gewordene Mähne.

»Wie Se wolle. Se künn gään hingerdren op e Liköörsche vörbeikünn. Schön Tag noch!«

Gisela Niewöhr zog sich wieder in ihre Wohnung zurück. Siebrecht atmete tief aus. Es fiel ihm ohne Margarete schwer, den nötigen Abstand zu aufdringlichen Nachbarn zu wahren. Ganz besonders zu Gisela, wie er die Witwe in Gedanken nannte. Obwohl... es könnte vielleicht ganz nett sein, sich bei einem Gläschen zu unterhalten. Wenn sie Limonade angeboten hätte... Siebrecht trank keinen Alkohol.

Nachdenklich stützte er sich auf seine Harke. In zehn Minuten würde ein Konzert des Wiener Symphonie-Orchesters im Fernsehen übertragen werden. Margarete liebte diese Sendungen. Und manche waren auch wirklich schön – das musste Siebrecht zugeben. Aber ohne sie wäre es nicht das Gleiche. Er beschloss, sich das Konzert nicht anzuhören.

Natürlich konnte er auch mal wieder die Eckkneipe „Zum Geißbock“ aufsuchen. Samstags wurden die Spiele live übertragen – man musste nicht ins Stadion gehen. Er war nur einmal da gewesen, als Margarete zu ihrer kranken Schwester gefahren war. Der Laden war gut besucht, aber nicht übervoll gewesen. Die Leute hatten schon etwas komisch geguckt, als er sich nur ein Wasser bestellt hatte. Aber außer ein paar gemurmelten, spöttischen Bemerkungen ließ man ihn unbehelligt. Margarete konnte ihm so einiges von Menschen erzählen, die sich buchstäblich um den Verstand, wenn nicht sogar um ihr Leben „gesoffen“ hatten, wie sie es nannte. Auch ihr verstorbener Onkel Herbert, den er persönlich nur dreimal gesehen hatte – bei der Hochzeit und zwei Geburtstagen, wenn er sich recht entsann  – zählte dazu. Einzig und allein eine Flasche Kirschlikör, als Medizin zur Linderung ihrer überreizten Nerven, war erlaubt. Die Ärmste litt an manchen Tagen so sehr, dass ein Glas oft nicht ausreichte. Siebrecht wischte sich eine Träne aus dem Winkel seines rechten Auges. Glücklicherweise hatte er sich immer einer robusten Gesundheit erfreut.

Als er einen weiteren Schwung trockenen Laubs über den Komposthaufen leerte, bemerkte er es. Aus der untersten Schicht mit dem gemähten Gras ragte etwas hervor. Wie ein toter Ast. Mit fünf kurzen, dicklichen Zweigen.

Der Arm wirkte eingetrocknet, die Haut mittlerweile grau. Er versuchte, den goldenen Ring zu ignorieren, der noch an einem Finger steckte. Nie hätte er es gewagt, ihn abzuziehen. Nun... er hatte es versucht – aber der Finger war zu fleischig, er wirkte wie im Laufe der Ehe um den Ring weitergewachsen. Unauffällig blickte er um sich, aber von den Nachbarn war niemand zu sehen, und Gisela dürfte sich mit ihrem “Liköörsche“ trösten. Mit dem Außenrist seines rechten Schuhs versuchte er, die Extremität wieder unter die Grasklumpen zu drücken. Der Arm war schon sehr steif und rutschte immer wieder zurück. Siebrecht drückte und trat immer heftiger. Mittlerweile bearbeitete er ihn mit der Schuhspitze wie einen Fußball.

Es nützte nichts – wie zum Gruß schnellte der Arm immer wieder zurück.

Siebrecht seufzte. Das würde bestimmt Scherereien geben.

Schweren Schrittes begab er sich zur Kellertreppe, um die Säge zu holen.

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Norbert Schäfer

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