freiTEXT | Sonja Kettenring

Grün ist die Hoffnung

Sie steht in der Einfahrt. Eingehüllt in die dicke Jacke mit der Fellmütze, den großen Koffer neben sich, sieht sie die Straße hinunter. Als warte sie auf jemanden.

Was hat sie vor?, fragst du dich. Wo will sie nur hin?

Eine Stunde später steht sie noch immer da. Die Jacke hat sie mittlerweile ausgezogen, es ist warm geworden.

Du gehst hinaus. Musst sowieso zur Mülltonne.

Hallo, sagst du und fragst, was sie vorhat. Willst du vereisen?

Während sie nach einer Antwort sucht, folgst du ihrem Blick die Straße hinunter. Ein Auto fährt vorbei, noch eins.

Ich werde abgeholt, sagt sie irgendwann und du nickst, als wären damit alle Fragen beantwortet. Du bleibst noch eine Weile neben ihr stehen, den leeren Mülleimer in der Hand. Schließlich gehst du wieder hinein ins Haus.

Alle Viertelstunde siehst du aus dem Fenster, dem zur Straße hin. Sie steht noch immer da.

Irgendwann hörst du die Haustür, in letzter Zeit hast du gelernt, auf die Geräusche des Hauses zu hören. Du siehst erneut aus dem Fenster. Die Einfahrt ist leer. Im Haus fällt eine weitere Tür ins Schloss. Die weiße Tür mit dem grünen Glaswindspiel. Wenn du leise bist, hörst du es klingen.

Du überlegst, ob du jemanden anrufen solltest. Müsstest. Aber du hast längst alle angerufen, sie können auch nichts anderes tun als du.

Nichts könnt ihr tun.

Früher hat es auch schon mal länger gedauert, bis sie eine Antwort für dich hatte. Früher hast du gedacht, das ist richtig, das ist gut so. Wie oft hast du selbst falsche Antworten gegeben, einfach nur, weil du zu schnell warst, weil du die erstbeste Antwort gegeben hast. Die erstebeste ist nicht immer die richtige.

Später dauert es fünf Minuten, bis sie antwortet. Obwohl die Frage doch ganz einfach ist, deiner Meinung nach.

Später antwortet sie gar nicht mehr, später sieht es so aus, als verliere sie die Frage auf dem Weg zur Antwort.

Früher warst du oft mitten in der Arbeit, wenn sie geklingelt hat. Manchmal hat sie einfach nur geklingelt, um Hallo zu sagen. Das sollte man öfter machen, hast du gedacht. Manchmal war es dir auch zu viel, dieses Klingeln, dieses Hallo. Du bist gern für dich allein.

Später konntest du dich nicht mehr auf deine Arbeit konzentrieren, weil du den Geräuschen des Hauses gelauscht hast. Den fehlenden.

Später bist du es, die bei ihr klingelt. Aber sie macht nicht auf.

Du willst niemand sein, der auf Klospülungen lauscht. Jemand, der sich abends aus dem Fenster lehnt, um herauszufinden, ob bei ihr noch Licht brennt. Der sich Arbeit im Garten sucht, um unauffällig durch Fenster zu spähen. Der Zweite anruft, um mit ihnen über Dritte zu sprechen.

So jemand willst du nicht sein.

Früher hat sie mit jedem gesprochen. Sie hat in zwei Wochen mehr Leute kennengelernt als du in fünf Jahren.

Später fragen dich diese Leute, was mit ihr los sei. Wo sie denn sei, man sehe sie gar nicht mehr? Ist sie etwa ausgezogen?

Nein, sie ist nicht ausgezogen. Das weißt du. Es ist so ziemlich das einzige, was du weißt.

Aber da muss man doch etwas machen, sagt einer und klingelt energisch an ihrer Tür. Sie macht nicht auf. Sie macht niemandem mehr auf. Doch: der Polizei. Einer hat die Polizei gerufen. Die Polizei kommt und versichert sich, dass sie sich nicht umbringen will.

Wie findet man das heraus? Du hättest auch gern so eine Versicherung.

Früher hat sie sich mit einem Topf Reis zu euch auf die Terrasse gesetzt. Niemand hatte mehr Freude an einem Topf Reis als sie. Früher bekam sie eine Lebensmittel-Kiste und hat mit der Lieferantin an der Tür gelacht.

Später bleibt die Kiste vor der Tür stehen, den ganzen Nachmittag, den ganzen Abend lang. Sie muss doch die Kiste hereinholen? Irgendwann trägst du sie vor ihre Tür.

Später ist in der Kiste nichts weiter als Knäckebrot.

Du willst niemand sein, der in anderer Leute Kisten hineinschaut.

Jemand erzählt dir vom Sozialpsychiatrischen Dienst. Wieder rufst du Zweite an, um über Dritte zu sprechen. Aber was können die machen, nichts. Da können wir leider nichts machen, sagen sie. Die Dritte müsse selbst bei ihnen anrufe. Sie sei schließlich volljährig, es sei ihre Entscheidung.

Du legst eine Postkarte vor ihre Tür, mit einer Telefonnummer darauf.

Irgendwann stehen zwei Frauen vor der Tür, vom Sozialpsychiatrischen Dienst. Noch jemand hat mit ihnen über Dritte gesprochen, jetzt können sie doch etwas tun, können vor dieser Tür stehen. Aber die Tür geht nicht auf.

Früher hat sie geschrien, geweint, getobt und gelacht. Oje, hast du gedacht.

Später ist da nur noch Stille.

Früher hat sie Zitronenkerne in die Erde gesetzt. Vielleicht klappt es, vielleicht wächst etwas, hat sie gesagt und sich über die ersten Blätter gefreut. Früher war sie diejenige, die dort, wo du schon hundert Mal vorbei gelaufen bist, ohne etwas zu sehen, ein Feld voller blühender Krokusse entdeckt hat. Früher hat sie alle Wunder dieser Welt gesehen.

Einmal hast du sie von ihrer Therapeutin abgeholt und in die Psychiatrie gefahren. An der Anmeldung stand ein älterer Herr der nicht mehr wusste, wie er hierher gekommen war. Wo denn sein Zuhause sei, fragte ihn der Mann hinter dem Plexiglas. Das hätte der ältere Herr auch gern gewusst.

Im Warteraum waren viele Menschen, im Warteraum war es laut. „Wenn es nur einmal so ganz stille wäre“, zitierte sie Rilke. Nicht nur einmal, ihr musstet lange warten. Dann endlich wurde sie aufgerufen.

Soll ich mit reinkommen?, hast du gefragt.

Ja, bitte.

Der Arzt hatte lange, lockige Haare, der Arzt sah müde aus. Neonlicht flackerte, Neonlicht surrte. Dem Arzt ging die Geduld aus, es dauerte ihm zu lange, auf ihre Antworten zu warten. Sie solle doch jetzt bitte antworten, dann müsse er wenigstens nicht mehr das Surren des Lichts ertragen.

Sie wollte nicht bleiben. Sie wollte, dass ich sie wieder mit nach Hause nehme.

Der Arzt vergewisserte sich, dass sie nicht die Absicht habe, sich umzubringen. Er hat sie einfach danach gefragt. So geht das also.

Später fährt sie noch einmal jemand hin. Später bleibt sie dort und jemand räumt ihre Wohnung aus. Du fragst, ob du das Zitronenbäumchen haben kannst.

Heute ruft sie dich manchmal wieder an. Ihr redet über das Wetter, übers Essen und das Fernsehprogramm. Nie musst du lange auf eine Antwort warten.

Du bist ebenfalls umgezogen. In ein Haus, in dem es nur deine eigenen Geräusche gibt. Du warst erleichtert darüber, nicht mehr auf die Klospülung lauschen zu müssen.

Einmal in der Woche gießt du das größer werdende Zitronenbäumchen und fragst dich, ob du vielleicht wirklich einmal Zitronen ernten wirst.

Manchmal wünschst du dir, wieder vor ihrer Tür zu stehen. Der weißen Tür mit dem grünen Glaswindspiel.

Ist es nicht wunderschön?, hörst du sie fragen.

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Sonja Kettenring

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