FIASKO

Es ist Freitag und wie jeden Freitag gehen wir aus, weil man das so macht, wenn man sechzehn ist. Ich frage mich, wann ich das letzte Mal nüchtern etwas mit meinen Freunden unternommen habe. Ich erinnere mich nicht. Seitdem wir fortgehen dürfen, machen wir nichts anderes mehr.

Wir stehen in einem Kreis auf der Tanzfläche. Die Musik dröhnt in einer Lautstärke, die uns beinahe das Trommelfell platzen lässt; sie macht es fast unmöglich, einander zu verstehen. Hannah ist das schönste Mädchen im Raum, sie begrüßt mich mit einem Kuss.

„Kommt der Alex auch?“, brüllt sie.

„Der kann nicht.“

Ich weiß, dass sie sich über seine Abwesenheit freut. Normalerweise ist Alex immer da, wo ich bin. Sie mag Alex nicht. Sie sagt, er ist ein Angeber und Mitläufer.

„Warum war er die Woche eigentlich nicht in der Schule?“

„Weiß nicht.“

„Wie, du weißt es nicht? Er ist doch dein bester Freund.“

„Ich weiß es aber nicht“, antworte ich, so wie ich es ihm versprochen habe.

Außer mir haben alle Spaß. Hannah tanzt und lacht mit ihren Freundinnen, worüber, weiß ich nicht. Ich würde das auch gerne können, einfach so über alles und nichts lachen können. Ich versuche, mit Hannah zu tanzen, doch immer kommt eine Freundin dazwischen, die ihr etwas erzählen muss und sie von mir wegzieht. Ich fühle mich überflüssig, unsichtbar, als wäre ich Luft. Nur die Ellbogen, die mir die anderen in meinen Körper rammen, erinnern mich daran, dass ich existiere, mit Armen, Beinen, Bauch, Herz, Kopf, Arsch.

Ich schaue auf mein Handy. Alex hat mich zweimal angerufen und mir drei Nachrichten geschrieben.

Wie geht’s?

Können wir heute noch telefonieren?

Oder morgen? Ich brauch wen zum Reden.

Ich drücke die Nachrichten weg. Alex will nur über seine Probleme sprechen, dabei ist er schon bei einem Therapeuten, ich verstehe nicht, warum ich da zusätzlich herhalten muss. Mich zieht das nur runter. So weit, dass ich nicht weiß, ob ich mich von dort wieder aufraffen kann. Ich habe nicht vor, ihm zu antworten.

Ich bestelle eine Runde Tequila. Ich will so viel trinken, bis ich die Kontrolle verliere, nicht mehr klar denken kann und Alex vergesse. Hannah trinkt mit. Einer ihrer Freunde setzt aus.

Ich frage ihn: „Wieso?“

„Ich hab genug“, sagt er.

Ich verdrehe die Augen, stelle ihn als Langweiler hin, sage mit lallender Stimme: „Bist du schwul oder was?“

Die anderen lachen, Hannah verdreht die Augen, das kackt mich an. Sie soll mich lustig finden, ich will der lustigste Typ sein, mit dem sie je zusammen war.

Vor zwei Wochen habe ich ihr zum ersten Mal ich liebe dich gesagt. Sie hat es erwidert. Ich hab es danach nicht mehr gesagt. Sie auch nicht.

Der Barkeeper nimmt nur die Mädels dran. In ihren kurzen, weit ausgeschnittenen Kleidern beugen sie sich zu ihm, sie lernen gerade, auf Stöckelschuhen zu gehen, sie sind gerade mal halb so alt wie er.

„Kannst du mir auch was bestellen?“, frage ich die Blonde, die ein bisschen so aussieht wie Hannah, nur mit längeren Haaren und einen halben Kopf größer.

„Klar“, sagt sie und lächelt. Da sind wir auch schon im Gespräch. Im normalen Leben, also nüchtern und unter Tags, würde das nie passieren. Da redet man keine fremden Menschen an, egal wie durstig man ist oder wie dringend man etwas braucht. Doch in der Nacht gelten andere Regeln. Da spricht jeder mit jedem, da gibt es keine Grenzen.

Ich mache einen Witz. Sie lacht.

Ihre Hand liegt auf der Theke, gar nicht so weit weg von meiner. Ich könnte sie berühren, wenn ich meine Finger weit genug ausstrecke. Ich überlege sie zu küssen, um herauszufinden, ob ich noch Chancen beim anderen Geschlecht habe. Nur für den Fall, dass Hannah sich eines Tages nicht mehr für mich interessiert.

Plötzlich greift mich jemand von hinten an. Ich zucke zusammen.

Es sind Moritz und Alina, Freunde. Moritz drückt mich an sich heran und klopft mir zweimal auf die Schulter. Kaum macht er einen Schritt zurück, steigt mir ein süßlich chemischer Duft in die Nase. Alina packt meinen Nacken, zieht sich zu mir hoch und gibt mir einen Kuss auf die Wangen, links, rechts.

Wir sind jetzt in diesem Alter, wo wir uns zur Begrüßung nicht mehr Winken können. Seitdem wir in der Tanzschule sind, fassen wir uns alle mehr an, so als würde uns das zu besseren Freunden machen. Ich verstehe nicht, warum die Leute nicht zumindest vorher fragen können, ob man das will.

„Hannah sucht dich“, sagt Moritz. Ich nicke der Blonden zu, wir entfernen uns, verlieren uns aus den Augen, wahrscheinlich für immer.

Hannah und ich sind auf dem Heimweg, sind zehn Meter vom FIASKO entfernt. So heißt die Bar, die der Grund ist, warum es Alex schlecht geht. Das FIASKO ist klein, stinkt nach Kotze und Putzmittel. Leute in meinem Alter gehen da nicht hin. Da sitzen nur ein paar alte Alkoholiker, denken sie, und das stimmt auch.

Ich muss Hannahs Hand loslassen. Ich versuche, ruhig zu bleiben.

„Ist was?“

„Alles gut“, sage ich, als wäre das eine normale Bar, die mir nichts bedeutet, so wie jedem normalen Jugendlichen auch. Alex wäre da nicht reingegangen, hätte ich es nicht vorgeschlagen.

Es ist drei Uhr morgens, als ich die Tür aufsperre. Meine Eltern lassen mich kommen und gehen, als wäre ich ein Erwachsener, der selbst für alles Verantwortung übernehmen kann. Dabei bin ich erst sechzehn und sollten sich Eltern nicht immer um ihre Kinder Sorgen machen müssen?

Du musst sagen, wenn dich etwas stört, haben sie früher gesagt.

Wir können über alles reden.

Wir sind immer für dich da.

Doch sie schlafen.

Hannah kriegt ein T-Shirt von mir. Ohne Zähne zu putzen, legen wir uns ins Bett. In der Dunkelheit beginne ich sie zu küssen.

„Ich will schlafen“, sagt sie. Ich will die Zurückweisung nicht hinnehmen, bekomme Panik, dass etwas zwischen uns nicht mehr stimmt. Wir sind doch noch zu jung, um es nicht zu tun, weil wir müde sind, also küsse ich sie weiter. Sie versucht, meine Hand von ihrer Unterhose zu drücken, doch es ist nur ein leichter Widerstand und irgendwie erregt mich das auch. Ich bin stärker, die Gewissheit erleichtert mich. Ich presse meinen Körper gegen ihren. Sie weiß, dass sie mitmachen muss. Je länger sie sich ziert, desto länger wird es dauern. Also macht sie mit. Kurz verzieht sie das Gesicht, als würde ich ihr wehtun. Ich glaube nicht, dass Hannah weiß, was Schmerzen sind.

Nachdem ich gekommen bin, nehme ich sie in den Arm. Sie liegt auf dem Rücken und starrt nach oben an die Decke. Sie schmiegt sich nicht zu mir. Wahrscheinlich denkt sie jetzt, dass ich ein Arschloch bin und wahrscheinlich hat sie damit auch recht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie mich verlässt. Ich versuche, sie zum Lachen zu bringen, sie reagiert nicht und dann höre ich mich sagen: „Ich sag dir, warum Alex nicht in der Schule war. Aber du musst versprechen, dass du es niemandem erzählst.“

Sie dreht sich zu mir.

„Er darf wirklich nicht wissen, dass ich dir das gesagt hab.“

„Ich sag nichts.“

Sie schaut mich mit ihren großen blauen Augen an, mit denen sie Alex immer verächtlich angesehen hat, wenn ihr sein großes Gerede auf die Nerven ging, und wahrscheinlich wird sie ihn jetzt nie wieder so ansehen, weil sie dann immer daran denken wird, was Alex doch eigentlich für ein armseliger Typ ist.

„Wir haben uns letzten Mittwoch aus dem Haus geschlichen. Wir sind in so eine Bar und haben literweise Whiskey Cola getrunken. Da war so ein Typ, der hat uns auf alles eingeladen.“

Ich habe Angst, dass sie meine immer dünner gewordene Stimme richtig deuten kann und erkennt, wo die Geschichte einen Fehler hat. Aber einmal angefangen, gibt es kein Zurück.

„Die Bar hat um zwei Uhr zugemacht. Der Typ hat gemeint, wir sollen noch zu ihm kommen, weiter Party machen. Der war sicher schon vierzig oder so. Ich bin sofort nach Hause, Alex ist mitgegangen. Sie haben noch Wein getrunken und plötzlich haben sich seine Beine taub angefühlt. Er wollte gehen, konnte sich aber nicht mehr richtig bewegen. Der Typ hat ihn aufs Bett geworfen … Den Rest kannst du dir denken.“
„Dann hat er Alex…“
„Ja.“

Meine Beine zittern. Sie schweigt.

„Hat er ihn angezeigt?“, fragt sie dann.

„Nein. Er kann nicht.“

„Wie, er kann nicht?“

„Na, weil er sich schämt.“

„Scham hin oder her, der Typ gehört angezeigt, sonst lauft der weiter rum und macht das vielleicht wieder.“

„Das ist nicht so einfach.“

Schweigen.

„Er kann froh sein, dass er dich hat. Der braucht jetzt ganz dringend wen, mit dem er darüber reden kann. So was darf man nicht verdrängen, sonst holt einen das irgendwann ein.“

Ich gebe ihr recht. Sie schmiegt sich zu mir. Ich werde ihr nie erzählen, dass ich nicht direkt nach dem FIASKO nach Hause gegangen bin. Ich schaffte es erst später so wie Alex auch.

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Carolina Reichl

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