Der Krieg mit den Käfern
Über den penibel gepflegten Rasen hinweg und vorbei an drei Gartenzwergen – der ganz rechts entblößt schamlos sein Hinterteil – höre ich die Schwengelpumpe im unermüdlichen Takt ächzen. Zug um Zug füllt sich der 10-Liter-Bauch der Plastikgießkanne, deren hellgrüner Tülle sich dabei ein hallendes Gurgeln entringt. Mit dem Handschuhrücken meiner Linken wische ich mir Schweißperlen von der Stirn und bin verblüfft, welch angenehm kühlende Wirkung der Klang von plätscherndem Wasser hat. Das akustische Wohlgefühl verflüchtigt sich allerdings bereits im nächsten Moment, denn während ich den bockelharten Lehmboden mit einer Handhacke bearbeite, weiß ich, ganz tief in mir drin, kniend vorm Gemüsebeet, dass ich im Begriff stehe, den Krieg gegen die Käfer endgültig zu verlieren. Beim Anblick meiner kümmerlichen, zu grauen Bällchen verschrumpelten Tomaten ist mir zum Heulen zumute; mehr aus gekränktem Stolz denn aus echter Trauer. Eine heranwehende Frühnachmittagsbrise ist durchsetzt mit dem Geruch nach gegrilltem Fleisch, Feueranzünder und drohender Niederlage. Ich beiße meine Zähne so fest zusammen, dass meine Kiefergelenke sandig knirschen. Dann drücke ich mir meine Kopfhörer ins Ohr und hacke (Only You von Yazoo auf voller Lautstärke) rachsüchtig weiter, verfalle unmerklich in den Rhythmus der Pumpe im Nachbargarten. Auge um Auge, Fühler um Fühler, ihr kleinen Wichser.
In irgendeiner Illustrierten, die ich einmal in einem stickigen Wartezimmer durchgeschaut haben muss, stand, dass sich alle Zellen im Körper eines Menschen innerhalb von sieben Jahren einmal komplett erneuern. Krass!, habe ich einen ganzen Augenblick gedacht und dann weitergeblättert zu Artikeln über das Mikroklima spröder Kopfhaut, die fünf besten Haftcremes auf dem aktuellen Markt und den anlaufenden Vorbereitungen zur Feier von Florian Silbereisens 40. Geburtstag. Jetzt, da ich aus der aufgelockerten Erde widerspenstige Hahnenfußausläufer ziehe (aus den Augenwinkeln verstohlen nach Eigelegen an runzelig gelbe Blattunterseiten Ausschau haltend), muss ich wieder daran denken. Schon seltsam. Da vollzieht sich im eigenen Inneren, im intimsten Intimbereich, so ein fundamentaler Wandel, aber man bekommt nicht die leiseste Spur davon mit. Wenn es nach den sieben Jahren wenigstens einen hervorspringenden Clown mit Konfettiregen, einen Fanfarentusch, zumindest einen lauten Knall gäbe. Oder ein elektrisch summender Neonröhrenschriftzug, der aus heiterem Himmel über dem Kopf aufploppt und sich in vor Staunen aufgerissenen Augen spiegelt: Herzlichen Glückwünsch! Sie sind ein rundum neuer Mensch! Gehen Sie über LOS, aber ziehen Sie rein gar nichts! Mehr Glück bei nächsten Mal!
„Na“, reißt es mich lautes Rufen jäh aus meinen Gedanken, „heute mal kein Schwarztee?“ Vor der unbarmherzigen Julisonne zeichnet sich unvermittelt die klar umrissene Silhouette eines Mannes mittleren Alters ab. Ich nahm die Hacke von der rechten in die linke Hand und überlege, ob ich knien bleiben oder höflicherweise aufstehen soll. Ich entscheide mich widerwillig für letzteres. Beim Erheben ziehe ich die Kopfhörer betont langsam aus meinen Ohren, atme geräuschvoll durch die Nase ein, schaue ihm erst dann ins beschattete Gesicht. Mit spitzem Mund antworte ich bündig: „Nein, heute nicht.“ Der niedrige Jägerzaun reicht Herrn Schulz gerade bis zur Mitte der stämmigen Oberschenkel. Von da ab aufwärts trägt er eine Art knapper Jeanshotpants, die vom ständigen Waschen schon ausgeblichen ist, ein weißes T-Shirt, unter dem sich die fortgeschrittenen Konturen eines drallen Bauchs wölben, und einen Fischerhut in den Deutschlandfarben. Auf seinen vollen Lippen liegt ein süffisantes Lächeln, aber seine blauen Augen leuchten freundlich, geradezu herzlich.
Dass etwas in meiner Gartenparzelle vor sich ging – genau genommen in meinem Kräuter- und Gemüsebeet – erkannte ich weniger am Regen, der jedes Jahr ein unmerkliches Stückchen dürftiger ausfiel, oder am Farbton des Bodens, der aus irgendeinem Grund Sommer für Sommer einen Hauch blasser zu werden schien; viel mehr kündete das plötzliche Auftauchen der Heerscharen von Käfern biblischen Ausmaßes von einer bisher unbemerkten Veränderung. Ich weiß noch genau, dass ich anfangs dachte, als es nur zwei, drei waren, die ich hier und da auf Gurkenblüten fand, wie schön doch die schwarzen Chitinpanzer mit der feinen weißen Musterung in der Sonne glänzten. Pittoresk hatte ich am gleichen Abend zu meiner Mutter am Telefon gesagt, dazu etwas von Artenvielfalt und NABU gesülzt. Heute schelte ich mich jeden Tag dafür: Pittoresk am Arsch, du blöde Kuh! Hätte ich damals schneller gehandelt, wäre es vielleicht nie so weit gekommen, sicherlich nicht so schnell. Im ersten Jahr befielen sie nur die Gurken, im zweiten vernichteten sie zusätzlich meine gesamte Zucchiniernte, dieses Jahr sind ihnen schon drei Tomatenstauden zum Opfer gefalle. Besser gesagt: Fallen ihnen zum Opfer; und über dem blutrünstigen Präsenz dräut düsterer noch das Futur. Letzten Sommer habe ich schließlich drei besonders fette Exemplare eingetütet und bin, meinen Bedenken und Hochmut zum Trotz, mit der Bahn zu meiner Exfreundin gefahren, die als Biologie-Doktorandin kürzlich eine Anstellung an einer nahen Universität gefunden hatte.
„Nezara viridula! Und was für gesunde Kerlchen auch noch, putzmunter!“ Für ihre wissenschaftliche Euphorie hätte ich ihr am liebsten einen der Schüttelkolben über den Kopf gezogen, die in allen erdenklichen Größen und Graden der Verkalkung neben Plastikterrarien und Blumentöpfen im kleinen Büro wie wahllos verteilt herumstanden. Begnügt habe ich mich dann aber mit einem zwischen Schneidezähnen hervorgepressten, trennscharf in zwei Silben zerlegten: „San-dra!“ „Gemeinsam mit dem Buchsbaumzünsler und der Kirschessigfliege zählt die Grüne Reiswanze wohl zu den größten Gewinnerinnen des Klimawandels.“ „Aber die sind doch ganz schwarz mit ein paar weißen Pünktchen, überhaupt nicht grün,“ bringe ich, meinen linken Arm an den Körper gelegt und an den Fingernägeln meiner rechten Hand kauend, kleinlaut vor, ziehe meine Augenbrauen gekräuselt zusammen. „Auch Südliche Stinkwanze genannt,“ Sandra wirft mir dabei einen Seitenblick zu, „ist die Grüne Reiswanze eigentlich in der Gegend um das Mittelmeer beheimatet und bevorzugt ein mediterranes bis subtropisches Klima. Durch die stetig steigenden Temperaturen und begünstigt durch die rapid schmelzende Eisschicht in den Bergen ist ihnen jedoch vor ungefähr zehn Jahren erstmals eine Alpenüberquerung geglückt. Seitdem dehnen sie als hochgradig invasive Art und sogenanntes Neozoon ihr Verbreitungsgebiet immer weiter nach Norden aus. Hier hast du drei schwarz gefärbte Nymphen, später als ausgewachsene Imago werden sie grün beziehungsweise braun im Winter. In allen Entwicklungsstadien stechen sie, als wählerisch kann man sie daher wirklich nicht bezeichnen, diverse Pflanzen, Samen und Triebe an, was für die befallenen Pflanze meist zu einer letalen Pilzinfektion führt.“ Ganz große Klasse, denke ich mir mit einem Stapel Papiere von Sandras Schreibtisch zornig Luft zufächelnd, ein sechsbeiniger Hannibal ante portas. Ich schaute zu den ausgeschalteten Neonröhren an der grauen Decke auf, kratze meinen Hals: „Was kann ich jetzt gegen die unternehmen?“ „Nun, du könntest es natürlich mit der chemischen Keule versuchen. Oder,“ mit ihrem Daumen schob Sandra die Krümel des Streuselkuchens, den ich als Geste des guten Willens mitgebracht hatte, zu einem säuberlichen Häufchen zusammen, und fuhr in einem Ton fort, der irgendwo zwischen Häme und Genuss lag, „du wartest bis es durch vermeintliches Nahrungsüberangebot zu einer Vermehrungsexplosion kommt, dann saugen sie sich selbst ihre Lebensgrundlage weg und verhungern letztlich.“ Sie schaute aus dem Unifenster in die Ferne, spielt sich gedankenabwesend an ihrem blonden Pferdeschwanz. „Danke, Sandra. Ich ruf dich an.“ Als ich gerade mit einem schwer zu beschreibenden Gefühl zur Bürotür hinauswollte, hörte ich hinter mir: „Und was ist mit denen hier?“ Sie deutete mit einem Stift auf die durchsichtige Zippertüte samt derer fidelen Insassen. Ich ging die wenigen Schritte zum Schreibtisch zurück und ließ meine Faust in einem einzigen fließenden Bogen auf die Tüte niederfahren. „Ich mache keine Gefangenen.“ Aus den drei aufgeplatzten Nymphenkörpern quoll gelb-beiger, zähflüssiger Schmodder und durch den Aufschlag war der kleine Berg aus Kuchenkrümeln zusammengestürzt.
Im Anschluss hatte ich es mit den unterschiedlichsten Hausmitteln und geheimen Wunderwaffen versucht, über die selbst in online-Gärtnerforen nur mit vorgehaltener Hand spekuliert wurde: Ich hatte Backpulver ausgestreut, mit schalem Bier gefüllte Fallgruben ausgehoben oder auch einen kostspieligen Kupferzaun in Miniaturgröße aufgespannt. Mein Leben bestand nur noch aus einer Verkettung von Finten, Gegenangriffen und verdeckten Offensiven; nur half alles nichts, die Käfer waren zähe, unerbittliche Gegner. Letzt Woche hatte ich schließlich mein gesamtes Beet plus Hecke in einer letzten verzweifelten Aktion stundenlang und literweise mit abgekühlten Schwarztee besprüht; sehr zur Belustigung von Herrn Schulz, der im Nachbargarten gerade den dritten Gartenzwerg (der mit dem nackten, leicht hinausgestreckten Hintern) zu den anderen beiden gestellt hatte. Seit drei Jahren flogen er und seine Frau, von deren stets mit einem freudigen Winken begleiteten Grußworten ich aufgrund ihres starken Dialekts noch nie auch nur ein einziges verstand hatte, im Sommer nach Rhodos. Von ihrem vierzehntägigen Strandurlaub brachten sie jedes Mal einen Gartenzwerg mit – wer weiß, wie es zu dieser idiotischen, mir gänzlich unbegreiflichen Tradition gekommen ist. Zu dritt gruppiert stehen sie jetzt im Halbkreis auf einem etwa Handbreit hohen Erdsockel, dessen Flanken Herr und Frau Schulz mit verschiedenfarbigen, den ägäischen Fluten abgetrotzten Muschelschalen hingebungsvoll dekoriert haben. In diesem Moment umflattert tänzelnd ein Paar aus Kohlweißlingen die eigenwillige Zusammenstellung aus nautischem Zierrat und leuchtend roten Zipfelmützen.
„Nein, der Tee hat leider auch nicht geholfen“, gebe ich kleinmütig, aber offen zu, halte Herrn Schulzes Blick stand. Beide Arme über dem Kugelbauch verschränkt wippt er von den Fersen auf die Zehenspitzen und wieder zurück. Seine Hüfte schwingt dabei so hin und her, dass ich in meinem Kopf unwillkürlich das wuchtige Glockengeläut von Almkühen höre. „Ich hab‘ Ihnen ja gesagt, Sie müssen was spritzen.“ „Wissen Sie, Herr Schulz“, in Kniehöhe wische ich mir ein wenig trockene Erde vom geblümten Sommerkleid, „ich bin mir da nicht so sicher, ob der Einsatz von hochgiftigen, krebserregenden Insektiziden wirklich notwendig ist.“ „Lassen Sie mich raten“, er bleibt mit dem Oberkörper vorgebeugt auf den Zehenspitzen stehen und zieht die buschigen Augenbrauen hoch, „Umweltschutz?“ Er bricht in schallendes Gelächter aus, das von Herzen kommt; sein Bauch und Adamsapfel springen glucksend auf und ab. „Passen Sie nur auf, dass Sie es den Biestern mit Tee und Gebäck nicht zu schön machen. Am Ende kommen die noch zu uns rüber!“ Während er sich hüstelnd mit der Faust auf den massiven Brustkorb klopft, weil er sich beim Lachen verschluckt hat, fällt mein neidischer Blick auf die Tomatenpflanzen der Schulzes: Pralle Tomaten, saftig, rund und fest, hängt dort eine neben der anderen schwer und appetitlich an den kräftigen Stauden. Mehr als einmal habe ich nachts wach in meinem Bett gelegen, war wie getrieben drauf und dran, in die Schrebergartenkolonie zu fahren, über den niedrigen Zaun zu steigen und alle dieser feixenden Früchtchen abzureißen. „Wissen Sie, Herr Schulz“, wie ein stupider Papagei plappere ich Sandras Worte nach, „die Grüne Reiswanze ist eine hochinvasive Art, ein Neozoon, dessen Habitat sich durch die Erderwärmung minütlich, ja selbst in diesem Moment, da wir hier reden, ausbreitet. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis sie auch bei Ihnen ist.“ „Oooh“, er hebt die schwieligen Hände, als würde ich eine geladene Pistole auf ihn richten, „der Klimawandel. Die Trixie hat gesagt, der wäre nur eine Erfindung der hysterischen Klimanazis und Gendergagaisten“, er schnalzt geräuschvoll mit der Zunge, trommelt mit den Fingern an beiden Oberarmen, „Wählen würde ich sie natürlich nicht, aber die Frau redet schon Tacheles, das muss man zugeben, nennt die Dinge beim Namen. Die hat Chuzpe, hätte man früher gesagt, Chuzpe! Und intelligent ist sie, kann gescheit reden, erinnert mich manchmal ein bisschen an Sie!“ „Hören Sie, Herr Schulz, die wohl letzte Person auf diesem Planeten, mit der ich verglichen werden will, ist eine Beatrix von…“ Meinen Einwand überhört er und kommt jetzt richtig in Fahrt: „Das Klima hat sich geändert, ja, aber nicht das Wetter, das ist einfach nur sommerlich. Und Hitzewellen“, er macht mit den Fingern Anführungszeichen in der Luft, verdreht die Augen, „gab es auch schon immer. Nein, das Klima hier“, energisch zeigt er mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf den Boden, „HIER in der Kleingartenkolonie. Das gesellschaftliche Klima mein‘ ich. Früher war das ganz anders. Ja früher, da hat man gegenseitig auf sich Acht gegeben, sich ausgeholfen, war füreinander da, hat sich zugehört“, er zählt die genannten Punkte an den fleischigen Fingern ab, „Aber jetzt“, seine flach ausgestreckte Hand zischt einmal durch die Luft, sein Ehering blitz golden im Licht „ein falsches Wort und sie fallen über dich her, zack, Kopf ab. Dabei weiß man gar nicht, was jetzt schon wieder verkehrt war.“ An besagtes Früher habe ich, wenigstens in Bezug auf die Kleingartenkolonie, keine eigenen Erinnerungen: Mein Großvater väterlicherseits, zu dem ich erstmals den Kontakt herstellen konnte, als ich bei meiner Mutter ausgezogen war, hatte mir die Gartenparzelle erst vor drei Jahren vermacht – das großzügigste, zugleich aber auch nervenaufreibendste Geschenk meines Lebens. „Und neulich“, Herr Schulz rückt näher an den Zaun, schlägt einen so verschwörerisch-vertraulichen Ton an, dass ich es ihm ungewollt gleichtue, „da haben sie kurzzeitig doch wirklich die Wasserleitungen umgelenkt.“ Er deutet mit dem Daumen über seine rechte Schulter auf seine Gattin, die, eine hager, klein Frau mit sonnengegerbter Haut, bereits die dritte Gießkanne an der Pumpe füllt. „Kommt kein Wasser mehr, hat sie gesagt. Ich darauf“, er hebt Blick und Hände zum blauen Himmel, an dem zwei sich kreuzende Kondensstreifen verblassen, „dann pump eben fester, Ulrike. Tja, kam aber wirklich nichts mehr. Seit ein paar Tagen geht alles wieder tadellos. Beweisen kann ich nichts, aber ich bin mir sicher“, er legt die Rückhand an die Lippen, spricht aus dem Mundwinkel, „die da oben hatten ihre Hände im Spiel.“ „Vielleicht, Herr Schulz, liegt es auch am auffallend geringen Niederschlag. Vielleicht“, ich verspüre das dringende, fast körperliche Bedürfnis, ihm eine Lektion zu erteilen, „liegt es daran, dass es zu viele Menschen gibt, die im Unverstand rotes Fleisch essen, Berge von minderwertiger Kleidung kaufen und zu oft hirnlos um die halbe Welt fliegen.“ Halb väterliche, halb jovial entgegnet er: „Aber Sie sind doch noch so jung, Sie müssen die Welt und Ihr Leben genießen, in vollen Zügen! Packen Sie es an!“ Die Sonne brüllt von oben und ich recke, unter den Armen und zwischen den Pobacken furchtbar schwitzend, das Kinn empor: „Weil ich meinen Kindern einmal keine abgebrannte Müllhalde hinterlassen will, tue ich das eben nicht!“ Seine großen, blauen Augen strahlen großväterlich: „Kinder?! Donner und Doria. Hat da jemand etwa endlich einen anständigen Burschen kennengelernt?“ Als er mir zuzwinkert, reißt eine Saite in mir mit lautem Knall; ich kann nicht länger an mich halten und keife: „Vor allem liegt es daran, dass man den Klimawandel in zu vielen Mündern und zu wenig Köpfen finden. Das ist übrigens das, Herr Schulz, wo bei den Leuten früher“, mit den Händen mache ich Anführungszeichen in der Luft, „das Hirn saß, bevor sie es sich in irgendwelchen obskuren Telegram-Chatgruppen weggegrillt haben. Wenn die Leute noch ein Quentchen davon besäßen, hätten Sie noch genug Wasser und ich nicht dieses schwarze Geschmeiß im Garten, das unter dem schicken Panzer eigentlich“, ich kneife die Augen zusammen, „ganz braun ist.“
In Zeitlupe kann ich mitverfolgen, wie sich das breite Lächeln auf seinen Lippen gleich Zuckerwatte im Wasser auflöst und sich die Freude in seinen Augen zu einem waidwunden Ausdruck wandelt; im Hintergrund pumpt Frau Schulz indes unbeirrt weiter. Nach einer halben Ewigkeit sagt Herr Schulz schließlich: „Meine Frau und ich möchten Ihnen“, er nestelt linkisch mit Zeige- und Mittelfinger an der Gesäßtasche seiner Hose herum, „das hier geben. Wie Sie wissen, sind wir keine Studierten“, die mittlere Silbe versieht er mit besonderer Betonung, „Anders als Sie verstehen wir nichts von Ozonlöchern und Neowanzen, aber wir haben festgestellt, dass die hier ausgezeichnet gegen die Krabbelbiester helfen.“ Er macht eine kurze Pause, fährt dann, den Blick gesenkt, in einem leiseren, geradezu grüblerischen Ton fort: „Ich kann nicht erklären wieso, aber irgendwie hält es sie eben fern. Vielleicht der Geruch oder die Farbe oder wer weiß was.“ Über den Zaun hinweg legt er mir behutsam etwas Leichtes in die rechte Hand, das leise raschelt. Daraufhin wendet er sich um und geht, bleibt jedoch nach ein paar Schritten abrupt stehen und sagt, ohne sich umzudrehen: „Wissen Sie, Sie brauchen nicht zu glauben, Sie wären die Einzige, die sich Sorgen um die Zukunft macht.“ Seine Stimme klingt weder gekränkt noch versöhnlich, sondern einfach nur nüchtern, durch und durch sachlich. Im Fortgehen huscht über Herrn Schulzes Körper ein Schwarm Schattentupfer, die die Blätter an den Ästen des alten Kirschbaums in seinem Garten werfen. Da kein Wind geht, verharren sie, nachdem er aus meinem Blickfeld verschwunden ist, wieder regungslos auf dem Boden. Kurze Zeit darauf wird das Pumpen eingestellt.
Ich betrachte ein sorgfältig aus weißem Brotpapier gefaltetes, dreieckiges Tütchen auf meinem Handteller. Darauf hat jemand mit wenigen grünen und orangenen, fein geschwungenen Linien eine stilisierte Blume gemalt, die ihre Blüte leicht zur Seite neigt. Darunter steht in überraschend eleganter Schreibschrift Ringelblumensamen und für eine Weile hört man nichts als das Sirren von vorbeifliegenden Bienen und metallisch blitzenden Schmeißfliegen. Wie vom Donner gerührt fällt mir auf, dass ich immer noch die Hacke in der linken Hand halte. In der unerträglichen Hitze weiß ich nicht, was ich fühlen oder tun soll; mein Kopf scheint zum Bersten mit einer übelriechenden, gasartigen Substanz gefüllt. Als mein müder Blick auf den sonnendurchglühten Rasen fällt, sehe ich, wie sich ein einzelner Käfer meinen Füßen nähert. Sein pittoresker Panzer mit dem weißen Muster glimmt in der Nachmittagssonne und seine Beinchen sehen aus wie die langen Wimpern einer Kuh.
Nach den Tomaten werde ich die nächste sein, das ist mir jetzt klar. Aber – ich setze meinen Fuß ein paar Zentimeter nach vorne und vernehme, vielleicht auch nur im Geiste, ein feuchtes Knacken – nicht heute.
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