freiTEXT | Sebastian Franz

Leipheim-West

Stahlgraue Sonnenstrahlen brechen an der Wohnblockwand. Dein Red-Bull-geschwängerter Atem kondensiert in der Morgenluft, und wir teilen noch den letzten Rest, um auszuharren. Zwei Schluck Smirnoff, drei Züge Luckies, alles was wir haben. Das war damals schon so. Damals sind wir oft hier hergekommen. Damals waren die Schaukelbretter noch aus Holz. Doch ihr Abstand beträgt noch immer exakt zwei Armlängen. Dein Rechter plus mein Linker. Im Wind kann ich kaum hören, was du mich fragst, deshalb lächele ich nur. Du lächelst zurück. Wir sind uns einig. Das war damals schon so.

Damals, als du Jahrgangsbeste warst und dein Vater mich fast durchs Abi hat fallen lassen. Als wir doch nicht zusammenkamen, weil du mich auf Abschlussfahrt mit der Schwedin erwischt hattest und ich so zum Glück niemals mit diesem Bastard von Mathelehrer gemeinsam frühstücken musste.
Alva.

Wie so oft nach der Night Lounge, sitzen wir jetzt auf unserer Schaukel, umgeben von ockermelierten 24-Parteien-Blocks und der Südumfahrung Leipheims. Zwischen alter US-Air-Force-Grundschule und ehemaligem Mannschaftsunterkunftsgebäude 5, wo alles zum ersten Mal geschah: Knutschen, rauchen, kiffen, saufen, ficken, kotzen. Und du warst ein jedes Mal dabei.

Ich stoße mich vom Boden ab und frage mich, ob das noch Sand ist oder mittlerweile eine Melange aus Dönerfleisch, Galle und Wodka-O.
…Wenn wir kommen, bist du Opfer tot… scheppert aus deinen Handyboxen und ich muss grinsen. Scheiß auf Schule, scheiß auf Uni, das ist wie Fahrradfahren, nein, wie zu Fuß zu gehen.
…Ich brauch´ nur ein Blatt Papier, um in der Juice zu stehen… Ich kenne noch jedes verdammte Wort. Ich kenne verdammt nochmal dich und könnte heulen vor Romantik.

Ein altersschwacher Transporter müht sich am Leipheim-West-Schild vorbei auf die Südumfahrung. Leipheim-West. Warum ist das eigentlich im verdammten Süden Leipheims? Heißt ja auch Südumfahrung und wir Gymnasiasten haben die alten Kasernen früher die Southside genannt. Außerdem ist das hier einfach Süden - wie Süden auf einem scheiß Kompass. Wer denkt sich überhaupt einen Namen aus, für die Kreisverkehrsausfahrt der Umgehungsstraße einer 7000-Einwohner-Stadt? Drecks CSU. Nachdem die Kupplung ein letztes Mal stottert, höre ich dich zwischen zwei Zügen sagen: „Du hattest es mir versprochen. Du bist echt ein Arschloch.“

Toni hatte mir in der zwölften Klasse auch was versprochen. Dass er das Abi mit mir durchzieht und dann weg von hier. Das Koksen sei ein Ausrutscher gewesen. Und jetzt? Ich kann genau sehen, wie blaues Licht durch die versifften Vorhänge im vierten Erdgeschossfenster wabert, male mir aus, wie seine Körperhülse vor der Playstation verkommt. Ein Leben zwischen Steinofen Original und Methadonstelle. Der Junge hat mal Jugend forscht gewonnen, also hier in Bayern. Trotzdem konnte man auf sein Versprechen nur soviel geben, wie auf deine Einladung nach München, in eure Giesinger Mansardenwohnung, die zumindest groß genug für das erste Kind sei, wenn dein Consultinghurensohn nicht mehr jede Woche auf das Projekt in Düsseldorf muss.

Im Augenwinkel erkenne ich Gerda, die ihre erste Runde dreht.
„Da ist kein Pfand drauf“, rufe ich.
„Dann räumt euren Scheiß selber weg!“
„Leck mich!“
Die Alte flucht etwas in die letzten Nebelfetzen und verschwindet dann irgendwo.

Glasklare Sonnenstrahlen wärmen die Wohnblockwand. Wir kennen uns seit der ersten Klasse, hassen uns seit der ersten Klasse, lieben uns seit der ersten Klasse und ich frage nur:
„Kommst du nächstes Jahr wieder aufs Klassentreffen?“
„Nur, wenn du mich nicht küsst.“
„Versprochen.“

 

Sebastian Franz

 

freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>


freiTEXT | Julia Knaß

Vergessene Orte

„Auf uns, hatte man ja vergessen, abgelegt, unser Tal, keine ordentlichen Straßen, hin, auf uns, da hat keiner geschaut, war allen egal, was mit uns passiert, wir waren ja nicht wichtig, früher, nichts haben wir gehabt, das können Sie sich jetzt gar nicht mehr vorstellen, da bleibt die Jugend dann nicht, wenn es keine Arbeit gibt, auf uns, haben sie vergessen und dann ist er gekommen, da hat sich dann was geändert, da wurde dann endlich was für uns getan. Da hatten wir dann jemand, ihn, der auch auf uns gedacht hat, das darf man nicht vergessen, das muss man auch verstehen, dass das nicht alles so einfach war. So wie sie ihn jetzt schlecht reden, dass stimmt ja so alles nicht, das muss man doch auch sehen, dass er jemand war, der auf uns gedacht hat, das darf man wirklich nicht vergessen, das nicht“, aber sonst, ja, sonst soll man die Vergangenheit ruhen lassen, so sagt diese Talbewohnerin, die sich mit ihrer Wehklage an das Dirndl in dieser Geschichte wendet, also an unser Dirndl. Sie sagt ihm auch, unser Dirndl sei noch viel zu jung, um das zu verstehen, die ganze Geschichte. Aber nicht nur die Talbewohnerin, nein, wirklich alle in diesem Land sagen, dass man das jetzt endlich alles vergessen solle. Wollen selbst nicht vergessen werden, ja, aber die Vergangenheit, die soll man doch bitte in Frieden ruhen lassen, nicht? Die hat doch schon genug mitgemacht, die muss man doch jetzt nicht immer und immer wieder ausgraben. Aber wo, wo ruht sie denn, die Vergangenheit? Ja, wo haben wir sie denn, begraben? Wir wissen es doch eigentlich alle ganz genau, wo, alle wissen wir es ganz genau, weil wir jeden Tag darüber gehen, jeden Tag von neuem über die Leiche. Aber wir versuchen, das zu vergessen, versuchen, uns genauso zu vergessen, so wie die Orte vergessen sind, die Orte, die wir unsere Herkunft, unsere Heimat, unsere Ursache nennen müssen.

„Wo hat es dich hinverschlagen?“,

schreibt der Thomas dem Dirndl und es antwortet: „It’s kind of a funny story“, obwohl es das nicht ist und „in deine Heimat“, obwohl sie das für ihn ja doch nicht ist. Es ist jetzt dort, wo man noch immer mit Stolz darüber singt, wie man damals mit Blut die Grenze schrieb und er glaubt dem Dirndl zuerst nicht, weil er es dann doch so gut kennt und weiß, dass das nicht so vorgesehen war, nicht der Plan vom Dirndl: seine Heimat. „Was machst denn in Kärnten? Was machst du denn?“ und es erzählt ihm, dass es nicht so einfach war, nach dem Studium einen fixen Job zu finden und dass es sich einfach überall beworben hätte und so wäre es hier gelandet.

Früher oder später müssen wir darüber reden, warum das Dirndl ihm wieder geschrieben hat und über das Verhältnis der beiden zueinander. Tatsächlich ist es so, dass es hin und wieder an ihn gedacht hat und dass es dann wissen wollte, ob er das auch noch tut: an es denken. Das weiß es nun, weil er dem Dirndl nicht nur geantwortet hat, nein, er hat ihm sofort geantwortet und er hat es auch sofort gefragt, ob sie sich wiedersehen können, weil er zufällig bald in seine Heimat fahren würde. Das freut das Dirndl und es versucht, die Spinnweben und die Weberknechte aus seiner Wohnung zu entfernen, weil die sich ausbreiten, alles einnehmen, sobald es mal nicht hinschaut. Sonst versucht es nicht einmal mehr, dagegen anzukommen, gegen die klebrig gespannten Fäden, gegen den Staub, gegen den Dreck.

Hier bleibt nichts

unbemerkt. Als der Thomas mit seinem Wagen die Auffahrt hochfährt, kann unser Dirndl beobachten, wie sich die Vorhänge der Nachbarin bewegen, gleich wie sich die Vorhänge bewegen, wenn es in der Früh zur Arbeit fährt, wenn es am Abend von der Arbeit nach Hause kommt, wenn es im Winter Schnee schaufelt. Keinen Schritt kann es hier setzen, ohne dass es jemand weiß. Für unser Dirndl geht es ja noch, es ist nur aus einem fremden Bundesland gekommen. Es wird nur mit Blicken verfolgt, das wird es wohl aushalten, unser Dirndl. Anders ist es, wenn man aus einem fremden Land kommt, dann bleibt kein Schritt undokumentiert, mit Fotos, mit Videos, mit Postings im Internet: „Haben’s das gesehen, jetzt war schon wieder die Rettung bei der Unterkunft“ – „Haben’s das gehört, die sollen junge Frauen angegriffen haben“ – „Das sind ja alles Kriminelle, die sie da ins Land gelassen haben, die sollten besser in ihren Heimatländern im Osten bleiben, wo genug Platz ist, aber das versteht das linke Gsindel in Wien ja nicht, dass man da was dagegen tun muss, als guter Bürger, als Österreicher. Die passen nicht in unsere Kulturlandschaft, die Flüchtlinge.“ – „Die Wölfe, die passen nicht in unsere Kulturlandschaft. Da muss man ja was tun, als guter Jäger, als Österreicher. Aber das verstehen die Gutmenschen in Wien ja nicht, dass man da was dagegen tun muss, das sind wilde Raubtiere, die sie da ins Land gelassen haben, die sollten besser in ihren Heimatländern im Osten bleiben, wo sie genügend Platz haben.“ – „Haben’s das gehört, die sollen junge Kälber auf der Alm angegriffen haben“ – „Haben’s das gelesen, jetzt war schon wieder ein Wolfsriss in dem Wald“. Wenn man von einem fremden Land kommt, dann wird jeder Schritt verurteilt, nichts bleibt hier, nicht? Auch der Thomas ist nicht geblieben, er hat es nicht ausgehalten, deswegen ist er nach Wien gegangen.

Sie haben nicht darüber gesprochen, wie lange er bleiben kann, aber er hat seine Tasche mit und später, als sie sich hinlegen, schaut er einen Film, während es einschläft, genauso als hätten sie einen gemeinsamen Alltag. Und am nächsten Tag richtet es das Frühstück am Balkon, weil es warm genug ist. Der Thomas fragt das Dirndl, wie es das aushält, weil er könnte das nicht mehr. Und es meint, naja, es ginge schon. Unser Dirndl weiß schon, es müsste viel stärker widersprechen, wenn die Leute hier sagen, dass Homosexuelle nicht heiraten dürfen sollten oder wenn sie witzeln, dass man nach #metoo ja nichts mehr sagen dürfe und dann einen sexistischen Schmäh nach dem anderen reißen. Am Anfang, da hatte es noch dagegengehalten und erklärt und dagegengehalten und erklärt. Aber seit es hier ist, verändert sich die Sprache schleichend, vergessene Wörter fluten vermehrt zurück in die Köpfe. Darin ertrinkenden Gehirnen ist es wieder möglich, laut zu sagen: „Meine Wohnung will ich aber nur an Inländer vermieten“, weil es ist ja auch möglich, laut zu sagen, dass man geflüchtete Menschen konzentriert halten wolle, nicht? Weil „dass ist ja schon so lange her, das hat ja nichts damit zu tun, da denkt doch keiner mehr dran, an diese Zeit, das haben doch schon alle vergessen, da wird man gewisse Wörter doch schon wieder sagen dürfen.“ Und geflüchtete Menschen, die werden schon nach wie vor untergebracht, aber am liebsten weit weg von den Ortskernen, abgelegen, sind ja gut um die sinkenden Bevölkerungszahlen aufzubessern, aber sichtbar wolle man sie nicht haben, vergessen wolle man, dass die da sind. Unser Dirndl hat längst damit aufgehört, den Mund aufzumachen, weil es zu mühsam ist, weil es ja doch nichts bringt, weil es dem Dirndl schon lange nur mehr ums eigene Überleben geht. „Manchmal hoffe ich, dass ich eines Tages laut schreien werde“, sagt es. Aber wir wissen alle, dass unser Dirndl keine Stimme hat dafür. Das Dirndl ist einfach keine Kämpferin, das Dirndl will das alle es mögen, das Dirndl ist schwach und ruhig und nett. Das Dirndl ist ja ein liebes Mäderl, „das viel zu gut ist für die Welt“. Immer will es allen gefallen, unser Dirndl, deswegen lässt es sich auch alles gefallen.

Er schaut in die Sonne,

während er unserem Dirndl zuhört, und dann fragt er es: „Was können wir tun, damit du nach Wien kommst, Lisa?“ Weil er weiß schon, dass das auch der Plan vom Dirndl war: seine Stadt. Und wir wissen noch immer nicht viel über ihr Verhältnis zueinander, aber wir wissen, dass er vorher zum Dirndl gesagt hat, „wenn du in Wien wärst, könnten wir jeden Tag miteinander verbringen, meine Liebe“, und wir wissen, dass das viel bedeutet. Unser Dirndl stellt sich diese Welt vor, in der es bei ihm ist, sieht sich mit ihm gemeinsam zur U-Bahn rennen und das Dirndl muss lächeln, weil es so schön wäre. Zugleich wissen wir, weiß es, das wird nicht geschehen, nur er weiß es in diesem Moment nicht und er weiß auch noch nicht, dass er es vergessen wird, so wie er seine Heimat vergessen will. Unser Dirndl wird so zum Vergessen sein, wie es diese Orte hier schon sind. Es gehört hier vielleicht nicht hin, aber es gehört eben auch nicht in seine Stadt, weil es eben nicht gehört und nicht gehört wird.

Auch Sie, geschätzte Lesende, 

werden unser Dirndl wieder vergessen, Sie werden vergessen, dass Sie je von ihm wussten, Sie werden vergessen, weil es ja „zum Vergessen ist“ werden Sie sich sagen, „es ist zum Vergessen“. Hin und wieder werden sie ans Vergessen erinnert, weil es in Österreich ja zum guten Ton gehört, dass Journalistinnen und Autoren und Journalisten und Autorinnen in regelmäßigen Abständen in die Peripherie fahren, mit dem Auftrag, sie wollen verstehen, mit dem Auftrag, das müsse man zeigen, wie schlimm das alles noch immer sei, sonst könne man es ja nicht verändern. „So schlimm ist das, unfassbar ist das, wie das 2019 noch immer möglich sein kann“. demographische Abwanderung, Alkohol, Rechtsruck, Alkohol, Hass auf Ausländer, Alkohol, Leerstände, Alkohol, Volksfeste, und dann schreiben sie vielleicht eine Reportage, nicht? Über vergessene Dörfer und Städte, am besten über einen Ort mit einem sehr, sehr rechten Bürgermeister, einem Nazi, nicht? Oder über ein Dorf, an dem es die meisten Rechtswähler, also sehr viele Nazis auf einem Haufen, in Österreich, dem Naziland, gibt, nicht? Dann erscheinen diese Reportagen, anschaulich bebildert, in Hochglanzmagazinen und die Leute, die sich von den Dörfern, also den Nazihorten, entfernt haben, können das lesen und sich moralisch erhaben fühlen, über die ganzen Nazis, und der Journalist oder die Journalistin bekommt einen hübschen Preis dafür verliehen, für diese detailgetreue Beschreibung der Nazis, für diese authentische Schilderung der Nazis, weil da muss man ja mal ganz genau hinschauen, auf die Nazis, nicht? Genauso zum guten Ton gehören Romane, in denen man sein Herkunftsland, also das Naziland, basht, in denen man ganz subtil Keller, am besten Nazikeller, einflechtet in die Geschichte. Und Nazis, Nazis, Nazis, Nazis und die katholische Kirche, also die Nazikirche, vergleicht. Man muss THOMAS BERNHARD IN A NUTSHELL sein, man muss die beste Bernhard-Imitation ever abliefern, in Österreich, dem Nazireich, man muss auf Nazi-Österreich herabsehen, man muss Nazi-Österreich verachten, und dann bekommt man auch dafür vielleicht einen feschen Preis verliehen, am besten den GROSSEN nazi-österreichischen Staatspreis, nicht? Weil staatliche Preise und Förderungen nimmt man dann schon trotzdem an, ja, man sagt sich, man leistet ja was für Österreich, das Nazireich, und für die österreichische Kultur, die Nazikultur. Man sagt sich, man trägt ja zur Bildung der Nazis bei, man trägt ja dazu bei, dass die Leute, also die Nazis, nicht aufs Vergessen vergessen. Man sei ein Bildungsträger, und dadurch ändert sich vielleicht ja was, wenn man die Bildung nur oft genug trägt, wenn man Bildung nur immer weiter anhäuft, solange bis die Leute, also die Nazis, darunter begraben sind. Da hat die Literatur dann plötzlich großen Einfluss auf die Wirklichkeit, wenn’s grad ins Konzept passt, nicht? Aber was die Beschreibung von Frauen und Beziehungen angeht, na, da schreibt der österreichische Autor dann doch lieber sexistisch und a bisserl übergriffig, weil wissen’s eh, alles andere, über moderne Beziehungskonzepte, über einvernehmlichen Sex, das wollen Sie, verehrte Leser, wollen die Leute, also die Nazis, ja net lesen. und ist doch gut, ist doch gut, wenn’s da dann drüber lachen können, wenn Mann Frauen wie Dinge benutzt, ist ja nur ein Text, ist ja nur ein Text, das hat ja nichts mit der Realität zu tun, das hat ja keinerlei, nicht die geringsten Auswirkungen auf die Wirklichkeit, nicht?

Wir sollten nie vergessen,

dass wir für Geld alles tun würden, ich, du, wir, jeder einzelne in diesem Land. Wir sollten nie vergessen, dass wir für Geld alles schreiben würden, ich, du, wir, jeder einzelne in diesem Land. Wir sollten nie vergessen, aber vergessen ist das Einzige, was wir gelernt, das Einzige, was wir wollen.

 

Julia Knaß

 

freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiTEXT | Tessa Schwartz

Flocken

Rosalía setzt einen Fuß auf den Boden, sacht. Die winzigen Steinchen auf dem Zement erst wie Flocken an ihrer bloßen Sohle, dann körnig. Als der Fußboden Form unter ihrem Fuß annimmt, als die Kühle des Zements sich von der Zehenspitze zur Ferse hin ausbreitet, fest, hält sie in der Bewegung inne. Schon entfernt sich die Sohle wieder vom festen Grund, wird emporgehoben in eine Luft, die sich nach nichts anfühlt. Der Schaukelstuhl wippt zurück. Er hält Rosalías Füße in ständiger Bewegung, ruhelos, nur ihr Kopf bleibt still im Raum stehen. Ihr Blick fixiert die Wand. Inmitten des Gewirrs abblätternder Farbschuppen, neben dem Gemälde, das einzige Bild in der Wohnung, Benno hatte es vor Jahren einem Straßenkünstler abgekauft, auf halber Höhe ein schwarzer Punkt. Ein Loch im Putz oder ein Insekt. Rosalías Blick starr. Falls es ein Insekt ist und sich entschließt, seine sechs dürren Beinchen in einem fein aufeinander abgestimmten, nie durcheinander geratenden Rhythmus zu heben, vorwärts zu bewegen, wieder zu senken, dabei den plumpen Körper mit sich zu ziehen, falls sich der schwarze Punkt bewegt, wird Rosalía es sehen. Ihre Augen sind scharf. Benno hatte ihr stets Komplimente für ihre Augen gemacht, davon gesprochen, wie tief sie ihn mit sich hinab zögen, wie hoch mit sich hinauf, und sie hatte erwidert, dass er sich vorsehen solle vor ihren Augen, denn nichts, was er tue, würde ihnen entgehen, woraufhin er bekräftigte, dass er ihre Augen liebe und er niemals etwas tun würde, sie zu trüben, und ja, er sei froh, dass sie scharf seien, denn dann würden sie sehen, dass er ein guter Ehemann sei. Und setzte eine Miene auf, die Unschuld und Verschmitztheit auf eine Art miteinander verschmolz, wie nur Benno es vermocht hatte, und dann lachten sie beide, sie mit rauchiger, er mit kichernder Stimme, und auch sein Kichern hatte sie geliebt.

Ihre scharfen Augen sind der Grund, warum Rosalía nicht so leben könnte wie ihre Nachbarin Lucía. Lucía ist übrig geblieben wie Rosalía, die Kinder in der Stadt, und hätte eines von ihnen angeboten, zu Rosalía zurückzukehren, jetzt, hätte sie sich gefreut und ihm dann die Tür vor der Nase zugeschlagen. Lucías Tür steht immer offen, um einen verirrten Windhauch anzulocken, ihn dazu zu bringen, von der Tür durch die Küche durch das Schlafzimmer zum geöffneten Fenster hinaus zu wehen und dabei ein wenig von dem Flimmern der Hitze mit sich zu nehmen, von der Hitze und von den Staubkörnchen, die auf den Sonnenbalken tanzen, welche das rissige, schräg gestellte Holz der Fensterläden in die Wohnung lässt. Auch Rosalías Wohnungstür steht tagsüber offen, so dass sie, wenn sie sich im Schaukelstuhl weit nach vorn und zur Seite beugen würde, direkt in Lucías Küche blicken könnte. Lucía hat überall Fotos aufgestellt, Fotos von Manuel mit Lucía, Manuel allein, Manuel, als er jünger war, Manuel, wie er zuletzt ausgesehen hatte. Rosalía könnte das ihren Augen nicht antun.

Die trockene Luft riecht nach nichts. Sie bietet keinen Widerstand für Fußsohlen, keinen Reiz für die Nase. Nur den Augen gibt sie etwas. Tanzenden Staub und Hitzeflimmern. Ein Flimmern, das die Welt in Bewegung versetzt, als könnte es etwas aus dem Nichts der Luft hervorbringen. Da taucht Benno im Türrahmen des Schlafzimmers auf. Er betritt den Zementboden der Küche, seine Füße sind bloß, er muss in diesem Augenblick dasselbe sich von den Zehen zur Ferse hin ausbreitende Gefühl an den Sohlen haben wie Rosalía, im nächsten Moment schon hebt er den Fuß wieder an, macht einen Schritt, noch einen, ist am Küchentisch jetzt, dreht an den Knöpfen des Transistorradios, dreht, bis die vertrauten Töne von Gitarre, Trompete und Laute die Küche erfüllen, wendet sich zu Rosalía um, blickt sie an mit dieser Miene aus Unschuld und Verschmitztheit, die nur er aufzusetzen vermag, dann tritt er an den Schaukelstuhl heran, sie ergreift seine ausgestreckten Hände, und schon schwingt er sie durch die Küche, als wären sie jung, ihre Füße wirbeln über den Zementboden, so leicht, dass sie ihn kaum berühren, nur Flocken an den Sohlen, nichts Festes, sie drehen sich, bis sich das Radio, der Tisch, die Spüle um sie herum drehen, bis alles sich dreht, und dann sinkt Rosalía in den Schaukelstuhl zurück. Die Luft flimmert nicht mehr. Die Küche ist leer. Wenn Rosalía lang genug auf einen schwarzen Punkt starrt, fängt er irgendwann an, sich zu bewegen.

 

Tessa Schwartz

 

freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>


freiTEXT | Franziska Wotzinger

derAndere

Gestern hab ich ihn gesehen, diesen Anderen. Er stand in einer Gruppe, mit ganz vielen. Viele Andere, hab ich noch gedacht. Was die wohl sagen, hab ich noch gedacht. Diese Anderen. Wie Zaunlatten standen sie da und zwischen den großen, runden Kaubewegungen meines Kiefers, pfiff ich leise Luft durch diese Latten. Als einer leicht zu schwanken begann und die anderen Anderen misstrauisch zu mir hinübersahen, hörte ich auf. Ich weiß noch ich habe mir gedacht, diese Anderen sind doch nicht so stabil, wie man gemeinhin denkt. So habe ich gedacht und meinen Apfel gegessen.

 

Franziska Wotzinger

 

freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiTEXT | Anja Christ

Flughafen CDG

Ich stehe im Ankunftsbereich von Gate 2F. Ich habe noch nie jemanden vom Flughafen abgeholt. Mir kommen Filmszenen in den Sinn. Love actually. Ja, das war’s eigentlich, mir kommen nur Szenen aus diesem Film in den Sinn. Hat das automatisch eine romantische Konnotation, jemanden vom Flughafen abzuholen, am Gate auf ihn zu warten? Vielleicht hätte ich dann Blumen mitbringen sollen. Besser Kaffee. Mit zwei Papp-to go-Bechern in der Hand warten, das hat Filmcharakter. So ein Quatsch, ich will ja gerade vermeiden, dass es romantisch wirkt. Und ich bin gegen Einwegbecher. Also stecke ich die Hände in die Manteltasche und warte. Er schrieb, er stehe gerade bei der Sicherheitskontrolle an und dann müsse er noch auf sein Gepäck warten. Mich wundert die Sicherheitskontrolle, schließlich ist das ein innereuropäischer Flug. Ich denke an das Wort „Schengen“ und daran, dass ich seinen Klang lustig finde.

Hier sind viele Leute, die warten. Sie haben diese typischen Schilder dabei, wo ein Name oder eine Institution drauf steht, Abholserviceschilder. Sowas hätte ich basteln und mitbringen können. Natürlich nur aus Spaß, denn wir kennen uns und werden uns wiedererkennen, selbst wenn unser letztes Treffen schon etwa drei Jahre her ist. Ich bemerke, dass Papierschilder out sind. Die Meisten haben ein Tablet dabei und halten das hoch. Zuerst lache ich darüber und finde das ein bisschen bescheuert. Andererseits spart man so das Papier, das man für den nächsten to go-Becher aus Pappe verwenden kann. Hat also durchaus auch seine Vorteile.

Es macht ziemlichen Spaß, am Gate zu stehen, dort ankommende und wartende Menschen zu beobachten. Vielleicht komme ich nächste Woche mit einem Schild wieder (aber eins aus Papier) und da schreibe ich irgendeinen Namen drauf und stelle mich ans Ankunftsgate und warte. Und ich würde den ganzen Tag warten und niemand käme, aber ich hätte eine wunderbare Rechtfertigung, wieso ich da stehe: Ich warte auf die Person auf dem Schild, aber sie ist noch nicht angekommen. Ein anderer Wartender würde mich ansprechen: „Sie warten auch schon ganz schön lange, hat der Flug Verspätung?“ „Ich fürchte, ja.“ Und wir würden ein paar Minuten plaudern, solange bis seine Person ankommen und er mit ihr gehen würde. Irgendwann am späten Abend würde ich resigniert mein Schild einpacken und mich auf den Nachhauseweg machen. Der Flughafenangestellte (ich wüsste nicht genau, was sein Job ist, deshalb wäre er einfach „der Flughafenangestellte“) würde mich fragen: „Niemand gekommen?“ Und ich würde antworten: „Nein, ich fürchte ich wurde versetzt.“

Ich finde, man kann zwei Typen von Ankommenden unterscheiden: einerseits die Träumer, andererseits die Realisten. Die Träumer kommen durch die sich automatisch öffnenden Türen und schauen sich um, nehmen aber die Wartenden gar nicht richtig wahr, außer sie wissen, sie werden abgeholt. Ansonsten sehen sie leicht verpeilt aus, verschlafen, verstrubbelt, etwas neben sich stehend (das sind vielleicht die von den Langstreckenflügen mit Zeitverschiebung) und nun gucken sie in die Flughafenhalle, stolpern durchs Gate in sie hinein, sind aber im Kopf noch nicht ganz da. Die Realisten andererseits, die sind sich sehr bewusst, wo sie sind. Sie blicken die Wartenden entweder direkt an, oder sie schauen mit Absicht nicht hin, weil sie sich angestarrt fühlen und ihnen das unangenehm ist. Genauso wenn der automatische Türöffnenmechanismus nicht richtig funktioniert und ihnen die Tür, kurz bevor sie hindurchgehen wollen, wieder vor der Nase zuklappt. Wenn die Tür dann doch wieder aufgeht, nachdem sie abrupt abgebremst haben, verdrehen sie genervt die Augen und gehen hindurch. Es ist ihnen peinlich, dass sie fast gegen die Tür gelaufen wären und die Wartenden das gesehen haben. Die Realisten schauen sich auch ein wenig um, aber viel flüchtiger, denn sie wollen möglichst schnell weg, um nicht weiter angestarrt zu werden. Zugegeben, diese Einteilung ist etwas grob, aber im Großen und Ganzen tragfähig. Sie trifft aber nur auf Alleinreisende zu, die von niemandem abgeholt werden.

Gerade kommt ein Pärchen an und die beiden tragen das gleiche Shirt, rot und dunkelblau gestreift. Ich hasse sowas. Aber eigentlich ist es mir egal, ich sage nur deshalb, dass ich das hasse, weil ich gelernt habe, dass das cool ist, Pärchen nicht ausstehen zu können. Ich frage mich, ob die beiden häufiger dasselbe Outfit tragen und ob sie noch mehr gleiche Sachen haben. Zahnbürsten in derselben Farbe zum Beispiel.

Ich stehe nun schon fünfzehn Minuten hier und ein gleichmäßiger Singsang hat sich in mein Hirn gegraben. Jetzt höre ich zum ersten Mal aufmerksam hin: „Taxi officiel sortie 11.“ (Ja, wir sind in Frankreich. Und obwohl ich es für prätentiös halte, Dinge in Texten unübersetzt zu lassen, nur um die Folklore nachzuzeichnen und am besten noch damit anzugeben, dass man diverse Fremdsprachen spricht, lasse ich das so stehen.) „Taksiofisiel sortiõz.“ Ich drehe den Kopf und sehe den Flughafenangestellten. Er hat eine kleine Weste an und verweist alle Neuankommenden auf den offiziellen Taxistand bei Ausgang elf. Wie lange am Stück muss er das machen? Muss man bei solch repetitiven Aufgaben häufiger Schichtwechsel machen, um nicht aggressiv zu werden? Ich lache über meine eigene plötzliche Idee: wie lustig wäre das, sich ebenfalls eine kleine offizielle Weste anzuziehen und sich direkt neben ihn zu stellen. Und immer wenn neue Reisende ankommen und er sagt: „Taksiofisiel sortiõz“, würde man direkt hinterher sagen: „Taksiofisiel sortinöf“. Taxi officiel sortie 9. Fraglich wäre, ob man zuerst von dem Angestellten aufs Maul kriegen, oder vom Sicherheitspersonal entfernt werden würde. Ich muss diese zwei Ideen kurz aufschreiben, bevor er ankommt: „Schild hochhalten“ und „Taxi-prank“.

Wie schnell bekommt man Hausverbot am Flughafen? Würde es jemandem auffallen, wenn ich von nun an mehrmals die Woche hier wäre und am Gate Menschen beobachten würde? Wäre das verdächtiges Verhalten und sie würden mich anhalten und verhören? Fällt so etwas zuerst dem Wachpersonal, das durch den Flughafen patrouilliert, auf, oder der Person, die regelmäßig die Überwachungsvideos checkt? Gibt es eine Person, die regelmäßig die Überwachungsvideos checkt? Ich habe wieder Filmszenen im Kopf. Dieses Mal aber keine bestimmten, sondern mehr so generell als Topos. Der Typ, der vor dem Computer sitzt, in einem Raum ohne Tageslicht. Das bläuliche Licht des Bildschirms spiegelt sich in seinen Brillengläsern, deshalb sieht man seine Augen nicht richtig und ich weiß nicht genau, welcher Film es ist.

Nun müsst er eigentlich jeden Augenblick durch die Türen kommen, die Anzeigetafel sagt, dass die Gepäckausgabe seines Fluges beendet ist. Jedes Mal, wenn die automatischen Türen aufgehen und jemand herauskommt, bin ich für eine Sekunde lang aufgeregt. Um das klar zu stellen: Ich habe wirklich keine romantischen Gefühle für ihn und das hier ist auch keine Geschichte darüber, wie ich mir meine romantischen Gefühle für ihn zuerst nicht eingestehen will, sie am Ende aber doch ganz deutlich sehe. Es ist tatsächlich die Flughafenatmosphäre, die für diese Aufregung sorgt. Vielleicht passiert das nicht, wenn man das dauernd macht. Der Mann im Anzug neben mir, der mit einer Hand sein Tablet hochhält, in der anderen sein Handy hat und mit dem Daumen durch seinen Facebook-Feed scrollt, sieht nicht besonders aufgeregt aus. Geht das auf Dauer nicht ins Handgelenk, wenn er das Tablet nur mit einer Hand hochhält? Vielleicht ist es ultraleicht.

Ein kleines Mädchen kommt mit ihrer Mutter durch die Türen, sieht ihren wartenden Vater und rennt auf ihn zu, ruft freudig „Papa!“ und springt ihm in die Arme. Hat sie das auch in Love actually gesehen, oder hat sie das bei ihren Eltern gesehen, die es in Love actually gesehen haben? Oder ist das eine zutiefst menschliche Verhaltensweise?

In einer Ecke steht ein knutschendes Paar. Er hat seine riesige Reisetasche zwei Meter neben sich abgeworfen. Glückselig unterbrechen sie ihre Küsse immer wieder für lange Umarmungen. Ich habe leider seine Ankunft verpasst und frage mich, ob sie sich zuerst geküsst, oder zuerst umarmt haben. Nun starre ich auf seine Reisetasche. Schon etwas riskant, die achtlos zwei Meter neben sich liegen zu lassen. Ich würde sie gerne näher an seine Füße heranschieben, aber das würde die beiden eventuell irritieren. Der Mann unterbricht die Umarmung und bückt sich nach seiner Reisetasche. Ich kann beruhigt den Blick abwenden.

Wenn ich zu viel durch die Gegend schaue, verpasse ich den Moment, in dem er durch die automatischen Türen kommt. Ich habe ein bisschen Angst, dass sich ein breites Grinsen auf mein Gesicht legt, sobald ich ihn sehe. Schließlich ist das so eine Situation mit dem Warten und der Aufregung und wahrscheinlich ist ein besonders großes Lächeln dann eine physiologische Reaktion, um Stress abzubauen. (Ich habe keine Ahnung von biochemischen Körperprozessen.) Gleichzeitig warte ich aber seit einer halben Stunde genau darauf, dass er durch diese Tür kommt. Ich kann also gar nicht umhin zu hoffen, dass ich den Moment nicht verpasse. Ihn nicht durch die Tür kommen zu sehen, wäre unbefriedigend. Ich fixiere also die Türen, abwechselnd, denn es gibt vier davon. Es wundert mich, dass nicht tatsächlich regelmäßig Menschen dagegen knallen, denn dass sie kurz bevor jemand hindurch will wieder zu gehen, kommt relativ häufig vor. Wenn er gegen eine der Türen knallen und sich dabei die Nase brechen würde, dann müssten wir erstmal ins Krankhaus fahren. Das würde garantiert jegliche unerwünschte romantische Stimmung ersticken. Ah, ich sehe ihn, da ist er. Ich muss Stift und Papier wegpacken und ihn begrüßen.

 

Anja Christ

 

freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiTEXT | Sebastian Schmidt

Am Hackelklotz vom Meisenast                                                                     

Immer wenn draußen das Hupen losgeht fühle ich mich gemeint und renne zum Fenster.

In den meisten Fällen fahren die Autos vorbei als sei nichts gewesen.

Have you had your brain whipped, too?, tippe ich, zurück. Vielleicht mache ich das anstatt Sauna oder Hanteln heben. Tippen und zum Fenster rennen wenn es hupt. Wenn mir unter der Dusche etwas einfällt tippe ich manchmal sehr lange nackig.

Vor wenigen Tagen habe ich betrunken versucht, mit einem Radiergummie die Nachrichten von meinem Rechner zu radieren. Natürich war das Show und es sollte witzig sein und ich wollte damit meinen Kumpel Älex beeindrucken, weil der vielleicht bald wieder nach England muss. Den Brexit rubbern, lachten wir. Aber der Bildschirm ist nun kaputt. Mein Laptop ist erst vier Jahre alt. Idiet, hatte Älex gesagt.

Da bin ich 33. In meinem Gehirn steckt ein Stock, deshalb vielleicht die Frage mit der Peitsche. Vielleicht ist aber auch der Bademantel schuld, der unten im Hof immer wieder mit erbarmungsloser Härte auf den Betonboden eindrischt. Ich bin gespannt, wer das länger aushält.

Do you mean 'Have you had your brain wiped, too?' steht auf dem Monitor des anderen Computers, der im Nachbarzimmer steht, an einem improvisierten Schreibtisch. Der Weg zum Fenster ist nun länger, jedenfalls der Weg zum Fenster, durch das man sehen muss, um auf die Straße zu sehen. Ich bin zu bequem um den Computer in das andere Zimmer zu bauen. Ein richtiger Tower, tausend Kabel. Jedenfalls kann man in dem Zimmer jetzt besser aus dem Fenster rauchen wenn man will. Man sieht direkt in die Natur. Es ist eine andere Ecke des Hauses. Ich rauche nicht mehr.

When will your kids be back?, fragt Älex später am Telefon.

About six. We could meet in the park at half past?, sage ich.

Sounds okish mate. Would you bring your …?, fragt Älex.

'Course., sage ich.

Diesmal bin ich wirklich gemeint als es hupt. Ein schwarzer SUV hält direkt vor der Haustür. Ich setzte/schmeiße mein Basecap auf den Kopf über die Schmalzfrisur. Als ich unten ankomme winkt mir eine blonde Frau vom Fahrersitz aus zu, wirklich adrett, aber im Jogginganzug. Dann setzt sich das imposant große Auto in Bewegung. Meine Kinder begrüßen mich mäßig. Beim Hochlaufen kann ich durch das Fenster im Treppenhaus den Hackelklotz im Hof sehen, der sich hinter dem tiefhängenden Meisenast versteckt. Meisenast, weil da immer so viele Meisen draufsitzen. Fast immer zwischen zwei und vier. Kohlmeisen, wissen sogar schon die Kinder. Zwei Hippies sitzen auch im Hof, direkt neben dem Hackelklotz, und versuchen mit zwei Ästen Feuer zu machen. Indem sie die Äste aneinander reiben. Ein Stock höher läuft Hip Hop.

Wir treffen uns gleich mit Älex im Park., sage ich.

Jaaa!, sagt Jojo.

Friderike muss jetzt Abendessen, deshalb sind wir schon zurück, sagt Attan.

Ich weiß, sage ich. Wir essen etwas im Park. Älex bringt etwas mit., verspreche ich.

Ich packe heimlich Zigaretten ein. Eine schöne Decke. Außerdem ... . Zwei Biere. Am Fenster hupt es wieder aber diesmal ist nichts zu sehen. Karotten für die Kinder.

I mean whipped in the sense of torturing, in a masochistic way., tippe ich schnell, bevor es losgeht.

Älex hat nun einen dicken Bart. Er ist sehr weiß, der Älex, deshalb gibt ihm der Bart wirklich Farbe und er sieht gesünder aus als sonst. Er ist aber immer noch sehr dünn. Wir sind schon eine sehr lange Zeit Freunde, Älex und ich. Unsere Freundschaft ist älter als meine Kinder.

Wie gekt ez oiche, Kinder?, fragt Älex dann Jojo und Attan.

Es wird gelacht, vor allem weil Älex immer noch schlecht Deutsch redet. Wir spielen Federball und Fußball bis Attan nicht mehr will. Und essen zu Abend bis Jojo und Attan satt sind. Es ist ein kindischer Abend, weil es warm und sonnig ist. Älex macht Tier-Choreographien und springt über den Rasen. Es sieht scheiße und peinlich aus, aber wir lachen uns tot. Später lesen Älex und ich etwas auf der Decke vor und trinken Bier. Aus den Lautsprechern an den Bäumen verklingen die letzten Vögel und es dunkelt vor sich hin. Auch die Autos sind nicht mehr zu hören, schon eine ganze Weile nicht mehr.

Happy birthday mate, flüsterte Älex, und gibt mir einen Kuss auf die Wange.

And thin ice, why?, fragt er flüsternd, da waren die Kinder schon auf der Decke eingeschlafen. What did you mean with 'in between'?

Maybe because of the Hackelklotz and the SUV, flüstere ich. Sie sind alles Hackelklötze.

Da musste Älex lachen und prustete etwas Bier auf Jojos Bein.

Nice German word, but i don't understand., flüstert Älex als er sich erholt hatte. So du hazt wunsche für dein geburtztach? As a present?

Ich wünsche mir ein Signature T-Shirt von Clemens Setz, mit einer Figur drauf, oder ein Hemd, das von Christian Kracht designt wurde., sage ich, lache. Aber Älex versteht das nicht.

So bleibt es eine ganze Weile still in der wir Bier nippen und ich meine Zigaretten heraushole und mir eine anstecke. Älex biete ich auch eine an.

Oh, you brought some. How nice., sagt Älex.

Siehst du, was für eine Scheiße. It's a shit, a shame, sage ich.

Älex und ich lachen unanständig viel, denn es ging immerhin ums Rauchen. Mir fällt zum letzten Mal an diesem Tag der Hackelklotz in unserem Hof ein und die Hippies und als ich hinter den Busch gehe finde ich eine Stelle mit einem abgesägten Baumstumpf und ich stelle mir vor wie ich auf den Hackelklotz uriniere, während ich auf den Baumstumpf uriniere.

Heute trage ich Hemd obwohl ich nur zu Hause damit rumrenne, aber das ist gut so. Wenn ich ein Hemd trage kann ich mich besser konzentrieren, bilde ich mir ein. Natürlich ist das ein riesen Schwachsinn, aber es funktioniert. Gleich nach dem Duschen kleide ich mich an. Zum einen, weil ich unbedingt ein Hemd anziehen möchte, aber auch weil ich unter Dusche keinen Einfall hatte, der es Wert war nackt niedergeschrieben zu werden. Das ist kein gutes Zeichen, denke ich, aber ich habe ja das Hemd. Mit dem Hemd wird die Übersetzung fertig, wenn sie fertig werden muss, da bin ich mir sicher. Und alle werden zufrieden sein.

Ich öffne das Fenster und rauche frei mit Blick aufs Grüne. Als ein Auto hupt, lege ich die brennende Zigarette auf den Fenstersims und renne zum Fenster im Nebenraum. Es ist Anna, die mit beiden Händen wedelt. Ich wedele zurück. Anna wollte mir nur etwas in den Biefkasten werfen, das weiß ich. Das macht Anna oft so. Dann hupt sie, um mir Bescheid zu geben, dass sie etwas in den Briefkasten geworfen hat, so wie jetzt.

Ich muss weiter tippen!, rufe ich herunter zu Anna und lache dabei.

Dann fährt Anna weiter und ich gehe zurück. Meine Zigarette wurde vom Sims in die Natur geweht, was ich sehr bedauere. Jetzt liegt sie neben einer Baumwurzel und glimmt vor sich hin. Ich hoffe, dass sie einer der Hippies findet und fertig raucht. Aber sie verlassen ihren Platz so gut wie nie.

 

Sebastian Schmidt

 

freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiTEXT | Katharina Körting

Smalltalk, bebildert

Ergrauen
Verlernt man
Jedes Haar hält
Was es nicht verspricht
Fallweise

HIER FEHLT EIN FOTO, DAS ICH NICHT MACHEN KONNTE: Vater und Sohn in der Tram. Der jüngere, den Kopf entspannt auf der Schulter des Älteren, liest in einem dicken Buch aus Papier, Der Ältere hält ein Tablet vor sich wie ein Buch, kramt dann seinen Telefoncomputer hervor, sagt etwas zu dem Jungen, das ich nicht höre. Der Junge taucht unwillig auf: Das brauche ich nicht, sagt er, das habe ich mir schon abgeschrieben. Wahrscheinlich etwas für die Schule. Der eigene Sohn mag auch lieber Formulare mit der Hand ausfüllen als im Rechner. Vielleicht ist die Zukunft gar nicht so eindimensional wie wir uns manchmal glauben machen.

Zugehör

Immer wieder dieses halbe Zugehören, diese Unfähigkeit, voll dabei zu sein, zum Beispiel beim Handballspiel des Sohnes, bei dem mir eine Mutter einen Krachmacher in die Hand drückt, und ich weiß, ich werde ihn nicht verwenden, werde nur zaghaft klatschen, wenn ein Tor fällt, zwischendurch viel zu viel nachdenken, beobachten, dieses unablässige Beobachten, bei dem mir das meiste entgeht, weil ich zu tief grabe in meiner Seele. Oder bei der Arbeit, sogar bei meiner Ehe gehörte ich, bis sie zerbrach, nur halb zu mir, zu uns, zu ihm. Unsicher, ob es sicher ist.

Ich sitze mit der Kapuze in meinem Café und schreibe in meinem Buch. Die ganze Zeit bin ich, schreibe ich, auf der Suche nach Zugehörigkeit, finde sie in den Zwischenspielen, die die Zeit bietet, die ich mir erkämpfe, manchmal erzwinge, in temporären Gruppen, im Nützlichsein, das durch Tun erfolgt: Zugehörigkeit gibt es für mich nur im Nützlichsein. Zugehörigkeit ist Tun. Deshalb kann ich nie stille sein, nicht ruhen, außer bei Gott, wo ich fraglos zugehörig bin, wenn ich das glaube.
Angst fließt in Wellen, wie warme Luft aus U-Bahnschächten, Klimaanlagenfurze, wallt mich an, von der Seite, von hinten, von vorn, hinterlässt im Verschwinden ihre Spur in meiner zusammengepressten Hand (keine Faust, nur die Idee einer Faust), in meinem mahlenden Kiefer, den ich nicht locker kriege, egal, was ich versuche, Achten machen, wie der Physiotherapeut riet, oder gucken wie eine Kuh. Fehlende Zugehörigkeit verursacht diesen leichten Schwindel, als zöge jemand, den ich nicht kenne (nur zu kennen meine) am Stuhl unter mir, lässt dann davon ab, bevor ich fallen kann.

Schreiben ist Notwehr.

Es gibt diese Sinnlosigkeit. Sie ist unleugbar (und lässt sich leicht behaupten, wenn man den Magen voll und ein warmes Schlafzimmer hat). Diese Sinnlosigkeit meines Strebens, des Strebens meiner Kinder. Was wollen wir damit? Was erhoffe ich mir von all meinen Gedankensprüngen? Heute leben wir und morgen sterben wir. „Was hat der Mensch für Gewinn von all seiner Mühe, die er hat unter der Sonne?“, fragt der Prediger, „alles Reden ist so voll Mühe, dass niemand damit zu Ende kommt. Das Auge sieht sich niemals satt, und das Ohr hört sich niemals satt. Was geschehen ist, eben das wird hernach sein. Was man getan hat, eben das tut man hernach wieder, und es geschieht nichts Neues unter der Sonne.“ Diese Verse lassen sich lesen als Mahnung, als deprimierende Zusammenfassung, als Trost, weil es immer schon so war und so sein wird – oder als Augenzwinkern, denn wenn alles sinnlos ist, ist auch nichts sinnlos. Wenn nichts Bedeutung hat, hat alles Bedeutung. Auch mein nichtiges Sehnen, mein haltloses Versuchen und Suchen, so vergeblich, da ich mich nicht geben kann, ohne mich zu verlassen.

Es gibt eine beständige, besänftigende, oder irre machende Wiederholung. Essen, schlafen, arbeiten, wieder schlafen, aufräumen, traurig sein, müde sein, vergeblich sein oder nicht in der Versuchung, Dieses Eine Wichtige nur noch nicht gefunden oder erkannt zu haben. Und die Ahnung, die zur Gewissheit wird: Das Eine Wichtige existiert nur als Qual, als Nichtvorhandenes, als Wunsch. Eine Schimäre, die ablenkt von den wirklich wichtigeren Dingen, wobei dieses „wirklich“ unzulässige Behauptung und Propaganda ist.

Meine Müdigkeit macht mir zu schaffen, meine luxuriöse Müdigkeit, die an Erschöpfung grenzt und sich wünscht, irgendwie, Erschöpfung zu sein, oder zu werden, eine Rechtfertigung für eine Pause in diesem unleugbar sinnlosen Strebenleben, das Sinn nur aus sich selbst schöpfen kann:

Aus dem Heben des Kopfes, wenn jemand mit lauten Schritten vorbeigeht.

Aus dem Streichen über das Haar eines bald erwachsenen Kindes.

Aus der dummen Gewissheit, dass es egal ist, wenn es egal ist, solange du dein Bestes tust und gibst und bist und denkst und schreibst, auch wenn du keine Ahnung hast, oder höchstens eine Ahnung, was dieses „dein Bestes“ sein könnte.

Menschen sprechen in mein Gehirn, blockieren die Sehnsucht, dass jemand seinen Arm um mich legt, jemand, dem ich angehöre. Wer könnte das sein? Wer könnte ich sein?

Ich putze mir die Nase, lasse die Kapuze wie einen Schutzwall auf meinem anstößigen Kopf und wehre den Kommentar eines Bekannten ab. „Sieht gut aus“, oder Ähnliches sagt er, als müsse er mich bewerten, als müsse er mir Mut zusprechen, als müsse er behaupten, dass ich dazu gehöre, zu irgendetwas, und sei es zu denen, die sich von ihm bewerten lassen. Er meint es nicht böse. Er meint es nicht gut. Er meint gar nicht mich, doch ich mag ihn im Moment nicht sehen, mag nicht gesehen werden, mag nicht reden, mag nur nicht allein sein in dieser kurzen Zeit meiner Demütigung, meines Hochmuts.

Niemand hält, was er verspricht, auch ich nicht. Aber wenn da jemand wäre, der auf die richtige Weise in der richtigen Zeit seinen Arm um mich legt, wäre mir mehr geholfen, als ich verweigern kann. (Und all dies schreibe ich nur, um es wieder zu lesen, später, morgen, unverständliches Zeug, um mich zu vergewissern, dass ich ein Herz habe, das schlägt, auch wenn ich nicht mehr weiß, wie sich das anfühlt, wenn mir jemand den Arm um die Schulter legt und tatsächlich mich meint, und sich. (Schreiben ist vergebliche Kommunikation mit dem Nichtschreiben.) Das aushalten. Aushalten, dass ich das aushalte.

 

Existenz

Früher hatte man dieses altmodische Wort Betrachtung, das meint: genau hinschauen und lange hinschauen. Immer durch dieselben Straßen gehen und warten, bis man etwas entdeckt. (...) Zu Beginn mag es langweilig sein, weil man es nicht beherrscht. Später kann man erfahren, daß Geist in der Welt ist. Immer die gleiche kleine Menge. (Ilse Aichinger)[1]

Im Café. Eine runde junge Frau, schwarze Jacke, schwarzer abgenutzter Rucksack mit eddingweißen Peace-Zeichen, schwarze Jogginghose, helle Turnschuhe, dunkle Haare, dicke Brille spricht mich mit heftigem Lispeln an: Ob ich eine ihrer Postkarten haben möchte? Ich frage nach dem Preis. Drei Euro. Kitschige Motive, zu denen mir keine Verwendung einfällt. „Alles Liebe“ in erhöhten goldenen Buchstaben mit einer erhabenen lila Blume. „Herzlichen Glückwunsch“ mit Glitzerglanz. Ihr Schweißgeruch ist stark, aber nicht unangenehm. Im Moment brauche ich keine Postkarte, sage ich. Sie wünscht mir einen schönen Tag und drängt sich weiter. Ich sehe, wie sie Absagen kassiert, freundlich aber bestimmt sagt ein Gast nach dem andern Nein, schüttelt den Kopf, schaut sich ihre Werke nicht an. Meine Augen füllen sich mit diesen Tränen eines Berührtseins, das ich nicht immer vermeiden, nicht töten kann, denn es ist da, lauert auf meine Unaufmerksamkeit, damit ich ihm nachgebe.

Ich winke sie zurück. Sie freut sich, quetscht sich zu meinem Tisch, streift dabei einen Zeitungsverkäufer in dem engen Raum, gibt mir ihre Karten zur Ansicht. Sie erklärt, wie sie sie herstellt. Sie mache alles selbst außer der Schrift – die schneide sie aus und klebe sie drauf. Ihre Offenheit besiegt mich. Nun kramt sie auch die schon überholten Valentinstags-Motive aus ihrem Rucksack. Rote Herzen und lächelnde Gesichter. Sie macht den Eindruck, dass sie gern über ihre Arbeit spricht. Und dass sie glücklich ist. Zuversichtlich. Als wäre alles in Ordnung und das Leben okay. Die drei Euro pro Karte scheinen weniger wichtig zu sein als die Informationen zum Werk - der Austausch. Ich schaue nur flüchtig und wähle die lila Blume mit „Alles Liebe“. Sie wechselt flink bei der Kellnerin den Zehn-Euro-Schein. Ich weiß nicht, ob ich mich beim Kauf ihrer Postkarte, die ich nicht leiden kann, gut fühle oder schlecht oder beides. Ob ich überheblich bin, weil ich etwas aus einem vagen Mitgefühl heraus erwerbe, damit sie nicht abgewiesen das Café verlässt. Ob meine Unehrlichkeit gerechtfertigt ist. Sie verabschiedet sich, schenkt der Kellnerin zwei Karten. Auch ich verlasse bald nach ihr das Café, sehe den großen, alten, stinkenden Mann mit dem verschlissenen Tarnfarbenmantel, dem weißen Bart, den schweren Plastiktaschen, die seine Arme zu Boden ziehen. Neulich stand er an der S-Bahntreppe und wirkte, als würde er gleich starten, oder sterben. Er stand lange und schaute, und ich drängte mich an ihm vorbei, wollte schnell weg, mein schlechtes Gewissen drückte, oder die Neugier, ich drehte mich nach ihm um, aber wollte mich nicht hineinziehen lassen in meine Phantasien von Unglück und verschloss mein Herz und existierte nicht. Jetzt steht er an der Straße wie eingefroren, obwohl kein Auto kommt, und scheint zu überlegen, was er da soll. Wie es weiter geht. Ich überlege, ihm zwei Euro zuzustecken, aber vielleicht will er das gar nicht. Vielleicht bettelt er nicht. Ich zögere von ferne. Da kommt er in Bewegung, überquert die Straße mit festen Schritten, biegt zielstrebig in eine Straße ein. Vielleicht wohnt er unter der S-Bahn-Brücke, denke ich ziellos, lasse von ihm ab und fahre nach Hause, "Alles Liebe" in lila in der Tasche.

Nein
Sage ich nur vorläufig
Um das Ja hinauszuzögern
(Manchmal klappt das)

Auf der Bahnhofstreppe trifft mich ein Schwindel
direkt ins Mark, sendet sekundenbrüchige Kaskaden
von Folgen und Ursachen (was wird aus mir?)

„Hast du das auch gespürt?“, fragt die Touristin ihre Begleitung.
„Die Stufen zittern! Merkt das sonst keiner?“
Das Kopfschütteln, das ich im Rücken spüre, bringt mich in Versuchung:
„Doch ich!“, will ich rufen. „Ich auch!“
Meine schwitzige Seele beruhigt sich, verwundert:
Entwarnung kann seltsam enttäuschend sein

Sommererinnerung

 

„Das ist immer das Schlimmste Mann
Wenn du außen nass bist und innen
Ich hasse das Mann ich hasse es“

Ich kann kein smalltalk
Ich kann kein smallwork
Ich kann kein smalllove
Ich kann kein smalllife

 

Katherina Körting

 

[1] Im Interview mit Iris Radisch in der ZEIT, 1.11.1996 Link

 

freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiTEXT | Janine Adomeit

Keine Spatzen

Agata, das bedeute ja „die Gute“, hatte Herr Pfeiffer gleich am Bahnhof gesagt und ihr mit dem Zeigefinger auf die Schulter getippt.

Ob sie das gewusst habe?

Agata hatte nicht, obwohl zuhause in Kruszki jede Dritte oder Vierte so hieß.

„Ach so“, hatte Herr Pfeiffer gesagt, „ein ganzes Dorf voller guter Frauen!“ Sein grauer Schnurrbart zitterte.

„Na dann, Agata. Pass gut auf uns auf, ja?“

Sie nickte, etwas anderes als Nicken kam ihr unpassend vor.

Herr Pfeiffer nahm ihren Koffer. Sie müssten nur fünf Minuten gehen, sie wohnten sehr zentral. Es klang stolz, wie er das sagte. Agata sah ihn in die Dunkelheit vorausgehen mit ihrem Gepäck, das ihr in der fremden Hand eine ängstliche Sekunde lang nicht mehr wie ihr eigenes vorkam. Sie folgte Herrn Pfeiffer. Das Haus, vor dem sie stehenblieben, war groß, aber freundlich. Sie müssten jetzt leise sein, sagte Herr Pfeiffer, seine Mutter schliefe schon. Er steckte den Schlüssel ins Schloss.

Herr Pfeiffers Mutter wohnte im Erdgeschoss, in dem Zimmer das neben Agatas lag. In der Nacht hörte Agata sie zum ersten Mal klopfen, das Geräusch bohrte sich tief in ihren Traum. Sie stand benommen auf, dicke milchige Wärme hinter der Stirn, Schlaf, dachte Agata, Schlafen – und dann: Jakub. Aber als sie die Tür zum Flur öffnete, stand da nicht Jakub, sondern Herr Pfeiffer in seinem hellblauen Bademantel und hatte schon das Licht eingeschaltet.

„Sie klopft“, sagte er, „das ist das Zeichen.“

Er steckte den Kopf in das Zimmer seiner Mutter, seine Lippen bewegten sich lautlos und er gestikulierte in Richtung Agata, dann ging er zurück in sein Schlafzimmer im ersten Stock. Er trug keine Socken und hatte sehr weiße, sehr hässliche Beine. Er tat Agata leid.

Frau Pfeiffer musste zur Toilette. Agata versuchte, nicht an den Bandscheibenvorfall vom letzten Winter zu denken, als sie ihr aus dem Bett half. Woran sie stattdessen zu denken versuchte, waren die kaputten Rohre in ihrem Haus und Jakubs Studium in Lublin, waren die tausend Euro, die sie schon nächsten Monat schicken könnte. Tausend, dachte Agata. Vierundzwanzig Stunden, ein halbes Jahr lang jeden Tag, dann könnte sie zurück für drei Wochen. Sommer in Kruzski. Ein Korbstuhl;  Wind im Laub der Weißbuchen und Wind über dem See; Kormorangefieder, das im Sonnenlicht schimmert wie flüssiges Metall. Tausend.

Agata und Frau Pfeiffer, geteilte Verlegenheit zwischen sich, gingen den Flur entlang zum Badezimmer. Die alte Frau machte die winzigsten aller Schritte, wie ein aus dem Nest gefallener Vogel. Sie sprach erst, als sie sich, auf Agata gestützt, zum Pinkeln setzte, und Agata ihr das Nachthemd über die Oberschenkel zog.

Entschuldigung. Das sei ja nicht die feine Art, einander kennen zu lernen.

Doch, sagte Agata, Frau Pfeiffer sei sehr fein angezogen.

Sie schwiegen eine Weile und lauschten dem Geräusch von Frau Pfeiffers Urinstrahl, wie er auf das Wasser in der Toilettenschüssel traf.

„Der Erwin hat erzählt, du bist Krankenschwester in Polen.“

„Krankenschwester“, wiederholte Agata, „ja, Krankenschwester. In Polen.“

„Und du hast auch einen Sohn?“

„Ja“, sagte Agata und sah zu, wie die alte Frau sie beim Abrollen des Klopapiers beobachtete.

Sie hätten auch schon deutsche Schwestern gehabt, sagte Frau Pfeiffer: „Aber die wollten nichts tun für ihr Geld!“

Dazu fiel Agata nichts ein. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft zuckte sie mit den Schultern.

Sie konnte nicht gleich wieder einschlafen, nachdem sie zurück ins Bett geklettert war. Sie hörte auf die Züge mit ihren rumpelnden Waggons, die drüben im Bahnhof einfuhren, und sie dachte an die alte Frau im Zimmer nebenan. Sie streckte die Beine aus.

Agatas waren gute Beine. Nicht schön, sondern gut. Sie hatte mit ihnen fast alle Weitsprungwettbewerbe zwischen der vierten und der achten Klasse gewonnen. Wie viele Jahre würden die Beine noch zu gebrauchen sein? Wann würde sie das erste feine Reißen in den Knien spüren, in den Fingern, im Hüftgelenk? Der Rücken ließ sie ja jetzt schon im Stich. Zweifellos, Agata löste sich auf, sie wurde alt. Noch zwanzig Jahre Verfall, dann hätte sie auch das geschafft. In zwanzig Jahren wäre sie nur noch alt.

Ihr Kopf schmerzte. Erst nach einigen Minuten fiel ihr auf, dass sie Hunger hatte. Sie öffnete ihre Handtasche und fand die in Papierservietten eingewickelten Waffeln, die sie gestern Abend mit Jakub gebacken hatte. Sie hatte auf einmal das Gefühl, dass sie bei den Waffeln anfangen müssen würde, wenn sie jemals hier ankommen wollte. Sie nahm eine, biss ab, kaute, schluckte. Der süße warme Brei auf der Zunge, zwischen den Zähnen, war tröstlich. Sie nahm die nächste Waffel. Sie sah nicht auf die Uhr. Irgendwann waren keine Waffeln mehr da. Sie legte sich schlafen.

Herrn Pfeiffer sah Agata erst am nächsten Abend wieder. Er betrachtete die belegten Brote auf dem Küchentisch, legte sich schließlich eins auf den Teller und aß es mit Messer und Gabel, dazu zwei kleingeschnittene saure Gurken. Dann lehnte er sich zurück und sagte: „Tja.“ Agata kannte das Wort nicht, doch es klang wie „Ja“, deshalb wurde sie mutig und schob mehr von dem Brot über den Tisch, mehr von der rosa Fleischwurst, der Butter. Aber Herr Pfeiffer schüttelte den Kopf.

Agata habe das selbstverständlich nicht wissen können, aber wenn er abends vom Geschäft nach Hause kam, hatte er gerne etwas Warmes. Sie sei doch hoffentlich gewohnt, frisch zu kochen?

Frisch. Agata verstand: Schnell, und nickte heftig. Schnell kochen konnte sie, zur Not auch für viele. Herr Pfeiffer machte eine Handbewegung, so als risse er an etwas, und sagte: „Nicht so!“ Dann tat er, als rühre er mit einem Löffel in einem Kochtopf: „Sondern so!“

Seit dem zweiten Tag kochte Agata frisch. Sie probierte es mit den Gerichten, die Jakub gern aß, bei denen er sagte: Schmeckt gut und macht satt. Sie hatte dabei Herrn Pfeiffers großen Bauch vor Augen, wie er den Bauch mit einer geschickten Handbewegung angehoben und bequem unter der Tischkante platziert hatte. Sie ahnte, das Essen musste stark sein und viel. Aber er mochte den Eintopf nicht, wie Agata ihn machte, und er mochte keine Kutteln. Spätzle, sagte er. Sie solle sich von seiner Mutter das Rezept geben lassen.

Die alte Frau Pfeiffer hörte das und bekam aufgeregte Flecken im Gesicht.

„Mein Erwin“, sagte sie, als Agata ihr später im Bett die Haare bürstete. Seit Jahren habe niemand mehr für ihn gekocht, alles habe er selbst machen müssen. Ein guter Koch, ihr Erwin. Aber das wolle er jetzt nicht mehr, jetzt sei Agata da.

Frau Pfeiffer ließ sich am nächsten Morgen nach dem Frühstück die Lesebrille bringen, den Notizblock, den Bleistift, und steckte die Bleistiftspitze lange in den Mund und saugte daran.

„Dann schreibt er besser“, sagte sie.

Agata sah ihr über die Schulter. Spätzle, schrieb Frau Pfeiffer und zog eine schwache Linie darunter. Agata presste die Schneidezähne auf die Unterlippe. Sie ließ Frau Pfeiffer allein, ging in ihr eigenes Zimmer und nahm das Wörterbuch aus der Nachttischschublade. Es dauerte lange, bis sie glaubte, fündig geworden zu sein. Spatzen. Agata strich das Wort mit ihrem gelben Textmarker an und starrte auf das pergamentdünne Papier, das kühl und abweisend unter ihren Fingern knisterte. Sie wusste, es verbarg etwas vor ihr.

Erst am Nachmittag war Frau Pfeiffer fertig. Ihr Gesicht leuchtete vor Zufriedenheit.

„Ja, Spätzle“, sagte sie, als sie das Rezept auf den Küchentisch legte, „das ist was Gutes. Der Erwin hat abends gern was Gutes. Er arbeitet doch so schwer.“

Agata wusste nichts von Herrn Pfeiffers Arbeit, sie hatte auch nicht gefragt. Sie wusste nur, dass er Jeans und Hemd trug, wenn er morgens das Haus verließ, und kam er später zurück, war alles noch so sauber wie einige Stunden zuvor. Im Treppenhaus waren ihr gerahmte Fotos von ihm aufgefallen, fünf oder sechs versetzt nebeneinander, und auf jedem stand er neben einem anderen Auto, eine Hand auf der geöffneten Wagentür, die andere in die Hüfte gestützt. Vielleicht war das schwerer, als es aussah.

Agata setzte sich an den Küchentisch. Sie faltete den Bogen Papier auseinander und strich ihn glatt. Sie starrte darauf. Sie blinzelte.

„Ja“, sagte Frau Pfeiffer in ihrem Rücken. „Das ist Sütterlin. Kennst du Sütterlin?“

Agata antwortete nicht. Sie lächelte schief. Sie begleitete die alte Frau ins Wohnzimmer und schaltete ihr den Fernseher ein. Zurück in der Küche öffnete Agata den Kühlschrank. In Kruszki öffnete sie immer den Kühlschrank oder ging in die Speisekammer, wenn sie nachdenken musste. Verdammtes Spatzenessen. Sie legte den Kopf zurück und schloss die Augen, damit die Tränenflüssigkeit dahin zurücklaufen konnte, wo sie hergekommen war. Kälte kroch ihr übers Gesicht. Agata schlug die Kühlschranktür zu. Sie nahm das Rezept vom Tisch, faltete es klein und steckte es in die Hosentasche. Sie ging in den Flur und warf einen Blick ins Wohnzimmer, wo Frau Pfeiffer schief im Sessel saß, das Kinn auf der Brust, die Atemzüge geräuschvoll, gleichmäßig. Agata nahm Jacke, Schlüssel, das Portemonnaie – ihr eigenes Portemonnaie mit den an der Grenze eingetauschten Scheinen, nicht das mit dem Haushaltsgeld. Die Haustür zog sie so leise wie möglich hinter sich zu.

In dem Supermarkt, den ihr Herr Pfeiffer am ersten Tag gezeigt hatte, ging sie entlang der Tiefkühltruhen, die Eiskruste darin glitzerte diamantschön im Licht der Neonröhren. Klamm und mutlos betrachtete Agata das abgepackte Fleisch unter dem Truhendeckel, die gefrorenen Erbsen, den Apfelstrudel. Endlich sah sie eine Frau in einem rot-weiß-gelben Kittel und reichte ihr das Stück Papier aus ihrer Hosentasche. Ihr Herz klopfte.

Sie wolle kaufen, sagte Agata. Zögerlich fügte sie hinzu: „Spatzen?“

Die Frau runzelte die Stirn und nahm ihr den Zettel aus der Hand. Las. Gab ihr den Zettel zurück.

„Das kann ja kein Mensch entziffern. Machen Sie es sich nicht so schwer. Im Kühler gibt es Spätzle, ganz frisch, sind im Angebot.“

„Spatzen“, wiederholte Agata.

„Spatzen, Spätzle, die einen sagen so, die anderen so. Warten Sie, ich zeige es Ihnen.“

Agata folgte der Frau durch den Supermarkt. Die Frau blieb vor einem Kühlregal stehen. Sie griff nach einem rechteckigen Paket. Gelbe Teigstreifen drückten sich von unten gegen die Folie. Nicht einmal auf der Verpackung war ein Spatz abgebildet. Nudeln.

„Danke“, sagte Agata.

Sie drehte die Spätzle um, suchte nach den kleinen Flaggensymbolen, fand die weiß-rote. Zwölf bis vierzehn Minuten in kochendes Salzwasser geben. Agata stellte sich an der Kasse an.

Frau Pfeiffer war wach, als sie gegen Vier nach Hause kam.

„Du musst einen Zettel schreiben, wenn du gehst, Agata“, sagte sie.

Agata lächelte der alten Frau zu, hielt das Paket mit einer Hand hinter dem Rücken und sperrte sich in der Küche ein. Sie ließ das Lächeln aus ihrem Gesicht fallen. Noch zwei Stunden, bis Herr Pfeiffer von der Arbeit kommen würde. Agata öffnete die Schränke. Eine Handvoll Mehl, zwei Eier, Salz. Das Handrührgerät. Sie schlug eine geringe Menge Teig, einen Teigrest nur. Sie verteilte das Mehl auf der Arbeitsplatte und dem Fußboden, sie bestäubte ihre Hände damit und fuhr sich durchs Haar. Um zehn vor Sechs ließ sie Wasser aufkochen auf dem Herd. Um zwei vor Sechs öffnete sie die Packung Spätzle und schüttete die Nudeln in das Wasser. Sie setzte sich an den Küchentisch und wartete.

Die saubere, glänzende Spüle. Die karierten Handtücher. Das weiße Ziffernblatt der Uhr über dem Kühlschrank. Und Agata dachte an das gestickte Madonnenbild, das an derselben Stelle hing in Kruszki.

Janine Adomeit

bereits erschienen in: entwürfe 74 (2013)

freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiTEXT | Sylvia Hubele

Der Einzelhändler

Jetzt weiß ich, warum der Einzelhändler so heißt: Nicht etwa, weil er mit einzelnen Sachen handelt, mit Glühbirnen und Schokoriegeln, mit Hämmern und Streichhölzern. Nein, er steht mutter- und vaterseelenallein in seinem Laden. Er räumt und kramt in den Regalen, sortiert Suppentüten, pinselt den nicht vorhandenen Staub von sorgfältig sortierten Schrauben. Er ist allein. Einzeln und in Einzelhaft. Der Einzelhändler steht in seinem Laden einzeln herum, döst im Halbdämmer vor sich hin, träumt von reger Nachfrage und sammelt in den langen Pausen die Kraft und Energie, die er braucht, wenn er mal nicht alleine ist.

Auf der Straße gehen hin und wieder Menschen vorbei, doch kaum jemand dreht den Kopf und sieht auf die Pyramide von Suppendosen und das Aquarium, in dem zwei Guppys Verstecken zwischen den Wasseralgen spielen. Der kundige Einzelhändler wartet geduldig im hintersten, im dunkelsten Eck seines Ladens, wie die Spinne - versteckt im Astloch am Rande ihres Netzes. Er schaut nicht auf die Straße, sondern poliert die Messingstangen, an denen er mit Ösen aus handgebogenem Draht die bunten Topflappen hübsch drapiert hat. Er wartet. Er hat Zeit.

Der Einzelhändler beobachtet gerne, wie sich der Mensch langsam in einen kaufenden - und vor allem auch zahlenden Kunden verwandelt. Die Wandlung geschieht Schritt für Schritt, und der kundige Einzelhändler weiß, dass er diese Metamorphose nicht stören oder gar zu früh unterbrechen darf.

Denn manchmal geht ein Mensch erst zügigen Schrittes vorbei, zögert dann, verhält, schaut in das Schaufenster und auf das Schild an der Ladentür, legt die Hand auf die Klinke und erst nach einer Weile drückt er die Tür auf. Die meisten Menschen zögern, solange sie noch die Hand auf der Türklinke halten, und lassen diese nur ungern los. Wenn sich die Ladentür mit einem satten Schmatzen hinter ihnen schließt, zucken sie zusammen, als wären sie jetzt gefangen.

Doch der Einzelhändler bewegt sich keineswegs, um seinen künftigen Kunden standesgemäß zu empfangen. Er weiß genau, dass er um keinen Preis die Verwandlung stören darf, bevor sie vollständig ist. Nimmt also der Mensch, der so zögernd in den Laden kam und die Tür so widerstrebend losließ, endlich etwas in die Hand, die geöffnete Packung Aspirin etwa, deren Inhalt hier auch tablettenweise verkauft wird, so beginnt die langsame Metamorphose des Menschen in einen Kunden. Dann erschrickt dieser nicht mehr bei der Frage: "Kann ich etwas für Sie tun?" oder verlässt gar fluchtartig den Laden.

Am besten ist es allerdings, wenn der künftige Käufer etwas sucht, was er nicht sofort selbst findet. Hier ist ihm der Einzelhändler außerordentlich beflissentlich behilflich, kramt selbst in seinen Regalen, schiebt die Brille erst hoch in die Haare, dann nach vorne auf die Nase. Er murmelt leise vor sich hin und holt hier und da interessante Schachteln und Dinge aus Schubladen und Ecken. Jedes Teil wird dem Kunden ausführlich vorgeführt, während dieser von einem Fuß auf den anderen tritt und hofft, dass der Einzelhändler doch bald fündig werden möge. Manchmal allerdings muss der Einzelhändler nach langer Suche aufgeben, weil die erwünschte Ware partout nicht aus ihrer Ecke kommen und sich zeigen möchte. Dann geht der Kunde, ob mit gesuchter Schraube oder ohne gewünschten Haken.

Nach dieser Anstrengung öffnet der Einzelhändler eine abgegriffene Pappdose mit Aluminiumdeckel und streut den beiden Fischen zwei einzelne Flöckchen Fischfutter in das Aquarium, bevor er sich selbst einen Schokoriegel greift und mit dem sechsten Schlag vom nahe gelegenen Kirchturm den Laden von außen mit seinem großen Schlüssel absperrt.

 

Sylvia Hubele

bereits erschienen in: Himmelsstürmerinnen 2, (Prosa, Lyrik und mehr, 2008)

 

freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiTEXT | Markus Anton

daphne oder alle herrscher sterbender welten

ne bessere frau nen besseren job ein schnelleres motorrad längere kürzere hellere dunklere haare besser leben nachhaltiger leben und scheiß auf nachfolgende generationen ein haus mindestens ne villa ein schloss eine insel der mond oder alle anderen bemitleidenswerten planeten hiv mit ner scherbe in die brust geritzt krebs in all seinen variationen und alle anderen krankheiten oder infektionen unheilbar heilbar bewegte bilder zu tode gevögelt re run re run größer kleiner mutterficker vatermörder duftwasser verwesungsgeruch sell buy gutes wetter schlechtes wetter artensterben leise laut grau der unendlichkeit die augen aus dem schädel reißen es versuchen das geräusch glühenden tabaks der sich in die unterarme brennt dann ne chesterfield drogen alkohol vergewaltigung einvernehmlich uneigennützig etwas erreichen irgendetwas my life is better than yours und kinderhände mit gebrochenen fingerknöcheln klammern sich an werte nachfolgender generationen nur mittelmaß erzielt durchschlagende erfolge der klang deiner stimme wirst du gefickt der klang deiner stimme fickst du alter egos auf hochglanz poliert samstag nachmittags massensterben staatlich gefördert dehumanise sportveranstaltungen arenen bitte vergessen sie nicht mich positiv zu bewerten hitler ghandi jede bewegung erzeugt ne gegenbewegung vergänglichkeit ist das problem der anderen mehr macht tödlichere waffen mordende krüppel too many puppys die andere wange hinhalten opfer scheißopfer ich

 

Markus Anton

 

freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>