freiTEXT | Katharina Wulkow

Sonst wirkt es nicht

 

Eine Hand auf dem Geländer. Fingerspitzen ertasten Sandkörner. Risse im Holz. Am Himmel kreisen Möwen, unter den gellenden Rufen wogt die Ostsee.

Kristin überspringt die letzten zwei Stufen. Für einen Atemzug hängt der Schwimmreifen um ihre Taille. Sie ist bereit. Über den Strand zu wetzen, sich ins Wasser zu stürzen. Die Luft riecht wie damals. Das Ufer voller Algen, alle finden’s ekelhaft. Nur Kristin nicht. Sie denkt an Spinat. Spinat und Kartoffelpüree.

Turnschuhe versinken im Sand. Sie bückt sich, gräbt die Finger hinein, sieht dabei zu, wie er zu Boden rieselt. Weich, wie Puderzucker, nur schwerer.

Sandburgen und Burggräben, den ganzen Tag, weil die Augen ihres Bruders dabei blauer leuchten. Haare von der Sonne gebleicht, fast weiß. Geschmolzenes Eis läuft an Fingern entlang. Die Haut bitter von der Sonnencreme.

Sie winken ihr zu. Manchmal ist es unheimlich. Der Blick, die Sommersprossen, die Art, wie sie gehen. Mama eingehakt neben Jens, der sie um einen Kopf überragt. Lachend kommen sie näher. Das gleiche Grübchen. Links. Kristin fährt sich über die Wange, bohrt den Finger in die kleine Vertiefung. Die zwei lassen sich neben ihr nieder, das Meer in den Augen. Wellen wischen die Jahre fort.

Sie sitzt zwischen Menschen. Erahnt, was mal war. Wie auf einem alten, verblassten Foto. Gegenüber ihre Großeltern. Omas Gesicht gerötet, wie immer, wenn sie sich einen Schnaps genehmigt hat. Neben ihr haut Opa mit der Hand auf den Tisch. Dieser Hand. Lange, breite Finger, Schwielen von der Landarbeit.

Kristin ist sieben, als er sie eines Morgens aufweckt, den Zeigefinger auf den Lippen. Es dürfe nicht gesprochen werden, das hat er am Abend zuvor erklärt. Sonst wirke es nicht. Er hilft ihr beim Anziehen, im Halbschlaf wankt sie die dunkle Holztreppe hinunter.

Die Sonne ist noch hinterm Horizont versteckt. Sie überqueren den Hof, aus dem Stall kommt ein Schnauben. Gräser und Bäume schlafen unter Morgenreif, auf den Feldern liegen letzte Schneereste verteilt.

Opa hält Kristins Hand. So fest, dass sie schmaler ist, als er an der Quelle wieder loslässt. Die beiden ziehen Jacke und Schuhe aus, krempeln die Hosen hoch. Das Wasser sticht auf der Haut. Kristin presst den Mund zusammen, watet hinter Opa in den Fluss. Sie waschen sich Gesicht, Hals und Arme.

Bis ihre Füße klirren. Da hebt er Kristin aus dem Wasser, setzt sie auf der Böschung ab und rubbelt sie mit einem Handtuch trocken. Die Haut brennt, unter den Händen kitzelt das Gras. Opa streicht ihr über den Kopf, während die Sonne am Himmel emporkriecht.

Die Menschen am Tisch gewinnen an Farbe. Kristin entdeckt Mama in Omas Zügen, Onkel Peer in Opas Bewegungen. Puzzlestücke ihrer selbst um den Tisch herum verteilt. Hier, zwischen ihnen, ist sie der Wildfang, der jeden Abend Matsch im Flur verteilt. Die Frau, die frisch geschieden ist. Eben erst geboren.

Im Hafenkanal liegt ein Boot. Am Bug ist ein Schild festgenagelt, auf dem Lütte steht. Kristin lauscht dem Wasser, das an die Schiffswand schwappt.

Die Fenster im Dach der Pension gegenüber sind schwarz.

Vielleicht liegen sie noch wach, Mama und Jens.

Denken an Oma und Opa, wie sie ins Taxi steigen, immer wieder winkend. An Onkel Peer, der bei Umarmungen zur Planke wird. Er weiß nicht so recht, was das alles soll mit dieser Nähe und den Küsschen.

Kristin schlendert zur Lütten hinüber, sieht sich um und klettert über den schmalen Steg aufs Boot. Verharrt vor dem Steuerhaus. Geht die Reling entlang. Backsteinhäuser säumen den Kanal, eines davon sieht aus wie das, in dem sie früher gewohnt haben.

Ein Vierteljahrhundert nistet sich ein in ihrem Bauch.

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Katharina Wulkow

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mosaik28 - in Bildern

Die 6e des Musischen Gymnasiums Salzburg hat sich künstlerisch mit der aktuellen mosaik28 auseinandergesetzt. Aufgabenstellung war, sich einen Text aus der Zeitschrift auszusuchen und bildnerisch darauf zu reagieren. Eine Auswahl der dabei entstandenen Werke dürfen wir euch vorstellen. Und weils so schön ist, gibt's für die von euch, die grad keine Printausgabe bei der Hand haben, das PDF kostenlos dazu:

Download mosaik28 (PDF)

 

1: Nelly Ebert zu ‚Wut‘ von Sophia Fritz

 

2: Nelly Ebert zu ‚Januar‘ von Stefan Heyer

 

3: Benedikt Ziegler zu ‚Die sieben Todsünden - Lust‘ von Sophia Fritz

 

4: Hannah Laznia zu ‚Januar‘ von Stefan Heyer

 

5: Johanna Gamper zu ‚Hotelstaub‘ von Katharina Wulkow

 

6: Johanna Gamper zu ‚Der Mantel‘ von Marina Büttner

 

7: Tobias Hauer zu ‚Friedrichsblau‘ von Svenja Reiner

 

8: Noah Knapp zu ‚Abschluss‘ von Steffen Kurz

 

9: Klaudia Sobota zu einem Zitat im Interview mit Versatorium/Helmut Ege („Es entsteht beim Übersetzen ein Text, der vorher nicht da war.“)

 

 


mosaik28 – Dass alles immer weitergeht

mosaik28 – Dass alles immer weitergeht

INTRO

Dass alles immer weitergeht, dafür braucht es viele Dinge: Als erstes bedarf es Autor*innen und Künstler*innen, die etwas zu sagen haben und dies auch im Format einer Zeitschrift wie der unseren tun möchten. Dann braucht es Menschen „hinter den Kulissen“, die dafür sorgen, dass die Beiträge gesichtet, diskutiert, ausgewählt, zusammengestellt, korrigiert, grafisch aufbereitet und in ein Gesamtkonzept gebracht werden. Es werden Mails geschrieben, Telefonate geführt, Pläne geschmiedet, zwischendurch verworfen und am Ende doch irgendwie eingehalten. Es braucht Räume, die in diesem Prozess vereinnahmt werden (siehe Kreativraum auf der letzten Seite), Ideen, Ziele, Visionen und auf dem Weg dorthin auch einige Kompromisse.

Es braucht Menschen, die für das Ergebnis brennen, die die Zeitschrift lesen, andere dazu ermutigen, es ihnen gleichzutun. Menschen, die uns auf vielfältigste Weise unterstützen. Und es braucht (in einer Welt wie dieser: natürlich) auch Geld.

Ehrlicherweise muss man sagen: Es braucht verdammt viel Geld. Und es braucht verdammt wenig Geld. Je nachdem, wie man es betrachtet. Wenn man mal ehrlich kalkuliert (siehe Seite 2), merkt man schnell: Eine Zeitschrift wie diese ist kaum bezahlbar. Wir sind vor acht Jahren allerdings mit einer Mission gestartet: Literatur für die, die sonst weniger oder kaum oder keine Literatur in die Hände bekommen. Darum war und ist die Zeitschrift mosaik kostenlos erhältlich.

Wer wissen möchte, wie das möglich ist, kann sich auf Seite 2 die Kalkulation ansehen, die Logos der Fördergeber darunter betrachten und hier im ersten Absatz nachlesen, welche Arbeiten alle unentgeltlich geschehen.

Warum wir das schreiben?
Ob wir Mitleid wollen? Bitte nicht. Wir haben ein unfassbares Privileg, etwas machen zu dürfen, das uns begeistert.

Ob wir Geld wollen? Wenn uns jemand unterstützen möchte, freuen wir uns natürlich sehr. Das ist allerdings kein Spendenaufruf oder Ähnliches. Nicht alles, was einen Wert hat, muss auch einen Preis haben. Es geht uns schlicht um Bewusstseinsbildung. Wir sind nur ein Beispiel von vielen. Neue Zeitschriften entstehen (siehe Seite 69), andere verschwinden, einige begleiten uns weiterhin auf unserem Weg. Wir leben in einer Gesellschaft, die Dinge mit einer Zahl und einem Währungssymbol dahinter verbindet. Diese Zahl für das mosaik einmal aufzuschreiben ist ein erster Schritt in Richtung Transparenz.

euer mosaik

Inhalt

Die alleinige Regie
  • Katharina Körting – Großer Bahnhof
  • Stefan Heyer – Januar
  • Simon Stuhler – Charms
  • Konstantin Arnold – Mammon
  • Katharina Wulkow – Hotelstaub
Zu zart zum Schlagen
  • Marina Büttner – Der Mantel
  • Sophia Fritz – Die sieben Totsünden
  • Harald Kappel – Bang Bang und das ganz normale Glück
  • Mascha Schlubach – Die Mutter
  • Sonja Gruber – Kindheit am Bauernhof
Sicherheitsdienstleistungen
  • Steffen Kurz – Abschluss
  • Johanna Wurzinger – Leumundszeugnis
  • Magdalena Sams – Die Insel / Verhagelte Bananen
  • Lisa Gollub – Siebensachen
  • Marianna Lanz – bienenfleißig
  • Svenja Reiner – Friedrichsblau
Kunststrecke von Mark Daniel Prohaska
BABEL – Übersetzungen
  • Alexander Estis (Übersetzung) – Pirozhki (anonyme Internetgedichte)
Kolumne
  • Peter.W.: Ich habe ein Problem!, Hanuschplatz #15
Zeitschriftenschau
  • Felicitas Biller – „Zwischenräume sollen bewohnt werden“
Buchbesprechung
  • Lisa-Viktoria Niederberger – Beziehungsstatus: Wertvoll (über: Martin Peichl – Wie man Dinge repariert)
Interview
  • Marko Dinić – „Da uns vieles reizt, übersetzen wir alles.“
    (Interview mit Helmut Ege vom Versatorium)
Kreativraum über das Basislager Hüttenberg

11 | Katharina Wulkow

anders

Weiche Nachtluft
flüstert:
Wer bist du?
Sie riecht nach
schlafenden Bäumen,
warmem Asphalt.

Ich zucke die Schultern.
Jemand anders, sage ich,
anders als zuvor.
Mein Gesicht
gespiegelt im Schaufenster
ist das einer Fremden.
Hinter mir
fallen Brocken
aufs Kopfsteinpflaster.

Leichter,
wispert die Dunkelheit,
leichter als zuvor.
Straßenlaternen
werfen Lichtkegel
vor meine Füße.

Unsere Bilder fliegen davon.
Dein Lächeln, mein Herz.
Die Sterne zwinkern mir zu,
ich löse mich auf
in ihrem Zittern
und schwebe durch die Straßen.
Als ich wieder lande,
nehme ich neue Form an
in der weichen Nachtluft.

Katharina Wulkow

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at