freiTEXT | Carolina Reichl
FIASKO
Es ist Freitag und wie jeden Freitag gehen wir aus, weil man das so macht, wenn man sechzehn ist. Ich frage mich, wann ich das letzte Mal nüchtern etwas mit meinen Freunden unternommen habe. Ich erinnere mich nicht. Seitdem wir fortgehen dürfen, machen wir nichts anderes mehr.
Wir stehen in einem Kreis auf der Tanzfläche. Die Musik dröhnt in einer Lautstärke, die uns beinahe das Trommelfell platzen lässt; sie macht es fast unmöglich, einander zu verstehen. Hannah ist das schönste Mädchen im Raum, sie begrüßt mich mit einem Kuss.
„Kommt der Alex auch?“, brüllt sie.
„Der kann nicht.“
Ich weiß, dass sie sich über seine Abwesenheit freut. Normalerweise ist Alex immer da, wo ich bin. Sie mag Alex nicht. Sie sagt, er ist ein Angeber und Mitläufer.
„Warum war er die Woche eigentlich nicht in der Schule?“
„Weiß nicht.“
„Wie, du weißt es nicht? Er ist doch dein bester Freund.“
„Ich weiß es aber nicht“, antworte ich, so wie ich es ihm versprochen habe.
Außer mir haben alle Spaß. Hannah tanzt und lacht mit ihren Freundinnen, worüber, weiß ich nicht. Ich würde das auch gerne können, einfach so über alles und nichts lachen können. Ich versuche, mit Hannah zu tanzen, doch immer kommt eine Freundin dazwischen, die ihr etwas erzählen muss und sie von mir wegzieht. Ich fühle mich überflüssig, unsichtbar, als wäre ich Luft. Nur die Ellbogen, die mir die anderen in meinen Körper rammen, erinnern mich daran, dass ich existiere, mit Armen, Beinen, Bauch, Herz, Kopf, Arsch.
Ich schaue auf mein Handy. Alex hat mich zweimal angerufen und mir drei Nachrichten geschrieben.
Wie geht’s?
Können wir heute noch telefonieren?
Oder morgen? Ich brauch wen zum Reden.
Ich drücke die Nachrichten weg. Alex will nur über seine Probleme sprechen, dabei ist er schon bei einem Therapeuten, ich verstehe nicht, warum ich da zusätzlich herhalten muss. Mich zieht das nur runter. So weit, dass ich nicht weiß, ob ich mich von dort wieder aufraffen kann. Ich habe nicht vor, ihm zu antworten.
Ich bestelle eine Runde Tequila. Ich will so viel trinken, bis ich die Kontrolle verliere, nicht mehr klar denken kann und Alex vergesse. Hannah trinkt mit. Einer ihrer Freunde setzt aus.
Ich frage ihn: „Wieso?“
„Ich hab genug“, sagt er.
Ich verdrehe die Augen, stelle ihn als Langweiler hin, sage mit lallender Stimme: „Bist du schwul oder was?“
Die anderen lachen, Hannah verdreht die Augen, das kackt mich an. Sie soll mich lustig finden, ich will der lustigste Typ sein, mit dem sie je zusammen war.
Vor zwei Wochen habe ich ihr zum ersten Mal ich liebe dich gesagt. Sie hat es erwidert. Ich hab es danach nicht mehr gesagt. Sie auch nicht.
Der Barkeeper nimmt nur die Mädels dran. In ihren kurzen, weit ausgeschnittenen Kleidern beugen sie sich zu ihm, sie lernen gerade, auf Stöckelschuhen zu gehen, sie sind gerade mal halb so alt wie er.
„Kannst du mir auch was bestellen?“, frage ich die Blonde, die ein bisschen so aussieht wie Hannah, nur mit längeren Haaren und einen halben Kopf größer.
„Klar“, sagt sie und lächelt. Da sind wir auch schon im Gespräch. Im normalen Leben, also nüchtern und unter Tags, würde das nie passieren. Da redet man keine fremden Menschen an, egal wie durstig man ist oder wie dringend man etwas braucht. Doch in der Nacht gelten andere Regeln. Da spricht jeder mit jedem, da gibt es keine Grenzen.
Ich mache einen Witz. Sie lacht.
Ihre Hand liegt auf der Theke, gar nicht so weit weg von meiner. Ich könnte sie berühren, wenn ich meine Finger weit genug ausstrecke. Ich überlege sie zu küssen, um herauszufinden, ob ich noch Chancen beim anderen Geschlecht habe. Nur für den Fall, dass Hannah sich eines Tages nicht mehr für mich interessiert.
Plötzlich greift mich jemand von hinten an. Ich zucke zusammen.
Es sind Moritz und Alina, Freunde. Moritz drückt mich an sich heran und klopft mir zweimal auf die Schulter. Kaum macht er einen Schritt zurück, steigt mir ein süßlich chemischer Duft in die Nase. Alina packt meinen Nacken, zieht sich zu mir hoch und gibt mir einen Kuss auf die Wangen, links, rechts.
Wir sind jetzt in diesem Alter, wo wir uns zur Begrüßung nicht mehr Winken können. Seitdem wir in der Tanzschule sind, fassen wir uns alle mehr an, so als würde uns das zu besseren Freunden machen. Ich verstehe nicht, warum die Leute nicht zumindest vorher fragen können, ob man das will.
„Hannah sucht dich“, sagt Moritz. Ich nicke der Blonden zu, wir entfernen uns, verlieren uns aus den Augen, wahrscheinlich für immer.
Hannah und ich sind auf dem Heimweg, sind zehn Meter vom FIASKO entfernt. So heißt die Bar, die der Grund ist, warum es Alex schlecht geht. Das FIASKO ist klein, stinkt nach Kotze und Putzmittel. Leute in meinem Alter gehen da nicht hin. Da sitzen nur ein paar alte Alkoholiker, denken sie, und das stimmt auch.
Ich muss Hannahs Hand loslassen. Ich versuche, ruhig zu bleiben.
„Ist was?“
„Alles gut“, sage ich, als wäre das eine normale Bar, die mir nichts bedeutet, so wie jedem normalen Jugendlichen auch. Alex wäre da nicht reingegangen, hätte ich es nicht vorgeschlagen.
Es ist drei Uhr morgens, als ich die Tür aufsperre. Meine Eltern lassen mich kommen und gehen, als wäre ich ein Erwachsener, der selbst für alles Verantwortung übernehmen kann. Dabei bin ich erst sechzehn und sollten sich Eltern nicht immer um ihre Kinder Sorgen machen müssen?
Du musst sagen, wenn dich etwas stört, haben sie früher gesagt.
Wir können über alles reden.
Wir sind immer für dich da.
Doch sie schlafen.
Hannah kriegt ein T-Shirt von mir. Ohne Zähne zu putzen, legen wir uns ins Bett. In der Dunkelheit beginne ich sie zu küssen.
„Ich will schlafen“, sagt sie. Ich will die Zurückweisung nicht hinnehmen, bekomme Panik, dass etwas zwischen uns nicht mehr stimmt. Wir sind doch noch zu jung, um es nicht zu tun, weil wir müde sind, also küsse ich sie weiter. Sie versucht, meine Hand von ihrer Unterhose zu drücken, doch es ist nur ein leichter Widerstand und irgendwie erregt mich das auch. Ich bin stärker, die Gewissheit erleichtert mich. Ich presse meinen Körper gegen ihren. Sie weiß, dass sie mitmachen muss. Je länger sie sich ziert, desto länger wird es dauern. Also macht sie mit. Kurz verzieht sie das Gesicht, als würde ich ihr wehtun. Ich glaube nicht, dass Hannah weiß, was Schmerzen sind.
Nachdem ich gekommen bin, nehme ich sie in den Arm. Sie liegt auf dem Rücken und starrt nach oben an die Decke. Sie schmiegt sich nicht zu mir. Wahrscheinlich denkt sie jetzt, dass ich ein Arschloch bin und wahrscheinlich hat sie damit auch recht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie mich verlässt. Ich versuche, sie zum Lachen zu bringen, sie reagiert nicht und dann höre ich mich sagen: „Ich sag dir, warum Alex nicht in der Schule war. Aber du musst versprechen, dass du es niemandem erzählst.“
Sie dreht sich zu mir.
„Er darf wirklich nicht wissen, dass ich dir das gesagt hab.“
„Ich sag nichts.“
Sie schaut mich mit ihren großen blauen Augen an, mit denen sie Alex immer verächtlich angesehen hat, wenn ihr sein großes Gerede auf die Nerven ging, und wahrscheinlich wird sie ihn jetzt nie wieder so ansehen, weil sie dann immer daran denken wird, was Alex doch eigentlich für ein armseliger Typ ist.
„Wir haben uns letzten Mittwoch aus dem Haus geschlichen. Wir sind in so eine Bar und haben literweise Whiskey Cola getrunken. Da war so ein Typ, der hat uns auf alles eingeladen.“
Ich habe Angst, dass sie meine immer dünner gewordene Stimme richtig deuten kann und erkennt, wo die Geschichte einen Fehler hat. Aber einmal angefangen, gibt es kein Zurück.
„Die Bar hat um zwei Uhr zugemacht. Der Typ hat gemeint, wir sollen noch zu ihm kommen, weiter Party machen. Der war sicher schon vierzig oder so. Ich bin sofort nach Hause, Alex ist mitgegangen. Sie haben noch Wein getrunken und plötzlich haben sich seine Beine taub angefühlt. Er wollte gehen, konnte sich aber nicht mehr richtig bewegen. Der Typ hat ihn aufs Bett geworfen ... Den Rest kannst du dir denken.“
„Dann hat er Alex...“
„Ja.“
Meine Beine zittern. Sie schweigt.
„Hat er ihn angezeigt?“, fragt sie dann.
„Nein. Er kann nicht.“
„Wie, er kann nicht?“
„Na, weil er sich schämt.“
„Scham hin oder her, der Typ gehört angezeigt, sonst lauft der weiter rum und macht das vielleicht wieder.“
„Das ist nicht so einfach.“
Schweigen.
„Er kann froh sein, dass er dich hat. Der braucht jetzt ganz dringend wen, mit dem er darüber reden kann. So was darf man nicht verdrängen, sonst holt einen das irgendwann ein.“
Ich gebe ihr recht. Sie schmiegt sich zu mir. Ich werde ihr nie erzählen, dass ich nicht direkt nach dem FIASKO nach Hause gegangen bin. Ich schaffte es erst später so wie Alex auch.
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freiTEXT | Andrea Berger
Weder Kind noch Karriere
Tante Grete würde es beim mittwöchigen Kaffee- und Häkelkränzchen mit den ortsbekannten Bürgersfrauen nicht ohne Stolz wie folgt formulieren. Ihre Nichte Ilse ist noch keine dreißig und schon Frau Doktor und außerdem schreibt sie Artikel, die in Zeitschriften und Magazinen abgedruckt werden.
Denn Ilse war ja schon als Kind so brav und strebsam und hat jeden Sommer, wenn sie für drei Wochen bei ihr war, weil die Frau Mama unverständlicherweise auch nach zwei Kindern nicht auf die Arbeit verzichten konnte, darum gebeten wenigstens ein Kapitel pro Tag in Ruhe in ihrem mitgebrachten Buch lesen zu dürfen. Anfangs hat sie ja versucht dem Kind zu erklären, dass es jetzt Ferien hat und nichts für die Schule tun muss. Sie hatte ja sowieso ihre Schwester in Verdacht, die vorlauter auf Karriere getrimmt, dem Kind wohl eingeredet hat, es müsse sich auch in den wohlverdienten Ferien weiterbilden, um zumindest annähernd so erfolgreich zu werden wie sie. Doch mit der Zeit hat sie eingesehen, dass dem Kind das Lesen wohl Spaß macht und hat es in Ruhe gelassen, zumindest nach dem Mittagessen samt Palatschinke-Kakao-Nachspeise und einem Sandwich-Eis. Somit ist es also nicht verwunderlich, dass Ilse nun den Doktor hat; eigentlich hat ja sogar sie durch ihre Förderung in all den Sommern dazu beigetragen.
Bevor man sich nun in besagter Runde um nähere Details zur Vorzeigenichte erkundigen würde, wäre man sich unausgesprochen bezüglich Ilses Mutter, Gretes Schwester, und deren Fehlverhalten und Karriereambitionen einig. Denn wie kann es richtig sein, dass man zwar offensichtlich Kinder will, sie dann aber nach nicht einmal einem Jahr bereits in Betreuungseinrichtungen abschieben muss, nur weil man als Hausfrau und Mutter keinen besonderen Status und Ruf genießt. Vor allem hätte sie das ja wirklich nie nötig gehabt, bei dem was ihr Franzl verdienen muss. Oder wie lässt sich sonst der fette Audi TT samt Ledersitzen erklären. Immer war und ist er wie aus dem Ei gepellt, die teuersten Anzüge und Maßschuhe, edel Armbanduhren und am Wochenende geht’s auf den Golfplatz. Alles im Superlativ, alles eine Spur exklusiver als der Rest im Ort. Da wäre es sich doch ausgegangen, dass die Frau zuhause bei den Kindern bleibt. Jede der anwesenden Damen würde mindestens eine weitere kennen, die genauso familienunfreundlich agiert und der die Mutter- und Hausfrauenrolle wohl eindeutig zu wenig schick ist. Und den Vorwand der Unterbeschäftigung und Langeweile würden sie schon gar nicht gelten lassen. Denn wenn man sich nicht mindestens einmal wöchentlich Putz-, Bügel-, Einkaufs-, Garten- und Nachhilfe bestellen, sondern alles selbst ordentlich im Haus und Garten erledigen würde, würden die feinen Damen schnell merken, dass das Familienmanagement ein weitaus anspruchsvolleres Unternehmen ist als die Stelle als halbtags Schreibkraft.
Genauso echauffieren würde man sich jedoch auch über die Tochter des Bürgermeisters. Denn sie, die es ja gar zum Grüßen stets zu eilig, geschweige denn ein paar Minuten für ein Gespräch übrig hat, ist ja angeblich stets terminlich über Monate ausgebucht und kann wenn überhaupt erst nach mehrmaligen Anfragen ein Zeitfenster von maximal fünfzehn Minuten freischaufeln, in das sie einen dann ausnahmsweise reinschiebt. Die Frau Superwichtig. Man kann es sich schwer vorstellen, dass das Geschäft mit den farbenfrohen, Schlankheit versprechenden Vitaminbomben so gut läuft. Es drängt sich die Vermutung auf, dass die demonstrative Vielbeschäftigung und der exzessiv zur Schau gestellte Freizeitmangel eher der Prestigevermehrung dienen soll als den tatsächlichen Workaholic markiert.
Jedoch würden alle anwesenden Damen auch mit äußerst erfolgreichen, meist männlichen Prachtexemplaren aus den eigenen Familien auftrumpfen können. Söhne, Neffen und gar schon Enkel, die mit Häusern und Ferienapartments in bester Lage, Einrichtungen, Uhren und Bekleidung von Top-Designern, Kindern auf Privatschulen, privaten Golflehrern als Manager, Anwälte und Ärzte 80-Stunden-Wochen absolvieren und die Anzeichen des gesellschaftlich akzeptierten Burnouts, sozusagen die De luxe-Variante der Depression, wie eine Medaille mit stolzer Brust vor sich hertragen.
Gegen Ende des Treffens würde man sich dann aus Neugierde schon noch nach Gretes Nichte Ilse erkundigen, vor allem würde man sicher gerne erfahren in welchem Krankenhaus die Frau Doktor denn nun tätig ist. Grete würde etwas verunsichert erklären, dass das nicht so ein richtiger Doktortitel ist, sondern einer, den man in geisteswissenschaftlichen Studien erhält. Schließlich hat Ilse etwas mit Sprachen studiert. Etwas irritiert würde man dann natürlich nachfragen wo die Nichte nun arbeitet und wäre dann etwas verblüfft, dass sie mit ihrem Doktortitel in der örtlichen Buchhandlung aushilft. Verkäuferin also. Ein wenig kleinlaut würde Grete auch die Fragen zu den Artikeln in diversen Magazinen beantworten. Denn so ganz verstehen würden es ihre Freundinnen nicht, warum man so etwas unentgeltlich macht. Was ihr diese Veröffentlichungen dann eigentlich bringen, könnte auch Grete nicht ganz eindeutig beantworten. Man würde jedoch schließlich davon ausgehen, dass Ilse mit ihrem Alter vermutlich ohnedies bald in die Mutterrolle schlüpfen wird. Da Grete jedoch auch dies nicht zur Zufriedenheit der Runde beantworten würde können, da Ilse offen und klar über ihren nicht existenten Kinderwunsch spricht, würde man sich schon ein wenig wundern und insgeheim auch fragen, worauf Grete da eigentlich so stolz ist.
Andrea lebt und arbeitet in Graz / absolvierte das Doktoratsstudium der Romanistik (Literaturwissenschaft/Italienisch) und Kunstgeschichte / schreibt unregelmäßig kurze Texte für verschiedene Magazine und Zeitschriften / liebt Ohrringe
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freiTEXT | Regina Rechsteiner
Im eigenen Zelt
Sie schiebt. Ich halte mich an meinem Kaffeebecher fest und denke an den Keller, in dem wir uns sonst abends trafen. Sie ist jetzt auch eine. Ich gehe die letzten Schritte über die Kreuzung auf sie zu. Ihr Gesicht ist nackt. Wen muss man als erstes begrüßen? Sie wirkt, als hätte sie sich verirrt, obwohl sie den Treffpunkt vorgeschlagen hat. Ich schaue in den Wagen, es lebt, ganz eindeutig, eine winzige Hand macht eine Faust.
Sie trage die Jacke ihres Vaters, sagt sie und beugt sich über den Wagen. Schon seit der Schwangerschaft, es sei einfach komfortabler, was den Platz angehe und besonders die Wärme, von der Funktion des Stoffes ganz zu schweigen. Wir sehen beide nach vorn, sprechen den Weg entlang, die Straße entlang, vorbei an den Autos, die links und rechts die Spielstraße zuparken vor den Häusern am Hang. Die Luft im November ist klarer als in den anderen Monaten, auch eindeutiger, schärfer in der Bewegung. Ich muss Handschuhe anziehen, weil mir die Finger fast abfrieren.
Das Kind lacht mich an, wahrscheinlich wegen meiner roten Baskenmütze, die heraussticht aus dem trüben Grau, das alles bedeckt. So ein Kind im Wagen schaut ja an uns vorbei direkt in den Himmel. Aber was weiß ich, was in einem Kinderkopf vorgeht. Wir reden über Kunst, nur kurz. Ich erwähne die Zitronen und sie sagt, sie wolle auch wieder mitmachen, habe schon den Aquarellkasten zurechtgelegt und die Papiere, online gehe das ja alles, nur das Kleine wolle nicht schlafen, wann sie wolle, es interessiere sich nicht für die Selbstständigkeit des Vaters und die langen Stunden am Abend, überhaupt nicht, es zerre an ihren Nerven, es gäbe so viel zu tun. Aber wenn es dann lächle. Sie greift nach meinen Arm. Wenn es lächle und du wüsstest, du begleitest einen Menschen ins Leben, etwas das wächst, er oder sie, darauf komme es heute ja nicht mehr an. Ob ich mal kurz schieben könne.
Wir erreichen die Mitte des Stadtteils, das früher mal ein Dorf war, mit dem kleinen Marktplatz, der fast historisch wirkt, wegen den drei Fachwerkhäusern, auch im November verkaufen sie Obst an Ständen und ich halte Ausschau nach Zitronen. Das Kind braucht Milch, die Mutter spürt es. Wir gehen ein paar Schritte weiter, zu einer Bank und sie öffnet die Jacke. Sein Mund kennt den Weg, die kleinen Zähne sind aus Magnet, halten von selbst. Innig sind sie, zwei in eins, verlaufen sie ineinander. Ich drehe mich um, wir sitzen vor einem Schaufenster mit Elektrogeräten aus dem vergangenen Jahrhundert. Eine elektrische Wage, ein Föhn, ein Radiowecker, alle in verblichenen Schachteln im Regal aufgetürmt. Wer das heute noch will? Das Kind ist fertig. Meine Hände in den Handschuhen sind immer noch kalt. Ein Krankenwagen ruft durch die Ferne. Sie sagt, man müsse dankbar sein, froh sein, für das was ist, nicht anders herum und packt das Kind zurück in den Wagen.
Manchmal fällt es mir schwer, mich zu entscheiden, sage ich und sie schlägt vor, den Weg zurück über die Weinberge zu nehmen. Selbst das Obst in meinen Bildern schimmelt inzwischen. Genau wie in meinem Kühlschrank übernimmt das Zersetzen, das ja im Grunde genommen auch ein Wachsen ist. Der Haarwuchs auf dem Zitronenkopf beginnt als weißer Flaum, wirft dann grüne Schatten in den Pelz auf der Haut, die an manchen Stellen bläulich schimmert. Und das Schrumpfen ist wie das Ausdehnen ein Verändern der Form. Oben am Hang, mit der Stadt zu unseren Füßen, sagt sie, ich solle nicht so viel nachdenken, man könne nicht alles planen, es komme wie es komme, irgendwann. Ich sehe an ihr vorbei, hinab zu den Lichtern, die eigentlich Wohnungen sind mit Menschen, die ständig die Form verändern, sich ausdehnen und schrumpfen. Die kaputte Frucht habe ich später in der Toilette entsorgt. Sie sagt, die Natur verwalte sich im eigenen Becken und wer könne sich gegen Naturgesetze stemmen, wer? Sie sieht mich an. Es sei ein Wunder, was da geschehe in den neun, sogar zehn Monaten im eigenen Körper, größer als der Bogen Papier auf dem die Farben in die falsche Richtung zerlaufen.
Am Ende gehen wir schneller. Die Weinberge verschwinden in der Dämmerung, ich keuche ein wenig bei der letzten Steigung. Ich frage nach der Geburt. Der Körper geht offener um mit den Rissen, den kaputten Gefühlen und dem, was nicht passt. Aber ihre Geburt lief glatt. So wie es sein soll, glatt wie die Metallausstattung im Kreissaal. Man müsse wissen, was man will, sagt sie und ich nicke. Manchmal stelle ich mir vor, meine Leinwände wären genauso deutlich wie die Zitronen. Ich stelle mir vor, sie hingen in einer Galerie und nach dem Applaus schaute die Frau, die die Laudatio gehalten hätte, irritiert auf die obere Ecke des Bildes. Im Kühlschrank hätte sie ausgemistet, hätte die schimmlige Frucht entfernt, um den Rest nicht mit den Sporen anzustecken. In der Galerie müsste sie den Schimmel ertragen.
Das Kind wimmert während wir sprechen, beteiligt sich mit seinem leidigen Jammern. Wir sehen uns an, einen Moment. Ihr Gesicht fällt weg, zuckt zurück in den Wagen, wo es gebraucht wird. Ich merke, die Mutter kämpft mit sich, sie will nicht gleich nachgeben, will erst noch ihre Überlegenheit fühlen, dem Kind gegenüber und der Situation. Ich sehe sie weiter an, wie sie so mütterlich, so mit Verantwortung beschrieben, nach unten greift zu ihrem Kunstwerk, das in den Wagen gebettet, nun einmal Aufmerksamkeit fordert. Sie nimmt es hoch an die Brust und vor den Bauch geschnallt, verdoppelt sich mit einem Tragegurt in weniger als zwei Minuten das Leben und unter die Jacke des Vaters passen sie beide, sie füllt sie jetzt aus mit ihrem um den Bauch geschnallten Leben, sie wird warm in ihrem eigenen Zelt.
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freiTEXT | Natascha Maier
Wie T. nicht mehr mein bester Freund wurde
Risse einer Freundschaft - was ich weiß
Du hast gesagt, ich würde immer nur die Anfänge mögen, was danach kommt nicht mehr so sehr. Heute weiß ich, du hattest recht. Ich weiß, dass ich deine starke Neurodermitis abstoßen und anziehend zugleich fand, ich weiß du hattest am ganzen Körper blutige, aufgekratzte Stellen. Deine Klamotten und dein Bettlaken waren immer übersät von Hautschüppchen, verkrustetem Blut und manchmal waren die Textilien miteinander verklebt. Ich muss an einen Artikel denken, den ich mal gelesen habe, in dem es um kleine Fische ging, die man in einer Badewanne auf Neurodermitispatienten loslässt und die die ganzen Hautschuppen vom Körper des Betroffenen klauben. Ich wusste nicht, ob ich das weird oder okay finden sollte. Wir haben immer nur von "der Haut" gesprochen, wie geht es "der Haut" habe ich dann gefragt. "Die Haut" haben wir, aus Unwissenheit und der Einfachheit halber, auf die Trennung deiner Eltern geschoben, die offensichtlich viele kleine Risse und blutige Spuren bei dir hinterlassen hat.
An dem Tag an dem wir uns begegnet sind hast du dir einen anderen Namen für mich ausgedacht, du hast gesagt Spatzenhirn oder Spongo würde viel besser zu mir passen, an Tagen, an denen du mich weniger mochtest, hast du mich Kotzgesicht genannt. Liebesbeweis 2004. Ich habe die Namen nie in Frage gestellt und sie bedingungslos akzeptiert, es war das Siegel auf dem Kreis des Vertrauens, den wir seither bildeten. Meinen richtigen Namen hast du nie verwendet. Spatzenhirn sollte mich daran erinnern, dass man nicht einfach nur auf dem Sofa liegen und dabei gut aussehen kann. Du mochtest viel lieber meine cuteness als meine dunklen Seiten, die haben dir nie gefallen. Ich mochte, dass wir real sein konnten und dass wir wussten wie wir die Dinge meinten.
Bei uns war es love and magic, das weiß ich. Zwischen Schokoaffen ohne Milch, Frühstück am Abend also, mit deinem BMX durch München, Nürnberg, Ravensburg und auf dem Rückweg immer M&Ms von der Tanke. Du hast, während meinem Vordiplom, Anna Blume für mich animiert. Von hinten wie von vorne, so habe ich mir damals meinen Schein für diese ätzende Vorlesung mit dem Multimedia Kram erschlichen, das weiß ich so genau, weil ich dafür eine 1,8 bekommen habe, ohne zu wissen, wie das Programm überhaupt aussah. Einmal hast du mir auch eine selbstgemachte Postkarte mit Männern in Turbanen geschickt und dazu geschrieben, es wären Terroristen, die eine Party in eurem Garten feiern und die die ökoterroristischen Grünkernbratlinge deiner Mutter essen müssten. Ich weiß, es gab diese Bratlinge bei euch zu Hause und ich weiß, dass ich sie Gott sei Dank niemals essen musste. Nach der Trennung deiner Eltern war irgendwie immer Terror in dir. Unsere Freundschaft war analog, Postkarten, Briefe und ein grünes Schnurtelefon von Swatch, welches ich in meinem Zimmer stehen hatte. Weil ich gerne Klavierspielen gelernt hätte, hast du mir sogar mal ein Klavier geschenkt. Es war aus Papier, hatte Klebelaschen und schwarz-weiße Tasten auch das weiß ich.
Ich weiß noch, kurz nach unserem Schokoaffenfrühstück gegen 19 Uhr, stand ich hinter dir. Ich wollte gerade gehen, ich hatte einen grünen Cordrock an, es war Sommer und es war warm. Ich weiß ich stand hinter dir und habe den Geruch deines Nackens inhaliert während du mir mit deiner Hand zwischen die Beine gefahren bist und einen Finger in mir versenkt hast. Wir waren verliebt und wir waren es nicht, immer wieder. For ever, so dachten wir, wäre unsere Freundschaft.
Wir haben Kellerasseln, die auf wundersame Weise immer wieder aus dem angeklebten Teppichsockel in deiner Wohnung kamen, versucht mit Sekundenkleber zu bekämpfen. Der Kleber hat verloren, weiß du noch? Wir haben Death Cab for Cutie, Kettcar und The Postal Service gehört, wir haben Küsse getauscht, wir haben uns aus deiner Wohnung ausgesperrt und nachts deine Vermieterin rausgeklingelt. Ich weiß, dein kleiner Bruder hat Raffaello Torte für uns gemacht. Zu deiner Mutter haben wir immer nur Edi gesagt, wir haben nachts Klavier gespielt, haben geflennt, gestritten und uns wieder vertragen. Du hast mir eine CD in der Schule auf den Schrank gelegt. Alles mit dir war elektrisierend, aufregend, viel zu kurz und doch auch lang, es war nicht perfekt mit greatest hights and lowest lows. Ich habe mit deinem besten Freund geschlafen, lowest low ever. Später dann mochtest du Tattoos und Muskeln und bist irgendwie zu einem Surfer mutiert, so der O.C. California Style. Du fandest Ryan gut, ich hatte eher nen crush auf Seth Cohen, er hatte immer die coolen schwarzweißen Vans, smarter Typ, guter Humor. Du bist für zwei Jahre nach Australien, hast dir Tattoos und vor allem swag zugelegt. Dein neuer Style würde von deinen Mausaugen ablenken, hast du gesagt und ich wusste das du deinen weichen Kern meintest.
Was ich ganz sicher weiß ist, dass deine Nichtanwesenheit weh tut, so sehr dass ich mir seither manchmal absichtlich Hautfetzen an meinen Fingern wegreisse bis es blutet, um den Schmerz durch einen anderen zu ersetzen. Ich wache nachts vom Pochen an meinen Fingern auf, das die Risse verursachen. Der Trost der Yucca Palme, deren Blätter einen Schatten an die Wände in meinem Wohnzimmer werfen, ist zu dieser Uhrzeit dann das einzige was bleibt, Gespenster an der Wand, ein Schattenspiel aus allem was wir mal waren.
Als ich Abstand gebraucht habe, hab ich habe dir mal gesagt, space makes the heart grow fonder, fuck off space, weiß ich jetzt. Ich hatte den Plan diese Phase auszusitzen, so wie wir es meistens taten und es dann irgendwie schon wieder wurde. Ich weiß, dass die Aussicht, dass nach sieben Jahren noch was gut werden könnte eigentlich nicht mehr besteht. Ich weiß ganz sicher, es war die time of my life, was ich auch weiß, es war auch deine.
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freiTEXT | Luca Kosina
Sie passt mit unter seinen Mantel
Es ist wieder Mittwoch Nachmittag, als er beschließt, dass er sie wegbringen muss. Am besten laufen sie einfach, denn er hat noch zu viel aufgestaute Energie. Sie freut sich darüber, denn sie denkt, sie gehen wieder zum Spielplatz, wo sie einen Hund sehen kann. Erst später, wenn sie am Zaun und dem vorbeigehen, was sie dem Himmel am nächsten bringt, weil sie noch nie geflogen ist, sondern nur immer höher schaukelt, dann wird ihr klar werden, dass sie heute nicht dem Himmel näher kommen wird. Vielleicht wird sie stattdessen der Hoffnung näher kommen, die kann sie jetzt mehr gebrauchen.
Vor der Haustür zieht er sich seinen großen schwarzen Mantel an - sie wurde schon angezogen, bereit für den Regen mit gelben Stiefeln und Jacke. Der Gang war leise, denn es kann nur einen störend lauten Nachbarn pro Stockwerk geben. Wenn ihre Nachbarn leise sind, müssen sie also laut sein. Draußen liegen schon die ersten Blätter auf dem Boden, das orange hatte sie gestern noch zwischen ihren Wachsmalstiften gesucht, aber stattdessen musste sie eine surreale Welt malen, wo der Boden blau ist und es aussieht, wie wenn Menschen auf dem Himmel laufen. Die realen Blätter gefallen ihr auch gut, weil sie bedeuten, dass es Pfützen auf dem Weg geben wird, in die sie springen kann, wenn er gerade nicht hinschaut.
Wir haben deine Tasche vergessen.
Welche Tasche?
Na, wie willst du dich sonst morgen anziehen?
Da sie noch nicht weiß, dass sie dorthin gehen, wo sie gerade hingehen, versteht sie nicht, warum sie jetzt schon an morgen denken muss.
Warte hier draußen, ich laufe hoch und hole sie.
Weil sie noch jung genug ist, um nicht über Verantwortung nachzudenken und darüber, dass niemand sie beschützt außer sie selbst, versteht sie, dass sie weitergehen kann. Denn da hinten blühen noch Blumen und die will sie sich anschauen. Wenn sie so alt ist, dass sie seinen schwarzen Mantel ausfüllen könnte, will sie Biologin sein, hat sie entschieden, aber in fünf Jahren wird sie hier schon nicht mehr vorbeigehen und den Blumen Beachtung schenken.
Warum willst du Biologin werden?
Sie weiß keine Antwort, sie fragt sich immer nur, warum alle immer so viele Warum-Fragen stellen, vielleicht weil ihnen sonst keine Fragen einfallen, die man einem Kind stellen kann, denn es kann ja keine angemessenen Antworten geben.
Die Blumen hier sehen so ähnlich aus wie die, die sie neulich zu ihrer Mutter gebracht hat, aber die sind noch frisch.
Warum bleibst du nicht da stehen, wo du auf mich warten solltest?
Warum fragt ihr immer so viele Warum-Fragen?
Egal, komm, wir können endlich losgehen.
Er meint, er hätte keine Zeit, ihr das Leben zu erklären, wenn sie es doch noch erleben muss, dabei merkt er nicht, dass er ihr gerade eine Lektion erteilt hat: man muss nicht zuhören, um zu kommunizieren. Und deswegen läuft er los in Richtung Spielplatz. Weil sie nicht so schnell laufen kann, versucht sie, seine Hand zu fassen, aber er ist schon zu schnell weitergelaufen und bemerkt nicht, dass er in ihr Unbehagen auslöst. Denn wenn er immer weiter läuft die Straße entlang, heißt das, sie gehen gar nicht zum Spielplatz und sie kann nicht einfach in Pfützen springen, weil sie sonst verloren gehen würde.
Gehen wir zu einem anderen Spielplatz?
Nein, dafür haben wir jetzt natürlich keine Zeit mehr. Aber vielleicht wird morgen jemand Zeit haben. Oder du spielst einfach in der Schule.
Aber da muss ich doch morgen gar nicht hin.
Ja, das ist gut, dann kann dein Mutter nicht vergessen, dich abzugeben.
Warum soll sie mich abgeben?
Je mehr sie kommunizierte mit der Welt, desto mehr verwirrte das Leben sie - denn ihre Welt war noch nur eine Person, eine mit schwarzem Mantel. Aber manchmal wurde sie eben aus ihrer Welt gerissen, zum Beispiel an diesem Tag. Sie sind schon kurz vor dem Gebäude, in dem er sie verlassen wird. Während er ungeduldig immer schneller wird und sie erschrocken erkennt, wohin sie gehen, fängt sie an, langsamer zu werden. Sie will sich auf den Boden legen. Dann würde sich alles wieder leichter anfühlen, weil oben die Wolken so leicht aussehen, wenn sie vorbeiziehen. Aber er würde es nicht verstehen und sie will nicht, dass er wütend ist in den letzten Minuten, die sie zusammen haben werden, also läuft sie weiter, aber langsamer.
Vor ihnen biegt die Straße sich nun in eine andere Richtung und es erscheint das Gebäude, das sie auch wissen lässt, was die gesamte Zeit das Ziel ihres Weges war. Er drückt auf das Klingelschild links in der Mitte, da steht auch ein Teil ihres Namens und wie immer wenn das Summen der Tür beginnt, hält er ihr die Tür auf und sie muss in das Gebäude, weil sie sonst nirgendwo alleine sein kann.
Du weißt jetzt, wo du hin musst. Ich will nicht mitkommen. Irgendwann hole ich dich wieder ab. Wie immer.
Kannst du dieses mal schneller wieder kommen als wie immer?
Er nickt nur, was sie als Antwort akzeptieren muss, denn schon ist die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen und sie muss die Treppe nach oben laufen, wo im 2. Stock ihre Mutter im Türrahmen steht und wartet.
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freiTEXT | Carolin Wiechert
Projektionen
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Ich bin ewig nicht mehr in dieser Gegend gewesen.
Langsam rolle ich mit dem Fahrrad die Straße entlang und betrachte die Umgebung. An einigen Stellen stehen neue Häuser, an anderen Stellen sind Lücken entstanden, die darauf warten, mit neuen Häusern gefüllt zu werden. Bäume, die ich zum letzten Mal als kleine Winzlinge gesehen habe, überragen mittlerweile die Dächer.
Der Spielplatz auf dem wir früher unsere Freistunden verbracht haben, hat neue Spielgeräte, die die alten ersetzt haben. Das Karussell auf dem wir immer saßen, hat einem Fußballtor Platz gemacht. Einige Kinder wuseln kreischend und lachend über den Platz, um den Ball zu ergattern.
Es ist komisch, diese Mischung aus Vertrautem und Fremdem zu spüren. Ich hatte damit gerechnet, dass ich in den letzten zehn Jahren mehr Distanz zwischen diese Stadt und mich gebracht hätte. Schon als ich hier noch gelebt habe, hatte ich immer irgendwie das Gefühl, von diesem Ort entfernt zu sein und nicht richtig hier reinzupassen. Es war kein markantes Gefühl, es war mehr wie ein Haar auf der Wange, das sich nicht wegwischen ließ, egal wie viel ich daran gerieben habe. Ich war nicht auffällig, ich bin mit meinem Anderssein nicht hervorgestochen, ich habe mich gut angepasst. Ich wusste nur, dass ich hier nicht für immer bleiben würde und dass ich nach meinem Ort noch suchen musste.
Ich lächle, als das Schulgebäude vor mir auftaucht. Es ist Mitte Mai, die längsten Tage des Jahres lassen noch auf sich warten und die Sonne sitzt gerade auf dem Dach der Sporthalle. Ich erinnere mich, wie wir zusammen entdeckt haben, dass sich die Sonne zu einem bestimmten Zeitpunkt auf der Sporthalle ausruht und das Licht in einer merkwürdigen Art fächert, die ich sonst noch nie gesehen hatte. Es war ein Abend in der zwölften Klasse. Tobias, Lena und ich haben uns nach einer Schulveranstaltung verquatscht und standen bei den Fahrradständern. Wir hatten damals viele dieser Abende, die plötzlich länger wurden, als es beabsichtigt war, weil wir das Zusammensein genossen haben.
Seit dem Ende der Schulzeit haben wir uns nicht mehr gesehen. Ich glaube nicht, dass das absichtlich passiert ist, sondern dass wir einfach auseinandergedriftet sind. Ich war erst für ein Jahr im Ausland, danach bin ich nach Hamburg gezogen, um zu studieren. Mir war nicht klar, dass ich so schlecht darin bin, den Kontakt zu halten. Lena hat sich einige Male gemeldet, mir E-Mails geschrieben, auf die ich immer antworten wollte, es dann aufgeschoben habe, bis es irgendwann zu spät war. An Tobias habe ich manchmal gedacht, ein kurzer Anflug des Gedankens, dass ich ihn anrufen könnte oder ihm schreiben, der dann schnell wieder weg war.
Ich weiß nicht, ob die beiden heute auch da sein werden.
Es ist das erste Jahrgangstreffen nach zehn Jahren. Ich weiß noch, dass wir uns damals darüber lustig gemacht haben und dass wir niemals zu so einem Treffen gehen würden. Ich hätte nicht gedacht, dass es die einzige Möglichkeit werden würde, um die beiden wiederzusehen.
Irgendwann fühlt es sich nicht mehr angemessen an, sich bei jemandem zu melden, wenn zu viel Zeit vergangen ist.
Ich stelle das Fahrrad in den Fahrradständer, an dieselbe Stelle, an die ich es früher immer gestellt habe. ‚Fremde Vertrautheit‘, denke ich, während ich auf den Eingang zugehe. Jahrelang hatte der Anblick des fünfstöckigen Gebäudes Zeit, sich in mein Gedächtnis einzubrennen und auch jetzt sind die Veränderungen nicht markant genug, um die Vertrautheit auszulöschen.
Ich habe das Gefühl, in einen Pool von Erinnerungen geworfen zu werden, ohne eine Konkrete greifen zu können. Sie prasseln in Bildern und Gefühlen auf mich ein.
Langsam trete ich durch den Haupteingang und sehe die Erinnerungen an Wänden und Lampen hängen, an den Treppen, den Türen. Sie stehen in der Luft und wispern leise, durchwoben mit Lachen und Wut.
Ich bin alleine in der Eingangshalle. Aus der Aula, die zur linken Seite abgeht, kann ich Musik und Stimmen hören. Ich bleibe kurz stehen und blicke mich um. Greife willkürlich eine von den Erinnerungen, sehe Tobias, Lena und mich in meinen Händen liegen. Ich drehe uns, um uns von allen Seiten zu betrachten, uns zuzuhören, wie wir über die gerade geschriebene Physikklausur reden. Wie Tobias unsere Antworten nicht glauben will, weil sie sich nicht mit seinen decken. Wie er anfängt zu überschlagen, wie viele Punkte er erreicht haben könnte und ob er vielleicht doch bestanden hat.
Leicht stoße ich die anderen Erinnerungen mit den Fingerspitzen an, bringe sie zum Schwingen, lasse mich kurz in diesem Gefühl treiben, bevor ich durch die Tür in die Aula trete.
*
Ich stehe in der offenen Tür zu dem Klassenzimmer, in dem wir früher Deutschunterricht hatten. Der Raum ist dunkel, die Musik aus der Aula ist nur schwach zu hören. Lena sitzt auf der Fensterbank, lehnt die Stirn gegen die Fensterscheibe und streicht mit dem Daumen über die Bierflasche. Sie hat mich bis jetzt noch nicht bemerkt und ich betrachte sie einige Augenblicke. Zumindest äußerlich hat sie sich nicht viel verändert. Auf den ersten Blick. Ich stelle mir vor, wie sie an die vielen Stunden denkt, die wir in diesem Klassenzimmer verbracht haben und wie gut sich das angefühlt hat.
Ich räuspere mich. „Hey.“
Lena blickt in meine Richtung. „Hi.“
„Du bist schnell verschwunden.“ Ich trete langsam in den Raum und setze mich an einen der Tische am Fenster. Wir haben damals immer in der ersten Reihe gesessen, aber direkt an der Tür.
„Es hat mich nicht richtig interessiert, was alle von ihren Leben erzählt haben. War irgendwie alles dasselbe.“ Sie zuckt mit den Schultern.
„Du hättest dich mit mir und Tobias unterhalten können.“ Lena hat sich schon damals nicht besonders für unsere Klassenkameraden und Klassenkameradinnen interessiert. Sie waren ihr zu oberflächlich, zu langweilig, zu berechenbar.
„Ich habe auf euch gewartet und dann wusste ich nicht, wie ich das Gespräch anfangen soll.“ Sie grinst leicht.
„Also flüchten?“, sage ich und ziehe mit den Füßen einen zweiten Stuhl heran, um meine Beine darauf zu legen.
Auf dem Flur geht Licht an und wir schweigen beide. Die Schritte bleiben vor der Tür stehen. Im Gegenlicht steht Tobias und blickt uns an. „War klar, dass ich euch hier finde.“ Er betritt den Raum, schließt die Tür hinter sich und setzt sich zwei Stühle neben mich, auf den Platz, an dem er früher saß. Sein Blick wandert die Wände entlang und bleibt an der Tafel hängen, die nicht gereinigt wurde. Matrizen ziehen sich über die gesamte Fläche. Ich erinnere mich wie mein Mathelehrer damals kreideverschmiert die Zahlen auf die Tafel gesetzt hat.
Die Stille hängt schwer zwischen uns. Etwas, das wir früher nie hatten. Früher war es leichter, diese Lücken zu füllen, früher gab es immer etwas zum Austauschen.
„Ihr seid schnell verschwunden“, sagt Tobias schließlich.
„Lena ist geflüchtet.“
Er grinst.
Ich warte darauf, dass irgendjemand von uns eine Erinnerung von früher heraus kramt, wir darüber lachen und sich die Situation entspannt. Vielleicht ist es schwieriger Worte bei Menschen zu finden, die man zu einem Punkt im Leben sehr gut gekannt hat. Man glaubt, sie immer noch zu kennen, aber ist sich nicht sicher, welche Worte noch Waffen sind oder welche zu Waffen geworden sind. Man glaubt, die Menschen bedeuten einem immer noch was und möchte keine Wunden schlagen. Vielleicht ist es darum mit fremden Menschen einfacher.
„Ich hätte damals nicht gedacht, dass sich unsere Freundschaft so schnell verläuft“, sagt Lena leise. Sie stellt die leere Bierflasche neben sich auf die Fensterbank und blickt auf ihre Hände. „Nachdem Charlotte nach Amerika geflogen ist, habe ich nichts mehr von euch gehört und jetzt sitzen wir hier, als ob das in Ordnung wäre.“
Ich beiße mir auf die Lippen und weiß nicht, was ich sagen soll. Meine Erklärungen würden wie lahme Ausreden klingen, die Lena nicht gelten lassen würde. Zu Recht.
„Ich hatte nicht das Gefühl, als ob sie aufrecht erhalten werden sollte. Viele Freundschaften hängen doch sowieso von einer bestimmten Grundlage ab. Unsere war die Schule, die Schule war vorbei, also gab es keinen Grund mehr“, sagt Tobias nüchtern.
Lena sieht ihn fassungslos an und ich greife ein, bevor die Situation eskaliert.
„Was machst du jetzt eigentlich?“, frage ich Tobias. Wir hatten vorhin noch nicht Gelegenheit miteinander zu reden.
„Ich habe letztes Jahr mein eigenes Unternehmen gegründet. Davor habe ich als Abteilungsleiter gearbeitet, habe dann aber gemerkt, dass ich mehr will, wusste aber nicht genau was. Also bin ich erst mal für ein Jahr um die Welt gereist, um herauszufinden, was das ist.“
„Klingt ein wenig wie aus einem Katalog“, sagt Lena mit leisem Spott in der Stimme. „Wie eine der Geschichten, die ich von fast jedem hier hören kann.“
„Es macht mir Spaß und ich bin gut darin.“ Tobias verschränkt die Arme vor der Brust. „Ich kann nichts dafür, wenn andere dieselben Sachen machen.“
Lena zuckt abwertend die Schultern. „Es ist trotzdem untypisch für dich.“
Es liegt wieder eine Schwere in dem Schweigen, die Sekunden springen zäh von einer zur nächsten.
„Wer entscheidet denn, was ein typisches Verhalten für mich ist? Ich meine, wir haben uns seit zehn Jahren nicht gesehen.“
Lena blickt ihn an. „Ich kenne dich, ich weiß, dass du nicht so bist.“
„Dass ich wie nicht bin?“
„Oberflächlich.“
Tobias seufzt und schüttelt leicht den Kopf. Dann lässt er die Schultern sinken. „Weißt du, ich habe erwartet, dass du genauso reagierst, weil das nämlich dein typisches Verhalten ist. Schon immer. Ich hatte trotzdem gehofft, dass es anders sein würde.“
Er wartet nicht auf eine Erwiderung. Die Tür fällt leise hinter ihm ins Schloss und ich kann hören, wie die Schritte langsam im Flur verklingen.
Die Stille hängt im Raum wie aufgewirbelter Staub.
Schließlich räuspert Lena sich. „Ich hatte erwartet, dass es wieder wie früher ist, wenn wir uns wiedersehen. Dass es nur ein Fehler war, dass wir uns so lange nicht gesehen haben und dass, wenn wir uns treffen, alles wieder in die richtigen Bahnen springt. Dass es irgendwie wieder Sinn ergibt.“
Ich blicke Lena nicht an, aber ich kann den Schmerz in ihren Worten hören. Und die Dramatik.
„Du denkst bestimmt wieder, dass ich dramatisch bin.“ Sie wischt sich mit der Hand über die Augen. „Es ist nicht so, dass ich die letzten Jahre hier saß und auf euch gewartet habe. Ich habe neue Freundschaften geschlossen, ich habe mit meinem Leben weitergemacht und es ist okay.“ Sie legt die Hände in den Schoß. „Es ist nur so, dass diese eine Sache fehlt. Dieses Gefühl, das ich damals mit euch beiden hatte.“ Sie schweigt wieder. Ich glaube, dass die Worte schon gut sortiert sind, dass sie sie schon viele Male durchdacht hat, dass sie aber nie ausgesprochen wurden und dass Lena Angst vor ihrem Klang hat. „Wirkliche Zugehörigkeit. So sein zu können, wie ich bin und Menschen um mich zu haben, die mich genauso nehmen. Bei den Menschen, die mich jetzt umgeben, habe ich immer das Gefühl, mich anzupassen und eine Rolle zu spielen.“
Sie nimmt die Bierflasche wieder in die Hand und spielt an dem Etikett.
„Weißt du noch, wie wir früher fast jeden Tag miteinander verbracht haben? Wie wir einfach nur zusammen waren, ohne einen großen Plan zu haben?“
Ich nicke und denke an die vielen Abende, die wir einfach nur in dem Dachbodenzimmer von Lenas Bruder saßen und Musik gehört haben.
„Wenn ich mich jetzt mit Freunden und Freundinnen treffe, dann muss es immer irgendeinen Zweck haben: Essen gehen, Theater, Poetry-Slam. Wir sehen uns vielleicht einmal die Woche, weil alle so beschäftigt sind, ihr Leben richtig zu leben, alles in die richtigen Bahnen zu lenken, um glücklich zu sein. Sie arbeiten viel, weil das erwartet wird. Sie gehen in ihrem Job auf und haben noch Projekte nebenher, um sich selbst zu verwirklichen. Sie sparen, um sich ein Haus kaufen und später eine Familie gründen zu können, sie achten auf ihre Ernährung, sie arbeiten an ihren Beziehungen. Alles ist so gut durchdacht. Alles ist so, wie die Gesellschaft es vorschreibt.“
„Alles ist so oberflächlich?“, grinse ich sie an. Lena hat Oberflächlichkeit immer gehasst, weil sie glaubt, dass Menschen zu feige sind, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.
Lena nickt. „Manchmal habe ich es satt, über dieses Zeug zu reden. Ich frage mich, ob Menschen ab einem gewissen Alter noch dazu fähig sind, Tiefe zu besitzen oder ob sie so fokussiert auf diese anderen Sachen sind, dass einfach kein Platz für mehr ist. Vielleicht sind sie einfach zu festgefahren in ihren Leben.“
„Vielleicht ist da aber auch Tiefe und sie haben zu viel Angst, verletzt zu werden und lassen darum niemanden an sich heran. Vielleicht haben sie zu viel erlebt, vielleicht haben sie zu viele Wunden.“
„Ja, vielleicht.“ Lena schweigt einen Moment. „Es ist nicht so, dass ich es nicht versucht habe, aber ich bin mir nicht sicher, ob da einfach nicht mehr ist oder ob die Mauern zu dick sind.“
Sie hat die Flasche wieder abgestellt und reibt jetzt mit dem Daumen über die Fensterscheiben. „Ich war irgendwann mal so genervt davon, dass meine Freundschaften alle so oberflächlich sind, dass ich bei einer meiner Freundinnen mein Herz ausgeschüttet und ihr alles erzählt habe, was mir so durch den Kopf geht, von meinen Träumen, von meinen Schmerzen. Ich habe angenommen, dass die Oberflächlichkeit durchbrochen werden kann, wenn eine den ersten Schritt macht. Dass, wenn ich mich öffne, sie sieht, dass sie sich auch öffnen kann.“
Ich grinse. „Das hat vermutlich gut geklappt?“
Lena muss ebenfalls grinsen und zieht die Beine auf die Fensterbank. „Danach ist sie auf Distanz gegangen. Irgendwann war sie ganz verschwunden. Als ob sie sich langsam zum Notausgang geschlichen hat, um zu türmen, wenn ich nicht hinschaue.“
„Ich glaube, dass Dynamiken von Freundschaften nicht so einfach sind. Ich glaube, dass für jede Beziehung zwischen zwei Menschen andere Regeln gelten und dass diese Regeln im Laufe der Zeit verhandelt werden. Manchmal hast du von Anfang an, das Gefühl, dass alles passt und manchmal auch nach drei Jahren noch nicht. Ich glaube, dass davon abhängig ist, wie viel Tiefe eine Freundschaft bekommen kann. Manche Freundschaften bleiben immer oberflächlich, aber es ist okay, weil es genau das ist, was du von dieser Freundschaft brauchst.“ Ich nehme die Beine wieder von dem Stuhl und setze die Füße nebeneinander auf den Boden. „Und manchmal bekommen Freundschaften, die immer oberflächlich waren eine weitere Ebene, wenn das Leben aus den Fugen gerät, wenn es diesen Moment des Strauchelns gibt.“
„Du hast mir gefehlt,“ sagt Lena leise.
Die Musik hat in den letzten Minuten an Lautstärke gewonnen. Wenn wir aus dem Fenster blicken, können wir sehen, wie das Licht aus der Aula den Innenhof erleuchtet.
„Du hast versprochen, dass du dich meldest, wenn du aus den USA zurück bist.“ Lenas Stimme klingt vorwurfsvoll.
Ich ziehe die Unterlippe zwischen die Zähne. „Ich wollte wirklich, aber da war so viel anderes und die Zeit ist so schnell vergangen. Das Studium hat angefangen, ich musste alles für den Umzug organisieren. Dann war es irgendwann zu spät und ich wusste, dass du sauer sein würdest.“
„Und dann hast du dich gar nicht erst mit mir auseinandergesetzt?“ Lena sieht mich jetzt direkt an.
Ich beiße mir auf die Lippen. „Ich wusste nicht wie.“
„Vielleicht waren wir doch nicht so gute Freunde, wie ich geglaubt habe.“
Ich merke, wie ich langsam genervt werde. „Vielleicht ist es einfach nur nicht möglich dem Bild zu entsprechen, das du von Freundschaft hast.“
Lena blickt mich kurz an, dann wieder auf die Bierflasche und dreht sie in den Händen. „Glaubst du, es ist möglich, Beziehungen wieder hinzubekommen?“, fragt sie nach einer Weile.
Ich schweige einige Momente und denke über ihre Frage nach. „Ich glaube, dass es nicht möglich ist, wiederzubekommen, was wir mal hatten. Wir haben uns beide verändert. Ich glaube, dass die Gefahr besteht, zu erwarten, dass es genauso sein müsste wie früher und dass dadurch das Potential von etwas Neuem kaputt gemacht werden kann.“
„Und was ist, wenn man sich über diese Gefahr im Klaren ist?“
*
Ich sitze vor dem Schulgebäude auf der Steinmauer. Die Nacht ist warm und ich genieße, wie mir der Wind ins Gesicht weht. Es ist ruhig hier. Die Musik wurde vor einiger Zeit ausgestellt, die meisten sind schon nach Hause gegangen. Ab und zu läuft noch jemand an mir vorbei, hebt die Hand zum Abschied und verschwindet dann in Richtung Parkplatz. Der Himmel ist fast klar, vereinzelt kriecht eine Wolke über den glatten Untergrund.
Lena und ich haben noch kurz im Klassenzimmer weitergeredet, bevor sie nach Hause gefahren ist. Ich habe ihr von meinem Leben in Hamburg erzählt, sie hat erzählt. dass sie noch immer im Finanzamt arbeitet, in dem sie damals die Ausbildung gemacht hat. Sie lebt in einer Wohnung in der Innenstadt und hat sich ein Zimmer zum Musik hören eingerichtet, ähnlich wie das von ihrem Bruder damals. Ich denke daran, was sie über Freundschaften gesagt hat. Ich weiß, was sie meint, auch wenn es für mich nicht dieselbe Problematik hat. Vielleicht liegt es daran, dass ich meinen Freundeskreis damals im Studium aufgebaut habe und vielleicht hat sie recht damit, dass die Menschen offener sind, wenn sie jünger sind.
Ich frage mich, ob Lena recht hat und ich mich nicht gemeldet habe, weil ich mich nicht mit ihr auseinandersetzen wollte. Unsere Freundschaft war immer ambivalent. Wir hatten viele leichte Momente, in denen wir gut harmoniert haben, wir hatten aber auch viele Streitigkeiten und Konflikte. Diese Seite hat irgendwann so viel schwerer gewogen, als die guten Zeiten. Sie war so präsent, dass alles andere darunter verschwunden ist.
Als wir uns vorhin unterhalten haben, war da wieder dieses Gefühl auf irgendeine Art miteinander verbunden zu sein und dass das der Grund dafür war, warum wir all diese Konflikte durchgestanden haben. Ich ziehe mein Zopfgummi wieder fest.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich dieses Gefühl mit meinen jetzigen Freunden und Freundinnen habe. Ich bin mir nicht sicher, wie viele Konflikte wir überstehen würden oder ob beim kleinsten Anflug eines Problems, jemand die Flucht ergreifen würde. Wir sind gut darin, solche Situation zu vermeiden. Unsere Diskussionen finden auf einer fairen Ebene statt. Sie sind überlegt und rational. Selbst, wenn wir unterschiedlicher Meinung sind, werden wir nie verletzend. Es ist anders, als das, was Lena mit ihren Freunden und Freundinnen beschrieben hat. Ich habe das Gefühl, dass ich so sein kann, wie ich bin, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob ich alle Gedanken mit ihnen teilen würde. Trotz allem weiß ich, was sie meint, wenn sie davon spricht. dass sich die Zeit mit mir und Tobias anders angefühlt hat.
Tobias taucht neben mir auf. „Hey.“ Er setzt sich auf die Mauer. „Ich schätze, Lena ist schon gegangen?“
Ich nicke.
Wir sitzen schweigend nebeneinander und starren auf die Bäume, die die Begrenzung zum Parkplatz bilden. Ich frage mich, woran er denkt. Es wäre eine Lüge zu behaupten, dass ich früher gewusst hätte, was in ihm vorgeht.
„Ich weiß, dass Lena mir das nicht glauben würde, aber ich mag mein Leben so wie es ist.“ Er schiebt sein Smartphone in die Hosentasche. „Ich weiß, dass es nicht das ist, was sie für mich gewollt hat. Sie hat erwartet, dass ich einen anderen Weg gehe. Wir hatten in den letzten Jahren keinen Kontakt, auch wenn sie am Anfang noch E-Mails geschrieben hat, aber ich habe mich nie gemeldet. Ich wusste nicht wie. Ich hatte immer das Gefühl, das ich mich dafür rechtfertigen muss, wie ich bin. Dass ich ihr erklären muss, warum ich nicht ihren Erwartungen entspreche.“
„Ja, ich weiß, was du meinst.“ Als ich damals in die USA gegangen bin, hatte ich das Gefühl, frei von Erwartungen der anderen zu sein, weil mich dort niemand kannte. Zum ersten Mal wurde mir klar, wie sehr mich die Erwartungen limitiert haben, wie sehr sie meine Handlungen beeinflusst haben. Auf der anderen Seite habe ich mich feige gefühlt, weil es sich mit meinem Weggang angefühlt hat, als ob ich einen leichten Ausweg gefunden hatte. Es wäre so viel schwieriger gewesen zu bleiben und mit den ganzen Geräuschen um mich herum herauszufinden, was ich wirklich will.
„Du machst jetzt also das dicke Geld“, grinse ich ihn an.
Er lacht. „Das dauert noch ein bisschen.“ Er zieht sein Smartphone aus der Tasche und wirft einen Blick darauf. „Ich muss jetzt los. Bis irgendwann.“
Ich blicke Tobias hinterher als er Richtung Parkplatz geht. Ich wünschte, dass ich das Gefühl hätte, dass er sich nur selbst belügt und dass er noch immer die Person ist, die Lena, die ich in ihm gesehen haben. Die Wahrheit ist aber, dass es nicht so ist. Vielleicht war er noch nie diese Person. Vielleicht war er immer anders und wir wollten es nicht sehen, weil es so einfach war, unsere Vorstellungen von ihm auf ihn zu projizieren.
Ich glaube nicht, dass er irgendwann einen Selbstfindungstrip machen muss, ich glaube, dass er sich genau auf dem Weg befindet, auf dem er sein möchte. Ich weiß nicht, ob sein Leben wirklich oberflächlich ist oder ob es nur das ist, was wir gesehen haben. Wie sollte es anders möglich sein, in den fünf Minuten, die wir miteinander gesprochen haben? Vielleicht spielt es auch einfach keine Rolle, weil auch das ein glückliches Leben sein kann. Ohne das Wissen um die Tiefen und die damit verbundenen Untiefen.
Ich lasse mich von der Mauer gleiten und gehe um das Gebäude herum. Auch hier ist wieder diese fremde Vertrautheit. An einigen Stellen fühlt es sich an, als ob ich einen Zeitsprung mache und wieder 18 bin. Ich fühle mich genauso wie zu dem Zeitpunkt einer bestimmten Begebenheit, die Erinnerung ist so nahe an mir dran, als ob sie gerade erst passiert ist.
Lena hat mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, wieder hierherzuziehen, aber ich weiß, dass das hier kein Platz für mich ist. So wie ich weiß, dass eine andere Stadt nicht der richtige Ort für Lena wäre. Sie braucht die Übersichtlichkeit, sie braucht die Vertrautheit und die Wurzeln zu dem, was sie früher war, um jetzt sein zu können, wer sie ist. Früher hätte ich vielleicht geglaubt, dass das feige ist. Ich habe immer hart über Menschen geurteilt, die in ihrer Heimatstadt geblieben sind. Jetzt weiß ich, dass jeder Mensch selbst entscheiden muss, welche Umgebung und welches Leben ihm gut tut. Alle Leben haben ihre Vorteile.
Ein Klischee sind wir sowieso alle.
Während ich mein Fahrrad aufschließe, stelle ich mir vor, wie Lena zu Hause sitzt und die Musik laufen lässt, die wir früher zusammen gehört haben, als wir stundenlang vor der Stereoanlage ihres Bruders saßen. Wie sie in den alten Fotos von uns kramt und über die ganzen Erinnerungen lächelt.
Als ich auf mein Fahrrad steige, muss ich an den Songtext von Kettcar denken. ‚Wie die Dinge sich wohl anfühlen, wenn sie denn noch ganz wären‘.
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Nach-t-wuchs
In den Schatten unter deinen Augen lese ich: Der Schlaf war wieder zu dünn, eine Schicht Eis auf dem See, schnell eingebrochen. Immer fräst sich der Lärm durch die Traumwände, rückt von allen Seiten unerträglich nah. Ein Erwachen wie das Einschalten der Maschine, Wiegegriff und drohende Beruhigungslaute einer nicht weit entfernten Böschung. Die Erschöpfung bringt dich an den Rand des Guten.
In den Dachbodentagen waren wir der Lärm, ein springender Laut wie Gebälk, gegen die Nischen anbrüllendes Tiersal, eine Tapete aus Gegröl. Wir waren augsam auch, schaulustige kleine Geschöpfe mit Bast an den Wimpern, die Blicke flochten sich beinahe von selbst, wir griffen ins Sichtfeld hinein und pflückten die Ansicht, aßen die Hügel auf, bis unsere Bäuche sich wieder verdünnten.
Wir waren entsetzlich bedürftiges Faultier, ein Schnappen der Luft waren wir, ein Vergreifen an grünenden Zweigen. Eigentlich gebaut als Hoffnungsträger, zum Schultern von Erwartung. Knickten darunter ein, weil wir aus Fleisch waren und nicht, wie erfordert, aus Marmor.
Jeder Raum von uns: angefüllt bis unter die Gestirne, die unsere rohen Hände verließen, durch die Nagelspitzen leuchteten. Wir, gegen die Decke, Verlängerung der Endlichkeit. Ein Warenhaus, ein Sindhaus, Wirdshaus, zerschlagen von uns, Abrissbirnenteile waren wir, Verwirklichung, Verwirung.
Und das willst du alles zurück? Willst Wanzenwänste, die in Westen stecken, willst auf den Kniepferdchen reiten den saftigen Wolken hernach, willst die gewellten Scheren halten, Meere aus Karton.
Wackersteinschlieren willst du, Blubbern unter gesenkter Hand, und dann so tun, als sei es ein Quell aus dem Erdreich. So lernt jeder auf andere Weise, dass es zum Oben ein Unten gibt. Die Blasen, lustig anzusehen für den Tunkenden, waren die Angstschreie dessen, den er zur Tiefgründigkeit zwang. Danach gab es kein Zurück an die Oberfläche, man hatte die Unterseite der Welt gesehen und erkannte sie überall wieder. So wurden wir verschieden, dadurch, wie lange wir uns einander dem Schatten aussetzten, einander das Licht entzogen. Ich konnte mich immer schon besser an die Dunkelheit anpassen.
Dein Nachwuchs, mein Nachtwuchs. Weil du im Hellen lebtest, trafst du andere Entscheidungen. Die Sonne aber wandert, und der Schatten macht dir Angst. Willst dich absichern gegen die Kühle, die du nicht gewohnt bist. Vermisst das Kirschkernspucken gegen fremde Knie. Was willst du wirklich, die früheren Wunder, die alten Wunden? Suchst nach erneuter Verkleinerung, um wieder Zugang zu finden zu den Wichteltüren, zur Schneckenpost, zum Kürbislächeln. Ich finde ihn noch, jenen Eingang, nicht unentwegt, aber oft, drum lass dir eins gesagt sein:
Was du jetzt nicht mit Herzfingern greifen kannst, die rot sich um Luftburgen schlingen, kommt auch durch Vereinfältigung nicht zurück. Siehst du jetzt nicht die gebräunten Buckel der Trauben, die Käppchen der hageren Butten, was hilft dir ein zweites Paar Augen? Du suchst eine füllende Masse, die dein Lächeln drückt bis an den Lidrand, formbar soll sie sein, ein haltbares Kunstwerk. Dein eigener Hoffnungsträger, da du sie selbst nicht mehr halten kannst in deinen schwachen Händen.
Willst wieder reden mit wirbelndem Mund, möchtest dein Singen erfinden, die Muster unterm Regenteppich sehen, mit der Laterne durch die allererste Nacht, verborgene Botschaften aufspüren.
Zuerst aber musst du dein Leben verlieren.
Die sägende Saite spielt dich, ein Geigenbogen gegen deine Kehle ist der Schlaf, zu dünn, er schneidet ein, er zieht sich zu, der Atem dünne Klingen, die Luft rasiert den Rachen, die Lider dünn, die Nerven dünn, die Lippen. Wann werden die Wangen voller, fragst du dich, horten wie Hamsterbäckchen das Lachen? Auf Stroh – weißt du noch? – schliefen wir einmal und es wurde nicht zu Gold, auch wenn wir daran glaubten, im Schlaf es fest uns wünschten. So mag es nun wieder sein, oder Gold aber macht dich doch nicht froh.
Denkst heimlich daran, es zurückzurollen ins Wasser, die strampelnde Kugel zu tauschen gegen einen zauberhaften Prinzen. Doch alles sind falsche Versprechen, Wasserfall ist keine Möglichkeit, zwischen deinen blonden Strähnen erste Grausamkeiten.
Treffen wir uns, bekomme ich nichts als Fassade. Ist das die Strafe für die Opfer, die ich nicht bringen wollte? Dein Himbeerlächeln, extradick aufgeschmiert: Zucker, der zusetzen soll. Dein ganzer Stolz – hüfthoch – reicht, um dich damit zu schmücken, solange wir uns sehen. Es ist niemals lang. Kann dies, kann das, tut dies, tut jenes, wird aber fremder Tag für Tag, die Entwirung beginnt schon allmählich – das spüre ich, obwohl du es versteckst.
Du wieder oft im Alleingang, arbeitsame Hände, wir ziehen tolle Formen aus der Leere, du und ich, sie folgt unseren Gesten nach Hause. Hat man nichts zu tun, ist man dem Sein so ausgesetzt, nicht wahr, man muss sich dem Ich übergeben, also bewegt man die Finger, um es zu vertreiben.
Ich brauche deine Beweismittel nicht, die verzweifelten Superlative, die Fotos, deren Strahlen etwas überblenden soll. Ich sehe dich hinter den Gardinen auch schimpfen, weinen, müde an die Wand starren. Neide mir nicht die Bewegungsfreiheit, die Zeitlosigkeit und dass ich verfügen kann, wo du verfügbar bist.
Einmal treffen wir uns unterwegs auf der Straße, du siehst aufgegeben aus, und weil es keinen Ausweg gibt, stellst du dich mir. Als wolltest du flüstern: Los, spotte doch schon. Da sage ich es dir: Schluss mit dem Wettkampf. Wir müssen uns nichts vormachen, müssen nicht drum eifern, welcher Lebensentwurf der bessere ist. Entwürfe sind Linien, um das Weiße des Blatts zu bedecken. Und füllst du es bis an den Rand, ist es zu dunkel. Lass das Nichts durch, oder verzichte aufs Licht. In jedem Fall verlieren wir.
Da schlägt deine Lebenslinie dankbar aus, rutscht auf meine Seite der Welt, seit langem überkreuzen sie sich wieder. Geben wir sie zu, die Einsamkeiten, gegen die nichts gewachsen ist, nicht mal das, was wir selbst aufgezogen haben.
Unsere Freuden sind anders geworden, betretbar, die Trauer unverhüllt, beschaulich, wir lassen die Vergleiche sausen, wo es geht.
Manchmal, wenn ich drüben bei dir eingeladen bin, betrachte ich die Abspaltung deines Selbst, rasch heranwachsend, beim Zeichnen auf der Terrasse. Der Stift schlittert hinter der Vorstellung her, die Hände tappen im Dunkeln.
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freiTEXT | Sophia Hauser
Multiple Gedächtnisabfolgen
Jetzt wollen wir es nochmal wissen. Ausgelutsche Worte neu ordnen, uns nicht selbst zum Verhängnis werden. Sprache ohne Gesprochenem, Erläuterungen aus den Mündern, alle Jahre wieder. Höchste Zeit, die keinem gehört. Verkalkter Filterkaffeegeruch schreit herein von der Kücheninsel. Wir trinken das Gesöff bekanntlich nicht wegen dem Geschmack, der Lifestyle muss es sein. Frisch gebleichte Zähne glitzern Richtung future. Gleichzeitig braune, ausgekühlte Lacken im Porzellan. Raus aus den zwei Zimmern, schnalzen mit der Zunge, frustrierend. Die gelbe Sau blendet wieder.
Müssen Vater bei jedem Gedanken um Erlaubnis fragen. Sitzt draussen mit der sechzehnten Tschick im Atem. Hatten wir alles schonmal. Täglich das selbe Schauspiel, euphorisierte Jogger zwingen sich selbst in die Unschärfe. Der Föhn flüstert uns Lügen zu, von denen wir Migräne bekommen. Komplett zugedröhnt meditieren, Mondsucht bewältigen.
Unser kleines Geheimnis, der zweiköpfige Teddy der Nachbars-tussi. Zum Monatsanfang impft sie plastische Substanzen in ihr Gesicht. Forever Young. Einsame Zweisamkeit. Zuckersüße Freuden, zum in-die-Hände-klatschen. Fast hätten wir sie vergessen. Deja-vu von Platzwunden und Bergsteigen. Dann, zurück zum Tatort. Brennend heisses Gold bringt den Durst unmittelbar um die Runden. Erschreckend lebhafte Tagträume vor dem Bildschirm, Gespräche ausschließlich über Kabel. Vier Hausblöcke weiter, mischt jemand Salz in den Kaffee. Schon wieder.
Selbstverständlich ist unsere zwanghafte Ordnung erdrückend. Abfolgenwahnsinn zum verdammten Wohlbefinden. Die weisse Kugel löst die Gelbe ab, mitten im Geschehen. Noch eine Sucht im saftigen Zukunfstshokuspokus. Freya sieht uns an, vom zweiten Zimmer aus. Geblendet, weil wir uns gegen Vorhänge sträuben. Die Blechwellen glitzern vom anderen Ufer herein. Wir fragen sie, was los sei. Das Übliche. Der Pfirsichsaft am Fenster fängt langsam zu gären an. Genau so wie wir. Ungewissheit sprudelt von Glasboden Richtung Freiheit und macht die Luft ein Jahr älter. Jetzt wollen wir es nochmal wissen, fällt uns wieder ein. Kurzer Ansturm von Selbstmotivation weil Beobachtung aus nächster Nähe. So wirken als würden wir.
Die am Himmel sind immer die Krähen, die in der Hauswand immer Ungeziefer. Stufenweise Weberknechte gekleidet im kühlen Orange der Morgendämmerung. Freya liebt Nebel, nur bei Vollmond. Seltene Angelegenheit. Für andere Phänomene ist sie nicht zu begeistern, wofür auch.
Der siebzehnte Sonntag zieht vorüber, erzählt uns Geschichten von damals, Vorfreude für die Zukunft. Die Steuer erklärt sich im Nebenzimmer selbst. Grünes Licht zittert von der Südseite und trägt uns weiter in Entfernung. Freya schlägt uns vor, eine Kunstpause zu machen. Mit Druck hält sowieso alles besser.
Kürzlich kam das Atmen einer Absurdität gleich. Die Luftaneignung stellt eine minütliche Gewohnheit dar, die, wäre dies nicht die Machenschaft eines Automates, eine sehr tödliche Angelegenheit sein könnte. Solche Gedanken verirren sich meist zwischen „nichtexistent“ und „arbiträr“.
Entlang der Allee am immer gleichen Schlagloch halten, zur Kontrolle. Verfolgung von verlorenen Wörtern, die keiner besitzen möchte. Aus dem letzten Winkel der Sammlung, unvergesslich. Freya verheddert ihre feuchtwarmen Finger mit unseren ausgekühlten. Schwindelerregende Führung unter Einfluss des Nachthimmels.
Später bei einer Tasse Tee Sudoku.
Zahlen zählen ist angenehmer als Buchstaben sammeln und ordnen. Kurzfilme von eckigen K und schwangeren B lassen uns nicht träumen. Statische X wechseln sich mit eleganten G im visuellen Geschehen hinter den Augen ab. Teilweise so tief, dass es uns vom Orgasmus abhält. Sieben Uhr siebenundzwanzig ist die meist gesehene Zeit unseres Weckers. Ohne Beweis ist das ganz klar die Wahrheit.
Die Motten begrüßen uns ausnahmslos, Freya mahlt Bohnen. Quietschend. Aufguss und Wirkung genießen, dem hypnotisierenden Wasser danken. Hals drehen, das beruhigende Geräusch von Nacht verschenken.
Wir packen den Rucksack voll mit Mysterien und gehen auf Suche. Sanftes Moos klettert Wände hinauf zum blauen Licht. Vater schnürt die Tür hinter dem Nacken zu, schnipst vier Mal die Finger. Feuer in der Stimme. Freya fliegt vorbei, wie sonst immer. Steppmusik der Stiefel am Asphalt. Aufgeräumte Wesen schreiten vorüber und sparen sich viel Mühe. Bald müssen wir uns gehen lassen, seither viel passiert. Aus „wir" soll „ich“ werden. Das sich-nicht-hinein-steigern und in-den-kalten-Brunnen-setzten, hängt uns tief aus der Kehle.
Offenes Knacken aus halbtoten Pflanzenresten, zur Feier des Zyklus. Kalender drehen sich zu unseren Gunsten. Die Gewohnheit will uns verlassen, zum Glück können wir noch schreiben. Verschlossene Lebensträume isolieren sich für die Ewigkeit, tragen Tinkturen zusammen und mischen die Sehnsucht der Unmöglichkeiten. Langsam schwinden unsere Stimmen, die keiner hören kann. Zwei von fünf verabschieden sich mit maßlos überreiztem Lächeln. Sie wartet schon auf uns. Freya, ich nenne sie so, aber nicht weil sie so heisst. Alles stimmt und darauf gibt es keine Antwort. Singend lädt sie uns ein, Ölfarben zu mischen. Wassergelb, Ultramaringrün und Sonnenbraun, in dieser Reihenfolge. Jetzt müssen wir in vielen Sprachen laut lachen. Das Verlangen kommt auf, nach Niederschrift. Wir sprechen uns selbst zu, mit Zuversicht lallend, tanzend. Keine Zeit mehr, irgendwer zu sein. Uns einigen und ineinander stülpen. Take yourself away.
Wenn wir träumen, glühen wir vor Wärme, sagt Freya. Die Herrschaft mit anderen zu teilen fällt uns nicht leicht, trotzdem muss es passieren. Der Mond leuchtet, es riecht nach Holz und Maroni. Das Zepter ist abgegeben, dann Entspannung. Die Pflicht für Momente vergessen, fliehen von uns selbst. Wir sehen uns zu, wie im tragischen Film, es ist 10 Uhr abends. Durch das Fenster tauschen sich Luftgespräche aus. Wasser heult einladend in das Bett, rauscht weiter, ohne sich jemals zu beschweren. Die kleinen Antikörper bringen uns um den Verstand, sie wissen wenig und löschen lang. Zusammenkunft für wen auch immer. Leer durch chemische Reaktionen. Wir schlafen immer sachter und bekämpfen keinen Hirnkrieg mehr. Haben eine weitere Stimme verloren, die letzte scheitert immer schöner. Plastikmusik fühlt sich durch die Sphären der Gehirnbreimasse. Honig tropft aus dem Wasserhahn, ein Glas voll Süße. Wieder ein absurder Morgen. Wieder keine Stimmen. Wieder Stille.
Ich, als einziger Protagonist wurde zum König meiner eigenen Gedanken gekürt.
Freya nennt mich nun das letzte Individuum, weil ich so heiße. Aus Gewohnheit höre ich auf die Stimmen, die mich alleine lassen. Schlimmes Schweigen der Welt lässt mich überirdisch in Vergessenheit schweben. Explodierende Ideen und Freiheiten, Bäume pflanzen. Lichter sind laut, Gefühle wirbeln durch mikroskopische Partikel in den Sehnerv. Es stört keinen, dass ich einfach so am Asphalt liege und höre, wie die Sonnenstrahlen schreien.
Freya beobachtet mich auf Teufel komm raus, weil ich jetzt geheilt bin. Ausgesprochen einsam bin ich. Alle sagen das ist richtig so. Rauche mit Vater Zigaretten. Genieß-es-so-lange-du-noch-kannst-Gespräche über Jugend und Pflichtversprechen mit sich selbst. Unangenehm, alles alleine zu vollziehen. Fast sagt er sowas wie „intensive Gedanken führen zu instinktivem Verhalten“. Kaffee über Bord schütten und Kopfüber am brennheissen Holz hängen.
Tabus auswendig lernen, Deja-vus ignorieren. Zufällig Vollmond, total verliebter Gedanke. Fenster und Türen schließen sich von selbst und Wasser kocht über. Salz ist voller Weisheiten. Leise flattern Schmetterlinge unter meinem selbst gestrickten Pollunder. Quetsche sie bis zum Künstlertod.
Ich bin Nachbar der Krankheit des Geistes. Was sie so macht, hab ich niemals gefragt. Nebenwelt im Nebenhaus. Zukunftsverschiebungstatsache.
Mir fällt auf, dass ich nicht weniger hab, obwohl ich alleine bin. Gleichzeitiges Freya-Vater-Lächeln. Ich mach mit, weil ich muss. Langsamer atmen, damit ich schlafen kann, ohne Fokus. Tauchgang im Verarbeitungsmodus. Fließendes Wasser, wo ich täglich vorbeischreite. Kann mich erinnern, an nichts und sterbe wegen allem. Freya meint nur gut, dass ich schreiben kann.
Urlaub in fremden Träumen.
Statisch geordnete Töne bewusst aneinandergereiht. Ich will tanzen, abstraktes Grinsen aus allen Richtungen. Russisch fliegt sanft durch die Luft. Der Gedanke noch warm. Treffe ein südliches Kunstwerk im schwarzen Rollkragenpullover. Stell mich vor als Ich-kann-schreiben-Literaturfetischist. Wir sprechen in Reimen ohne Stil oder Kultur. Erzähle von dem „uns“ und dem finalen „ich“.
Auch ohne Verständnis, versteht er. Sieben Personen besitzt er. Das weiss keiner, sagt er.
Freya sehe ich nicht. Tatsächlich existieren mehr Personen als Menschen. Fühle das jünger werden in den Zähnen. Alles um uns wird schneller, nimmt sich in Acht und vergisst. Aus „ich“ wird wieder „wir“.
Bis heute kenne ich seinen Namen nicht. Er trägt sein Mysterium im Rucksack und lässt ihn niemals los.
Nachts treffe ich ihn im Schlaf und wir erzählen uns Geschichten aus der Hauptstadt, die erst passieren werden sollen. Ohne jemals Worte zu verwenden, wirken wir, als würden wir.
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freiTEXT | Isabelle Meyer-Thamer
Lücke
Die Holztüren des Kleiderschranks standen offen, zwei Drahtbügel mit Kleidern lagen auf dem Ehebett, das eine zu eng, das andere zu weit. Sie waren grau oder beige und rochen nach Anis wie alles im Elternschlafzimmer. Im gedimmten Licht, Mutters Migränelicht, war schwer zu erkennen, ob meine Mutter lächelte, als sie sagte: „Probier das hier zuerst an, die Farbe steht dir, Ronja.“
Ich war immer die Erste, die zurechtgemacht wurde. Wegen der langen Haare, sagten die Brüder. Kurzgeschoren und gleichmütig schliefen sie aus, während ich in aller Frühe Kleider anzog, die mir nicht passten. Das hatte nichts mit meinen langen Haaren zu tun, dem hellbraunen Mädchenhaar, das Mutter mir zu einem straffen Dutt hochsteckte, sodass die Kopfhaut ziepte. Es hatte mit den Hüften und den Brüsten zu tun und mit den verschobenen Formen, die unlängst dazwischen lagen, zwischen zu eng und zu weit, zwischen einschnüren und nicht ausfüllen, zwischen beige und bizarr. Aber davon erzählte ich den Brüdern nicht.
„Häng nicht so rum, Bauch einziehen,“, sagte meine Mutter, „dann wird’s schon gehen.“
Nachdem ich staffiert und frisiert worden war, durfte ich den Hunden nicht zu nahe kommen, zwei trägen, alten Schäferhunden des Stiefvaters. Wegen der Haare und des Speichels, sagte der Stiefvater schmunzelnd. Die vertrugen sich nicht mit steifem Leinen und sauberen Mädchenkörpern.
Also legte ich mich auf das straff gesteckte Überbett und sah meiner Mutter bei den letzten Korrekturen zu. Korrigiert wurden: Farbe und Schwung der Augenbrauenbögen, Kontur der Wangenknochen, das allgemeine Erscheinungsbild der von Jahr zu Jahr an Spannkraft einbüßenden Haut. Besonders gefiel mir die große Puderquaste, mit der Gesicht, Hals und Dekolleté abgeklopft wurden. Meine Mutter sah erleichtert aus, als sich unsere Blicke schließlich im Spiegel begegneten, und irgendwie auch fremd.
Und weil der Moment so günstig erschien wie jeder andere, fragte ich: „Kommt Tante Vera heute auch?“
Mutter sagte: „Das knittert, wenn du dich da so hinfläzt.“, und verließ das Elternschlafzimmer.
Der Stiefvater brachte die Hunde in den Zwinger im Garten und die Brüder wurden geweckt. Sie stiegen in gradlinige Hosen und gradlinige Hemden, die ihnen weder zu eng noch zu weit
waren. Und sie fragten: „Sehen wir nicht piekfein aus, Ronja?“, bevor sie in schallendes Gelächter ausbrachen.
Die Familie kam, die Großeltern, die großen Cousins, die Onkel und die Tanten, bis auf eine. Sie brachten Torten und Sträuße, selbstgebacken, selbstgebunden. Die waren für nachher. Bis dahin durfte nicht gekleckert und nicht geknittert werden. Das sei doch nicht nötig gewesen, versicherte Mutter jedes Jahr aufs Neue, aber immer erst dann, wenn der Esszimmertisch voll damit stand.
„Kommt Tante Vera heute auch?“, fragte ich die Großmutter, die in der Küche Sektflöten und Kaffeetassen füllte. Ihre Hände zitterten, aber sie goss die Flüssigkeiten ohne Verluste.
„Wie groß du geworden bist, Ronja,“, sagte sie ergriffen, „fast wie eine Erwachsene!“
Im Wohnzimmer wurden schließlich die schweren braunen Vorhänge auf beide Seiten der bodentiefen Fenster geschoben. „Goldene Stunde“, sagten die Tanten und das Licht schien schmeichelhaft und irgendwie feierlich zu uns herein. Dann wurde das schwere braune Sofa vor und zurück gerückt. „Goldener Schnitt“, sagten die Onkel und alles war bereit für das Foto.
„Schnapp-Schuss, Schnapp-Schuss!“, skandierten die Brüder und die großen Cousins im Chor. Es lag etwas Beschwörendes, Bedrohliches in der Art, wie sie mich dabei ansahen. „Los, Ronja, Schnapp-Schuss, Schnapp-Schuss!“ Sie brachen in Gelächter aus, als ich den Kopf schüttelte und zurückwich. Mein Bauch tat plötzlich weh, vielleicht aber auch den ganzen Morgen schon.
Und dann kam die Fotografin mit der Kamera, dem Stativ, den Objektiven und einer Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen, die mir bedeutsam erschien und wie ein Teil der Ausrüstung.
„Fertig fürs Foto?“, mahnte Mutter mit ihrem Migränelächeln.
Zeremonielle Anordnung der Menschenkörper, auf dem und um das Sofa herum. Onkelbäuche wurden eingezogen, Tantengliedmaßen wurden angewinkelt. „Bild-kom-po-si-tion, Bild-kom-po-si-tion!“, skandierte die Fotografin munter.
Ich hielt es nicht länger aus, flach in das zu enge Kleid zu atmen, ich fragte: „Kommt Tante Vera heute nicht?“
Tante Vera hatte auf den Familienportraits stets in der Bildmitte, Seite an Seite mit meiner Mutter, auf dem Sofa gesessen. Mutter bewahrte die Fotos in einer flachen Schatulle auf, separat von den anderen Fotos. Jahr für Jahr kam ein neues dazu, das wie die alten aussah. Dasselbe Foto, wieder und wieder und nun nicht mehr?
Der Stiefvater sagte: „Verdirb deiner Mutter nicht ihren Tag.“
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freiTEXT | Clemens Gartner
Solche Antworten
Listenschreiben hat ja für viele was Kathartisches. Es ist so ein Allheilmittel für die kleinen Krankheiten im Kopf. Das hat schon vor tausend Jahren einer gewusst, und beim Begutachten seiner neusten Schöpfung unrund das Wichtigste aufgelistet.
Ich sehe mein halbdurchsichtiges Spiegelbild in einer Duschkabine stehen. Daneben eine Kloschüssel und daneben noch eine. BAD&SANITÄR WIMMER – ist mir bisher noch nie aufgefallen. Wahrscheinlich weil ich den Weg nach Hause sonst entweder nicht zu Fuß oder nicht alleine gehe. Beides bedeutet: nicht aufmerksam. Ich suche den Moment nach einem Thema ab. Eigentlich ganz logisch. Ich schiebe mein Handy aus der Hosentasche und öffne die Notiz-App.
sachen die meistens so sind aber nicht immer
- das zusperrding an der innenseite von klo und badtüren steht waagrecht wenn zugesperrt ist
- links heiß rechts kalt am wasserhahn
- ich nehme die straßenbahn von alex zu meiner wohnung
Das Handy in der Hand und die Hand in der Jackentasche fällt mir auf, dass hinter der nächsten Ecke schon der Fruchtplatz liegt. Ich habe ihn so getauft, weil in seiner Mitte für gewöhnlich die Obstverkäuferin ihren Stand aufgebaut hat. Mit Sonnenbrand im Gesicht oder Frost auf dem Oberlippenbärtchen versorgt sie das ganze Jahr über Kundschaft mit allem, was gerade wächst, lächelnd unter ihrem ausgeblichenen Frucade-Sonnenschirm. Fest mit dem Asphalt verschmolzen seit Anbeginn der Zeit. Man hat den Platz und die Stadt und die Welt einfach um sie herum gebaut. Alex hat das nie verstanden.
- habe mein handy in der hosentasche
- die obstverkäuferin ist an ihrem platz
- habe beim über den platz gehen alex an der hand
Ich bleibe an einer Bodenmarkierung stehen. Genau an der Stelle, wo ich Alex zum ersten mal gesehen habe. Erst traf mein Blick nur einen beliebigen Hinterkopf, dann Hände, die beim zahlen ein Büchlein aufgeschlagen auf den Tisch legten. Eine in zwei Spalten geteilte Einkaufsliste auf kariertem Papier. Links W rechts B in schwarzen, dicken Buchstaben. Ich stieß ein fragendes Geräusch aus, die hagere Gestalt zuckte zusammen und das kleine Buch fiel auf den Boden. Ich wollte mich danach bücken aber die Hände schossen sofort nach unten um es wieder an sich zu reißen. Ein altbekannter Trieb pochte versessen darauf, die Liste zu verstehen. Erst mit einem Nachdruck, der, wie mir Alex später einmal beichtete, nicht ganz unbedrohlich dahergekommen war, bekam ich eine Erklärung. Ich gehe weiter und ändere den Titel meiner Liste (oft statt meistens), schnaufe, und ändere ihn wieder zurück.
- fange an zu lächeln wenn ich an alex denke
„In die linke Spalte schreibe ich Sachen die ich will, in die rechte, die ich brauche. Naturgemäß füllt sich die linke Spalte immer etwas leichter. Sind beide gleich auf, gehe ich einkaufen. Ich besorge alles was ich brauche, und die Hälfte der Sachen die ich will. Bei Ungeraden runde ich auf“
„Aber überschneiden sich die Spalten nicht manchmal? Man braucht doch auch Dinge die man will und umgekehrt?“
„Das entscheidet sich von ganz alleine. Wenn ich den Stift nehme, weiß meine Hand schon was sie wohin schreibt“
Solche Antworten waren es immer. Unbemerkte Widersprüche. Kleinste Bewegungen. Vor ein paar Wochen, als wir beim Schlafengehen einen unwichtigen Streit ausschwiegen, fragte er vorsichtig, ob die Obstverkäuferin so was wie eine Göttin sei. Ich antwortete ihm mit einem Kuss auf die Stirn.
- alex geht alles rein pragmatisch an (und nervt mich damit)
Feiner Nieselregen tippt in die Notizen und knistert auf dem frischen Teer zu meinen Füßen. Ich lösche die Willkür vom Display und flüchte die Stufen runter zum Kanal, weil mir vom Straßendampf schlecht wird. Der Umweg führt mich einmal mehr an einen Wendepunkt. Vor dem Café, in dem Alex mir vorgeworfen hatte, in meine Küsse mische sich in letzter Zeit immer wieder eine gewisse Härte, die er nicht zuordnen kann, hole ich mein Handy heraus. Aber in Alex Welt gibt es keine Vorwürfe, nur unschuldige Beobachtungen. Allein mein Wissen ließ seinen Blick aus einem wertenden Winkel kommen.
- teer riecht irgendwie gut
- lasse mein handy bei regen eingesteckt
- spreche offen über meine gefühle mit alex
In dem kleinen Park vor meiner Wohnung zerrupft eine Krähe irgendwelche Überreste, schüttelt sie mit dem Schnabel und verteilt Fetzen über die Wiese. Ein paar mehr gesellen sich dazu um sich an dem Spiel zu beteiligen. Als ich näher komme wird die Herde zum Schwarm und fliegt kreischend davon. Seit Generationen lebt hier dieselbe Krähenfamilie und teilt sich alles was im Gras zu finden ist. Ich vergesse Alex Zweifel daran, als die Vögel wieder von ihren Bäumen segeln. Im Aufzug sehe ich mein Spiegelbild, diesmal ohne Transparenz.
- lift ist kaputt
- bleibe kurz im park stehen und schaue den krähen zu
- alex ansichten machen mich traurig
Das entfernte Rattern eines Presslufthammers erinnert mich an einen sonnigen, kalten Nachmittag auf Alex Balkon. Ich machte ihn auf einen morschen Balken im offenliegenden Dachstuhl an der Baustelle gegenüber aufmerksam. Er wies mich an, nicht mit dem Finger darauf zu zeigen, sondern seinen Blick mit einer Handbewegung zu führen. Es war ein guter Ratschlag. Ich ärgerte mich. Alex geht es nie darum Recht zu haben. Er möchte das Bestmögliche einer Situation. Ich führte seinen Blick mit einer Handbewegung auf meine Nase. Alex schaute auf den Boden. Ich versuchte mit der kalten Luft einen Ring zu blasen. Ich möchte meine Welt nicht optimieren lassen.
- den ganzen tag baustelle
- nehme mir alex ratschläge zu herzen
Gemeinsam mit der Liste ruhe ich bis zum Abend. Erst im Bett bekomme ich Mitleid mit den Punkten, die schon seit Wochen auf eine Form gewartet hatten. Ich gehe sie nochmal sorgsam durch, gebe jeder Silbe ihren verdienten Laut. Bei jedem Alex bemühe ich mich besonders. Ein Paar Autoscheinwerfer wandert langsam über die Wände, erhellt den Raum für Sekunden und lässt ihn finster zurück. Auch ich hatte Alex leuchtende Umrisse vor die Nase gezeichnet, zu vage um sie zu greifen, zu schnell um sie zu verstehen. Der Stein von meinem Herzen liegt jetzt schwer auf seiner Brust. Diesmal ist es der stinkende Dampf meiner Anmaßungen, von dem mir schlecht wird. Ich schalte mein Handy aus und lasse es auf den Teppich fallen. Zwei letzte Einträge drängen sich auf und lassen mich nicht einschlafen. Ich denke sie in das Dunkel an der Wand.
- alex ist der kühle von uns beiden
- beziehungen enden bei mir mit tränen
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